Szilárd Borbély, dessen Romandebüt Die Mittellosen in Ungarn, Deutschland und vielen anderen Ländern ein literarisches Ereignis war, wollte seinen nächsten großen erzählerischen Text Franz Kafka widmen. Die Sammlung von Bruchstücken, aus dem Nachlass veröffentlicht, ursprünglich zur Publikation bestimmt, bezieht ihre Intensität aus der leidenschaftlichen Suche des Autors nach sich selbst und der eigenen Stimme.
Ein Essay über die Bedeutung Kafkas in der ungarischen Gegenwartsliteratur im Allgemeinen und im Werk Szilárd Borbélys im Besonderen ergänzt den Band.
Kafkas Sohn, das ist ein junger ungarischer Schriftsteller, der lernt, im Schreiben seine Heimat zu finden. Die Sprache nennt er einen Friedhof, der sich die Toten einverleibt; er will Geschichten schreiben, die »meine eigenen Spuren, die ich zwischen den Wörtern zurücklassen könnte, auslöschen«. Kafka als Bruder, als Projektionsfigur, als Lehrer, als Erzähler, als Mensch der Verzweiflung, der Krankheit, der unglücklichen Liebe. Borbély nimmt Kafkas »Brief an den Vater« als Folie, sich mit der eigenen Vaterbeziehung auseinanderzusetzen. Die Prosastücke, formal hier und da an jüdische Geschichten und Legenden angelehnt, passagenweise an Kertész' Galeerentagebuch erinnernd, sind Selbstbekenntnis und Vermächtnis in einem.
Ein Essay über die Bedeutung Kafkas in der ungarischen Gegenwartsliteratur im Allgemeinen und im Werk Szilárd Borbélys im Besonderen ergänzt den Band.
Kafkas Sohn, das ist ein junger ungarischer Schriftsteller, der lernt, im Schreiben seine Heimat zu finden. Die Sprache nennt er einen Friedhof, der sich die Toten einverleibt; er will Geschichten schreiben, die »meine eigenen Spuren, die ich zwischen den Wörtern zurücklassen könnte, auslöschen«. Kafka als Bruder, als Projektionsfigur, als Lehrer, als Erzähler, als Mensch der Verzweiflung, der Krankheit, der unglücklichen Liebe. Borbély nimmt Kafkas »Brief an den Vater« als Folie, sich mit der eigenen Vaterbeziehung auseinanderzusetzen. Die Prosastücke, formal hier und da an jüdische Geschichten und Legenden angelehnt, passagenweise an Kertész' Galeerentagebuch erinnernd, sind Selbstbekenntnis und Vermächtnis in einem.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2017Brüder im Schmerze
Szilárd Borbély sieht sich in der Nachfolge Kafkas
Leser Kafkas werden sich die Frage schon gestellt haben: Wäre dieser Titan der Worte, der wie kein Zweiter verborgene Mechanismen des Bürokratie- und Maschinenzeitalters dingfest gemacht hat, nicht schon mit knapp 41 Jahren gestorben, wie sähe wohl sein Spätwerk aus? Wie hätte er auf den Kataklysmus der Geschichte, auf den Holocaust reagiert? Der Komplex des Jüdischen hatte Kafka immer fasziniert, zumal hier eine Erfahrung von Heimat- und Schutzlosigkeit vorgeprägt schien, die in der Moderne allgegenwärtig wurde. In seinen Schriften aber bildet das Judentum bekanntlich eine vielsagende Leerstelle. Und wären die übrigen Themen dieselben geblieben, vor allem das psychoanalytisch subtile Abarbeiten an der übermächtigen Figur des Vaters?
Szilárd Borbélys Kafka ist einer, dem das Wissen um Auschwitz mitgegeben scheint: "Er wusste, dass die schmutzige Flut nahte, dass der Geruch von Leichen sich überall in Mitteleuropa ausbreitete." Das macht ihn nur verzweifelter. Vom Humor des Autors des "Prozesses" findet sich hier wenig. Es handelt sich freilich nicht um den historischen Kafka, sondern um eine Hybridfigur, die zu einem guten Teil, dem lebensmüden, aus Borbély selbst besteht. Der bedeutende ungarische Autor, dessen betörend grausamer, das kindliche Eingesperrtsein in einem von archaischen Riten geprägten Dorf behandelnder Roman "Die Mittellosen" vor drei Jahren begeisterte, hat sich wie so viele empfindsame, einsame, umwölkte Seelen stark mit Kafka identifiziert.
Auch Borbély schrieb, einem Getriebenen gleich, gegen die Umwelt und gegen den Tod an, auch er arbeitete in den Nächten und haderte mit dem Vater, der das eigene Judentum ablehnte. So nimmt der Titel "Kafkas Sohn" einerseits Bezug auf den meistdiskutierten Vaterkonflikt der Literaturgeschichte: Borbély lässt seinen Helden nicht nur heftig mit dem pompös rationalen und egozentrischen Hermann Kafka ringen, er imaginiert auch mehrere beleidigte Antwortschreiben des Galanteriewarenhändlers, so als wäre der berühmte "Brief an den Vater" tatsächlich abgeschickt worden. Aber der Buchtitel deutet auch die Selbststilisierung des Autors zum ideellen Nachfahren des Vorbilds an.
Es fällt schwer, das unvollendet gebliebene Buch nicht zugleich als langen Abschiedsbrief Szilárd Borbélys zu lesen, der im Februar 2014 den Freitod wählte, zumal der Protagonist mehrfach an Erlösung durch Selbstmord denkt, etwa beim Blick auf die Moldau: "Es ging ihm durch den Kopf, dass dieses Wasser auch mit ihm weitereilen könnte." Weil der Stil wie in den "Mittellosen" ein kreisender ist und sich diesmal noch weniger um die Chronologie bekümmert, stört der Fragmentcharakter kaum. Er verstärkt vielmehr noch den Eindruck einer poetischen Gedankenverdichtung von beklemmender Dringlichkeit, die zu immer weiteren Funkenentladungen führt. Versammelt sind Gesprächsszenen, Legendenadaptionen, Traumsequenzen, Einfühlungen und bohrende Überlegungen, die nur darin übereinstimmen, dass sie von einem sich nicht Einfügenden handeln.
Die einzelnen Miniaturen greifen ineinander, bilden aber keine Handlung im herkömmlichen Sinn. Zwischen halbbiographischen Abschnitten finden sich Fort- und Umschreibungen von Kafka-Texten, auch Originalpassagen. So wird beinahe der gesamte Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912 zitiert, als wollte Borbély noch einmal zeigen, wie richtig Reiner Stach mit seiner Einschätzung liegt: "Weder in ihrer sprachlichen Dichte noch in ihrer selbstreflexiven Intensität sind sie mit irgendeiner erhaltenen Korrespondenz vergleichbar." Doch handelt es sich bei "Kafkas Sohn" keineswegs um Kafka-Philologie, sondern um eine produktive Anverwandlung, um eine Bruderschaft im Schmerz: "Manchmal ist der Mensch der ihn umgebenden Welt völlig ausgeliefert, das wusste Kafka ganz genau."
Beim Blick auf die Gegenwart beschwört der Autor die Gegenmacht der Literatur herauf: "Die osteuropäischen Diktatoren wollen die Menschen in den Wahnsinn treiben, weshalb sie die Stille verstaatlicht haben, die als Relikt der alten Welt gilt. Sie haben sie aus dem Verkehr gezogen, so wie die alten Geldscheine." Dafür wurden neue laute Worte eingeführt. Inmitten des Lärms, dieses Suhlens im Grölen, kann ein Buch Kafkas - dafür steht Borbély mit seiner Lebenserinnerung ein - zur alles übertönenden Stille werden, "als hätte ich in einen Strudel geblickt. Ich sah alle Ängste und Beklemmungen meiner Kindheit Gestalt annehmen." Borbélys lädierte Prosa, die den Leser an der Seite des Alter Egos Kafka ins Zentrum seiner Depressionen führt, ist Verbeugung, Epitaph und Abschied in einem. Es ist der Moment, in dem die Maus sich umdreht und der Katze, von deren Ratschlag sie längst alles weiß, erwartungsvoll in die Augen blickt.
OLIVER JUNGEN
Szilárd Borbély: "Kafkas Sohn". Prosa.
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Laszlo Kornitzer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 200 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Szilárd Borbély sieht sich in der Nachfolge Kafkas
Leser Kafkas werden sich die Frage schon gestellt haben: Wäre dieser Titan der Worte, der wie kein Zweiter verborgene Mechanismen des Bürokratie- und Maschinenzeitalters dingfest gemacht hat, nicht schon mit knapp 41 Jahren gestorben, wie sähe wohl sein Spätwerk aus? Wie hätte er auf den Kataklysmus der Geschichte, auf den Holocaust reagiert? Der Komplex des Jüdischen hatte Kafka immer fasziniert, zumal hier eine Erfahrung von Heimat- und Schutzlosigkeit vorgeprägt schien, die in der Moderne allgegenwärtig wurde. In seinen Schriften aber bildet das Judentum bekanntlich eine vielsagende Leerstelle. Und wären die übrigen Themen dieselben geblieben, vor allem das psychoanalytisch subtile Abarbeiten an der übermächtigen Figur des Vaters?
Szilárd Borbélys Kafka ist einer, dem das Wissen um Auschwitz mitgegeben scheint: "Er wusste, dass die schmutzige Flut nahte, dass der Geruch von Leichen sich überall in Mitteleuropa ausbreitete." Das macht ihn nur verzweifelter. Vom Humor des Autors des "Prozesses" findet sich hier wenig. Es handelt sich freilich nicht um den historischen Kafka, sondern um eine Hybridfigur, die zu einem guten Teil, dem lebensmüden, aus Borbély selbst besteht. Der bedeutende ungarische Autor, dessen betörend grausamer, das kindliche Eingesperrtsein in einem von archaischen Riten geprägten Dorf behandelnder Roman "Die Mittellosen" vor drei Jahren begeisterte, hat sich wie so viele empfindsame, einsame, umwölkte Seelen stark mit Kafka identifiziert.
Auch Borbély schrieb, einem Getriebenen gleich, gegen die Umwelt und gegen den Tod an, auch er arbeitete in den Nächten und haderte mit dem Vater, der das eigene Judentum ablehnte. So nimmt der Titel "Kafkas Sohn" einerseits Bezug auf den meistdiskutierten Vaterkonflikt der Literaturgeschichte: Borbély lässt seinen Helden nicht nur heftig mit dem pompös rationalen und egozentrischen Hermann Kafka ringen, er imaginiert auch mehrere beleidigte Antwortschreiben des Galanteriewarenhändlers, so als wäre der berühmte "Brief an den Vater" tatsächlich abgeschickt worden. Aber der Buchtitel deutet auch die Selbststilisierung des Autors zum ideellen Nachfahren des Vorbilds an.
Es fällt schwer, das unvollendet gebliebene Buch nicht zugleich als langen Abschiedsbrief Szilárd Borbélys zu lesen, der im Februar 2014 den Freitod wählte, zumal der Protagonist mehrfach an Erlösung durch Selbstmord denkt, etwa beim Blick auf die Moldau: "Es ging ihm durch den Kopf, dass dieses Wasser auch mit ihm weitereilen könnte." Weil der Stil wie in den "Mittellosen" ein kreisender ist und sich diesmal noch weniger um die Chronologie bekümmert, stört der Fragmentcharakter kaum. Er verstärkt vielmehr noch den Eindruck einer poetischen Gedankenverdichtung von beklemmender Dringlichkeit, die zu immer weiteren Funkenentladungen führt. Versammelt sind Gesprächsszenen, Legendenadaptionen, Traumsequenzen, Einfühlungen und bohrende Überlegungen, die nur darin übereinstimmen, dass sie von einem sich nicht Einfügenden handeln.
Die einzelnen Miniaturen greifen ineinander, bilden aber keine Handlung im herkömmlichen Sinn. Zwischen halbbiographischen Abschnitten finden sich Fort- und Umschreibungen von Kafka-Texten, auch Originalpassagen. So wird beinahe der gesamte Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912 zitiert, als wollte Borbély noch einmal zeigen, wie richtig Reiner Stach mit seiner Einschätzung liegt: "Weder in ihrer sprachlichen Dichte noch in ihrer selbstreflexiven Intensität sind sie mit irgendeiner erhaltenen Korrespondenz vergleichbar." Doch handelt es sich bei "Kafkas Sohn" keineswegs um Kafka-Philologie, sondern um eine produktive Anverwandlung, um eine Bruderschaft im Schmerz: "Manchmal ist der Mensch der ihn umgebenden Welt völlig ausgeliefert, das wusste Kafka ganz genau."
Beim Blick auf die Gegenwart beschwört der Autor die Gegenmacht der Literatur herauf: "Die osteuropäischen Diktatoren wollen die Menschen in den Wahnsinn treiben, weshalb sie die Stille verstaatlicht haben, die als Relikt der alten Welt gilt. Sie haben sie aus dem Verkehr gezogen, so wie die alten Geldscheine." Dafür wurden neue laute Worte eingeführt. Inmitten des Lärms, dieses Suhlens im Grölen, kann ein Buch Kafkas - dafür steht Borbély mit seiner Lebenserinnerung ein - zur alles übertönenden Stille werden, "als hätte ich in einen Strudel geblickt. Ich sah alle Ängste und Beklemmungen meiner Kindheit Gestalt annehmen." Borbélys lädierte Prosa, die den Leser an der Seite des Alter Egos Kafka ins Zentrum seiner Depressionen führt, ist Verbeugung, Epitaph und Abschied in einem. Es ist der Moment, in dem die Maus sich umdreht und der Katze, von deren Ratschlag sie längst alles weiß, erwartungsvoll in die Augen blickt.
OLIVER JUNGEN
Szilárd Borbély: "Kafkas Sohn". Prosa.
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Laszlo Kornitzer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 200 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Borbélys lädierte Prosa, die den Leser an der Seite des Alter Egos Kafka ins Zentrum seiner Depressionen führt, ist Verbeugung, Epitaph und Abschied in einem.« Oliver Jungen Frankfurter Allgemeine Zeitung 20171021