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Perlentaucher-Notiz zur Efeu-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jenny Erpenbecks "Kairos" erzählt von einer folgenreichen Liaison in der untergehenden DDR
Auf der Schwelle vor der Wohnung wartet Katharina auf Hans. Es ist schon nach Mitternacht, aber den Schlüssel hat er, nur er, und weil es 1986 ist und kein Telefon zur Hand, macht sie sich wartend Gedanken über ihren Platz in seinem Leben und in der Welt. Er sitzt in der Bar. Er will nicht nach Hause, will trinken, um zu vergessen, denkt, er wäre in dieser Nacht allein. Ohne sie ist die Wohnung wertlos und er in dieser Welt verloren. Sie wartet Stunden, dann kommt er betrunken die Treppe herauf. Versöhnung. Am nächsten Tag scheint alles vergessen. Die Mitte des Romans ist beinah erreicht, und im nächtlichen Aneinandervorbeisitzen der beiden hat sich, zunächst als kleiner Riss, der Abgrund angedeutet.
Zum Überleben benötigt die Liebe romantisches Kapital. Als wir uns das erste Mal sahen. Unser erster gemeinsamer Weg im Regen. Die Begleitmusik unseres Begehrens. Wie du beim Lesen in meinem Schoß lagst, beim Denken den Kopf hältst. Diese Liebe ist noch dazu eine ganz besondere, weil sie verboten ist: eine kaum erwachsen gewordene Frau, ein verheirateter Schriftsteller über fünfzig. Von dem Moment an, als sich ihre Blicke treffen im Bus, haben sie sich einander versprochen. Und weil alles so geheim ist, gibt es besonders viel anekdotisches Material, das sich zelebrieren lässt auf Papier und in den charaktervollsten Lokalen im Ostberlin der Vorwendezeit, denn Hans ist ein erfolgreicher Schriftsteller, kein Dissident.
"Kairos", das ist der Gott des glücklichen Zeitpunkts, der nur für einen Moment an seiner Haarlocke zu fassen ist. Als sie das erste Mal miteinander schlafen, hören sie Mozarts Requiem. "Wir dürfen uns nicht unglücklich machen", sagt Hans. Da schon verbinden sich Tod und Liebe nach alter Tragödienmanier, und obwohl sich hier schon das Ende andeutet für Katharina und Hans und die Leser, will es niemand von ihnen sehen, wollen alle lieber drinnen statt draußen sein, auch so ein Leitmotiv des Romans, und wie ein Liebender liest man hinweg über die eingestreute Saat des Zweifels: "Ungebrochen ist sie, irgendwie sauber. Wäre sie anders, würde er sie auch nicht so begehren, und nicht auf diese Weise."
Was für eine alte, bekannte Story. Was für eine Aufgabe, eine solche Geschichte mit neuen Metaphern zu füllen, sie unvorhersehbar werden zu lassen und einzigartig in ihrer Tragik. Jenny Erpenbeck, 1967 in Ostberlin geboren, wurde schon "Meisterin der Prosapräzision" genannt, ihre literarische Arbeit immer wieder ausgezeichnet. Wir lernen: Ein Museumsbesuch muss an keiner Stelle vom Museum handeln, er kann mit dem Satz "Aus den Nüstern der Rosse des Todes schnaubt Finsternis" beginnen und sich wie ein Abenteuer unter Göttern lesen. Man hat ihr Schreiben mit Orchestermusik verglichen, wegen der präzisen Arbeit an Rhythmus und Tempo und ihres Blicks für Details. So ist es auch jetzt wieder. Beinahe wünscht man sich, alles Erinnerungswürdige aus diesen Jahren würde in der Sprache dieser Autorin festgehalten, um sie den Generationen, die nachkommen, in gleichbleibender Intensität zu präsentieren.
Denn die Geschichte spielt im Ostberlin der Wendezeit, mit Blick auf den leeren Mauerstreifen. Katharina lernt im Staatsverlag Setzerin, später will sie an die Kunsthochschule. Hans' Vater war begeisterter Nazi, als Kind hat Hans die Ideologie aufgesogen, später ging er freiwillig in die DDR. Er lehrt Katharina die Musik von Hanns Eisler, spielt ihr vor, wie Ernst Busch sang, lange bevor sie geboren wurde, erklärt ihr Brechts Theater, denkt an die letzten Worte des tragischen Lenin-Gefährten Bucharin: "Wenn du stirbst, wofür stirbst du?" Das Kapital ihrer Liebe schöpft aus einer Ostberliner Bohème, die ihren eigenen Dynamiken folgt, deren Vokabeln und Referenzen vielen bereits dreißig Jahre später fremd sind, es aber verdient haben, erinnert zu werden. Das von ihnen wenig beachtete Gesellschaftssystem um sie herum zerfällt in der Geschwindigkeit, in der auch ihr Glück vergeht, und jetzt wünscht man sich doch, von draußen auf sie blicken zu können, nicht schon so weit drinnen zu sein.
Für alle den richtigen Ton zu treffen ist auch so eine Aufgabe, für die Großmutter und den Nazivater (geht uns alles nichts an), für die sehr junge Frau, die niemals naiv, nur lebenshungrig klingt, die mutig ihren West-Urlaub verlängert, aber nur um eine Stunde, die Hans als unpolitisch beschreibt, als Angehörige einer neuen Zeit - oft stehen ihre Stimmen gleichberechtigt beieinander -, die süchtig danach ist, ihn süchtig zu machen, und immerzu die Warnungen der Freunde ignoriert. Weil jene doch nicht verstehen, was sie da erlebt und wie schwer die Liebe wiegen kann. "Was willst du denn mit so einem, das hat doch keine Zukunft."
Im ersten Sommer sucht Katharina Hans heimlich im Familienurlaub auf, spricht ihn am Strand an, während Frau und Sohn gerade baden. Im zweiten Jahr hat sich sein Blick verändert, das Hochgefühl der gelungenen Überraschung ist weg. Und der kluge Hans, der schon ein Leben gelebt und einige Frauen unglücklich gemacht hat, der weiß, dass es die Ehe ist, aus der sich seine Liebschaften nähren, der sich wünscht, das Gefühl abzutrennen und unters Mikroskop zu legen - "darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten 20. Jahrhundert" -, auch er hält immerzu vergeblich fest.
Jenny Erpenbeck stammt selbst aus einer DDR-Schriftstellerfamilie. Dass ihr Hans Züge des Schriftstellers Heiner Müller trägt und der wie ein Geist durch ihren Roman wandelt, etwa als Erinnerung beim Anblick eines Pianisten in einem Lokal, dass Katharina und die Autorin sich in manch beruflicher Entscheidung ähneln, das alles lässt sich mit Interesse und Neugier zur Kenntnis nehmen. Wie es ihr gelingt, einen Moment der Zeitgeschichte in einer so bedrückenden wie faszinierenden Beziehung zu kondensieren, ist das eigentliche Geheimnis dieses Romans. ELENA WITZECK.
Jenny Erpenbeck: "Kairos". Roman.
Penguin Verlag, München 2021. 384 S., geb., 22,- Euro.
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