Ein Schatz für alle Kafka-Liebhaber Über drei Jahrzehnte hat der große Kafka-Biograph Reiner Stach Daten rund um das Leben von Franz Kafka gesammelt: Er hat eine unendliche Fülle an Material zusammengetragen, gesichtet und ausgewertet. Der Ertrag ist eine ebenso umfassende wie präzise Chronik, die Kafkas privates Umfeld - Familie, Freunde, Geliebte - ebenso einbezieht wie seine Lektüre, die Entstehungsgeschichte seiner Werke, seine berufliche Laufbahn, seine Reisen und die für ihn bedeutsamsten kulturellen und politischen Ereignisse. Außerdem bietet Reiner Stach knappe Zusammenfassungen sämtlicher Briefe und Tagebucheinträge, wodurch Kafkas Reaktionen auf die Ereignisse lebendig werden und sich nicht selten auch verblüffende Parallelen, Widersprüche und Querverbindungen zeigen. Ein Schatz an Informationen, der zum Nachschlagen ebenso anregt wie zum Weiterlesen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2018Worüber sprach er nur mit Musil?
15,6 Seiten pro Lebensjahr: Reiner Stach verfolgt in einer Chronik Franz Kafkas Leben
Unter allen Tagebucheintragungen eines Dichters dürfte Kafkas vom 2. August 1914 wohl die verblüffendste sein: "Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Das Zusammentreffen eines katastrophalen Weltereignisses mit der Privatsphäre hat man kaum je knapper, ja absurder ausgedrückt. Solche Treffer sind es letztendlich, welche den Wert der Chronik ausmachen, die der Kafka-Biograph Reiner Stach auf mehr als 600 Seiten ausbreitet. Dabei hat er aus einer Liste von Daten ein spannendes Lesebuch gemacht.
Die letztlich vom französischen Erfinder des Essays, Michel de Montaigne, stammende Art, das eigene Innenleben empirisch aufzudecken, teilte Kafka mit Goethe und Proust: Man versucht, die Motive hinter der eigenen Kreativität aufzuspüren, indem man der exakten Reihenfolge von biographischen Einzelheiten nachgeht. Wie Montaigne meint, besitzt "jedes Partikelchen" eines Lebens eine bestimmte "Aussagekraft". Am bekanntesten dürfte Kafkas Dokumentation der Entstehung seiner ersten großen Erzählung "Das Urteil" sein.
Sie lautet so: "23. September 1912: Diese Geschichte ,Das Urteil' habe ich in der Nacht vom 22. zum 23. von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke gingen. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele." Auch erwähnt Kafka "Gedanken an Freud natürlich". So umkreist der Autor die Spannweite der zur Entstehung führenden Daten, von den räumlichen und zeitlichen Parametern über die physische Beschaffenheit des Autors bis hin zum geistigen Hintergrund. Was Kafka nicht verrät, ist die Abhängigkeit dieser Psychologie von den Theorien des in Prag lehrenden Physikers Ernst Mach: Kafkas Sinnespsychologie, die Beschreibung des Gegebenen und die Aufhebung des Unterschieds zwischen Innen- und Außenwelt stammen alle direkt von Mach.
Man kann Kafka einen Empiriker des Geisteslebens nennen. Das macht die Chronik Stachs so sinnvoll, denn sie komplettiert das vom Dichter selbst begonnene Verfahren, die Logik seiner Kreativität aufzudecken. Der aufmerksame Leser wird gar in obiger Notiz den Keim zum "Prozess"-Roman erkennen: Die zwei Herren, die nachts über die Brücke gehen, verwandeln sich später in die zwei Männer, die Josef K. verhaften. Nichts in Kafkas Welt ist zu klein, um zum Symbol zu werden.
Die erste und handlichste Kafka-Chronik veröffentlichte 1975 der Dichter Chris Bezzel. Es folgte 1999 eine weitere, wissenschaftlich fundierte Chronik aus der Werkstatt der Wuppertaler Kafka-Editoren. Nun hat Stach den Umfang jener Vorgänger verdreifacht. Das ergibt etwa 15,6 Seiten pro Lebensjahr. Manches glückt Stach besonders gut. Die Gegenüberstellung von Geschichte und Geistesgeschichte gibt ein anschauliches Bild des Dichters wieder: als eines Menschen, der im böhmischen assimilierten Judentum aufwuchs. Diese von der Schoa zerstörte Welt war Kafkas Heimat. Seine drei Schwestern und die zweite Verlobte fielen den Nazis zum Opfer. Obwohl man Kafka zumeist als Einzelgänger einstuft, nicht zuletzt dank seiner Selbststilisierung, gehörte er Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zur Elite des deutschsprachigen Judentums. Er kannte die ganze Spannweite jüdischen Lebens, von den Ostjuden bis zum Kulturzionismus Martin Bubers. Sein Freund Hugo Bergman wurde Rektor der Jerusalemer Universität, ein anderer Freund, Felix Weltsch, gab die zionistische Zeitschrift "Selbstwehr" heraus, die Kafka abonnierte, und Max Brod, der Kafkas Werk vor dem Untergang rettete, gehörte zu den führenden Zionisten. Eine Palästinafahrt wird von Kafka erwogen, aber abgelehnt. Stachs Chronik verzeichnet jedes dieser Ereignisse.
Kafkas Werdegang als Schriftsteller von den ersten Schreibversuchen zur Zeit der Sternstunde des Modernismus im Jahr 1910 bis zum Sterbebett, auf dem er 1924 die Korrekturen zu einem Novellenband las, verfolgt Stach mit Akribie. Auch Kafkas Art, an mehreren Texten gleichzeitig zu arbeiten, zeigt die Chronik elegant und einleuchtend, etwa die Entstehung des Romans "Der Prozess", die mit der Arbeit am "Verschollenen" überlappt. Immer wieder tritt Kafkas fatale Ambiguität zutage, die ihn zerreißt. Die plötzliche Inspiration für ein Werk wie "Das Schloss" im Winter 1922 ähnelt einem Urknall: "Es kann erfahrungsgemäß aus dem Nichts etwas kommen." Kafkas gespenstischer Art, sich mit dem Weltprozess in Einklang zu fühlen, etwa in dieser Notiz: "Immer die in Zimmern eingesperrte Weltgeschichte", trägt Stach ebenfalls Rechnung. Die Beziehungen zu Prager Literaten wie Oskar Baum und Egon Erwin Kisch oder zur Wiener Schule von Franz Blei und Karl Kraus bilden ein faszinierendes Netz. Man stößt auch auf andere Einflüsse: Pascals "Pensées", Kierkegaards "Entweder / Oder", Dostojewskis "Brüder Karamasow". Durch solche Lektüre bildet sich der Prager Solitär zum Weltdichter. Seine eigentümliche Art spiegelt sich in Wortbildungen wie "Höllensumpf".
Stets verdeutlicht die Chronik die Beziehung zur Familie. Vom ersten Tag an treten die Eltern in Erscheinung, die liebevolle Mutter Julie und der dem Sohn Angst einflößende Vater Hermann, die beide den Dichter überleben sollten. Das Familienleben verwickelt sich mit dem Geschäftsleben. Das Innere jedoch äußert sich vor allem im Liebesleben, angefangen von der qualvollen Beziehung zu Felice Bauer. Sie versteht ihn: "Immerfort willst du das Unmögliche." Von hier geht es zur Verwicklung mit Milena Jesenská bis hin zur segensreichen Beziehung zu Dora Dymant. Ihr schickt er Geld. Sie schickt es zurück. In Berlin, wo er mit ihr haust, muss er einen antisemitischen Zuruf von einem Schulmädchen erleiden. In so einem Detail zeichnet sich das künftige Schicksal seines Volkes ab.
Der Leser wird bei Stach auf viel Interessantes stoßen, doch wie schon bei seiner überlangen dreibändigen Biographie ist auch dieses Buch zu wortreich. Stach fehlt die für einen Chronisten nötige Prägnanz. So geraten viele Eintragungen zu weitschweifig, andere sind sogar nichtssagend, etwa wenn es um eine politische Begebenheit geht, bei der kein Hinweis auf dessen Einwirkung auf Kafka vorliegt. Ferner vermag Stach nicht immer den Sinn eines Tatbestandes genau zu erfassen. Man vermisst auch frühe Zeugnisse zur Rezeption, etwa durch Theodor W. Adorno.
An anderen Stellen freilich steht jeder Interpret ratlos da. Wer wünschte nicht zu wissen, was beim Besuch Robert Musils bei Kafka am 14. April 1916 besprochen wurde? Zwei der größten Autoren ihrer Zeit haben sich getroffen, in deren Werk sich der kommende Untergang von Österreich-Ungarn spiegelt. Was erfolgte da? Wenn auch keine Chronik hier weiterhilft, so hat Reiner Stach doch immerhin das neue Standardwerk geliefert, das in keiner Kafka Bibliothek fehlen darf.
JEREMY ADLER
Reiner Stach:
"Kafka von Tag zu Tag".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 640 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
15,6 Seiten pro Lebensjahr: Reiner Stach verfolgt in einer Chronik Franz Kafkas Leben
Unter allen Tagebucheintragungen eines Dichters dürfte Kafkas vom 2. August 1914 wohl die verblüffendste sein: "Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Das Zusammentreffen eines katastrophalen Weltereignisses mit der Privatsphäre hat man kaum je knapper, ja absurder ausgedrückt. Solche Treffer sind es letztendlich, welche den Wert der Chronik ausmachen, die der Kafka-Biograph Reiner Stach auf mehr als 600 Seiten ausbreitet. Dabei hat er aus einer Liste von Daten ein spannendes Lesebuch gemacht.
Die letztlich vom französischen Erfinder des Essays, Michel de Montaigne, stammende Art, das eigene Innenleben empirisch aufzudecken, teilte Kafka mit Goethe und Proust: Man versucht, die Motive hinter der eigenen Kreativität aufzuspüren, indem man der exakten Reihenfolge von biographischen Einzelheiten nachgeht. Wie Montaigne meint, besitzt "jedes Partikelchen" eines Lebens eine bestimmte "Aussagekraft". Am bekanntesten dürfte Kafkas Dokumentation der Entstehung seiner ersten großen Erzählung "Das Urteil" sein.
Sie lautet so: "23. September 1912: Diese Geschichte ,Das Urteil' habe ich in der Nacht vom 22. zum 23. von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte. Ein Wagen fuhr. Zwei Männer über die Brücke gingen. Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele." Auch erwähnt Kafka "Gedanken an Freud natürlich". So umkreist der Autor die Spannweite der zur Entstehung führenden Daten, von den räumlichen und zeitlichen Parametern über die physische Beschaffenheit des Autors bis hin zum geistigen Hintergrund. Was Kafka nicht verrät, ist die Abhängigkeit dieser Psychologie von den Theorien des in Prag lehrenden Physikers Ernst Mach: Kafkas Sinnespsychologie, die Beschreibung des Gegebenen und die Aufhebung des Unterschieds zwischen Innen- und Außenwelt stammen alle direkt von Mach.
Man kann Kafka einen Empiriker des Geisteslebens nennen. Das macht die Chronik Stachs so sinnvoll, denn sie komplettiert das vom Dichter selbst begonnene Verfahren, die Logik seiner Kreativität aufzudecken. Der aufmerksame Leser wird gar in obiger Notiz den Keim zum "Prozess"-Roman erkennen: Die zwei Herren, die nachts über die Brücke gehen, verwandeln sich später in die zwei Männer, die Josef K. verhaften. Nichts in Kafkas Welt ist zu klein, um zum Symbol zu werden.
Die erste und handlichste Kafka-Chronik veröffentlichte 1975 der Dichter Chris Bezzel. Es folgte 1999 eine weitere, wissenschaftlich fundierte Chronik aus der Werkstatt der Wuppertaler Kafka-Editoren. Nun hat Stach den Umfang jener Vorgänger verdreifacht. Das ergibt etwa 15,6 Seiten pro Lebensjahr. Manches glückt Stach besonders gut. Die Gegenüberstellung von Geschichte und Geistesgeschichte gibt ein anschauliches Bild des Dichters wieder: als eines Menschen, der im böhmischen assimilierten Judentum aufwuchs. Diese von der Schoa zerstörte Welt war Kafkas Heimat. Seine drei Schwestern und die zweite Verlobte fielen den Nazis zum Opfer. Obwohl man Kafka zumeist als Einzelgänger einstuft, nicht zuletzt dank seiner Selbststilisierung, gehörte er Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zur Elite des deutschsprachigen Judentums. Er kannte die ganze Spannweite jüdischen Lebens, von den Ostjuden bis zum Kulturzionismus Martin Bubers. Sein Freund Hugo Bergman wurde Rektor der Jerusalemer Universität, ein anderer Freund, Felix Weltsch, gab die zionistische Zeitschrift "Selbstwehr" heraus, die Kafka abonnierte, und Max Brod, der Kafkas Werk vor dem Untergang rettete, gehörte zu den führenden Zionisten. Eine Palästinafahrt wird von Kafka erwogen, aber abgelehnt. Stachs Chronik verzeichnet jedes dieser Ereignisse.
Kafkas Werdegang als Schriftsteller von den ersten Schreibversuchen zur Zeit der Sternstunde des Modernismus im Jahr 1910 bis zum Sterbebett, auf dem er 1924 die Korrekturen zu einem Novellenband las, verfolgt Stach mit Akribie. Auch Kafkas Art, an mehreren Texten gleichzeitig zu arbeiten, zeigt die Chronik elegant und einleuchtend, etwa die Entstehung des Romans "Der Prozess", die mit der Arbeit am "Verschollenen" überlappt. Immer wieder tritt Kafkas fatale Ambiguität zutage, die ihn zerreißt. Die plötzliche Inspiration für ein Werk wie "Das Schloss" im Winter 1922 ähnelt einem Urknall: "Es kann erfahrungsgemäß aus dem Nichts etwas kommen." Kafkas gespenstischer Art, sich mit dem Weltprozess in Einklang zu fühlen, etwa in dieser Notiz: "Immer die in Zimmern eingesperrte Weltgeschichte", trägt Stach ebenfalls Rechnung. Die Beziehungen zu Prager Literaten wie Oskar Baum und Egon Erwin Kisch oder zur Wiener Schule von Franz Blei und Karl Kraus bilden ein faszinierendes Netz. Man stößt auch auf andere Einflüsse: Pascals "Pensées", Kierkegaards "Entweder / Oder", Dostojewskis "Brüder Karamasow". Durch solche Lektüre bildet sich der Prager Solitär zum Weltdichter. Seine eigentümliche Art spiegelt sich in Wortbildungen wie "Höllensumpf".
Stets verdeutlicht die Chronik die Beziehung zur Familie. Vom ersten Tag an treten die Eltern in Erscheinung, die liebevolle Mutter Julie und der dem Sohn Angst einflößende Vater Hermann, die beide den Dichter überleben sollten. Das Familienleben verwickelt sich mit dem Geschäftsleben. Das Innere jedoch äußert sich vor allem im Liebesleben, angefangen von der qualvollen Beziehung zu Felice Bauer. Sie versteht ihn: "Immerfort willst du das Unmögliche." Von hier geht es zur Verwicklung mit Milena Jesenská bis hin zur segensreichen Beziehung zu Dora Dymant. Ihr schickt er Geld. Sie schickt es zurück. In Berlin, wo er mit ihr haust, muss er einen antisemitischen Zuruf von einem Schulmädchen erleiden. In so einem Detail zeichnet sich das künftige Schicksal seines Volkes ab.
Der Leser wird bei Stach auf viel Interessantes stoßen, doch wie schon bei seiner überlangen dreibändigen Biographie ist auch dieses Buch zu wortreich. Stach fehlt die für einen Chronisten nötige Prägnanz. So geraten viele Eintragungen zu weitschweifig, andere sind sogar nichtssagend, etwa wenn es um eine politische Begebenheit geht, bei der kein Hinweis auf dessen Einwirkung auf Kafka vorliegt. Ferner vermag Stach nicht immer den Sinn eines Tatbestandes genau zu erfassen. Man vermisst auch frühe Zeugnisse zur Rezeption, etwa durch Theodor W. Adorno.
An anderen Stellen freilich steht jeder Interpret ratlos da. Wer wünschte nicht zu wissen, was beim Besuch Robert Musils bei Kafka am 14. April 1916 besprochen wurde? Zwei der größten Autoren ihrer Zeit haben sich getroffen, in deren Werk sich der kommende Untergang von Österreich-Ungarn spiegelt. Was erfolgte da? Wenn auch keine Chronik hier weiterhilft, so hat Reiner Stach doch immerhin das neue Standardwerk geliefert, das in keiner Kafka Bibliothek fehlen darf.
JEREMY ADLER
Reiner Stach:
"Kafka von Tag zu Tag".
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 640 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Gegenüberstellung von Geschichte und Geistesgeschichte gibt ein anschauliches Bild des Dichters wieder. Jeremy Adler Frankfurter Allgemeine Zeitung 20180815