»Eine der größten lebenden Erzählerinnen, die (nicht nur) wir haben.« Andreas Platthaus, FAZ
Die neunzehnjährige Katharina und Hans, ein verheirateter Mann Mitte fünfzig, begegnen sich Ende der achtziger Jahre in Ostberlin, zufällig, und kommen für die nächsten Jahre nicht voneinander los. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR und des Umbruchs nach 1989 erzählt Jenny Erpenbeck in ihrer unverwechselbaren Sprache von den Abgründen des Glücks – vom Weg zweier Liebender im Grenzgebiet zwischen Wahrheit und Lüge, von Obsession und Gewalt, Hass und Hoffnung. Alles in ihrem Leben verwandelt sich noch in derselben Sekunde, in der es geschieht, in etwas Verlorenes. Die Grenze ist immer nur ein Augenblick.
»Erpenbecks beklemmende Entfaltung einer Amour fou, die mit dem Untergang des Staates synchronisiert wird, entwickelt einen beispiellosen Sog. Es ist ein großer, schöner und grausamer Liebesroman, der zu Recht ausgezeichnet worden ist.« Adam Soboczynski, Die Zeit
»Jenny Erpenbeck erzählt in ›Kairos‹ von der existentiellen Verlorenheit einer ganzen Generation.« Maike Albath, Deutschlandfunk ›Büchermarkt‹
»Erpenbeck demonstriert in ›Kairos‹ ihre sprachlichen und literarischen Qualitäten.« Gerrit Bartels, Tagesspiegel
Die neunzehnjährige Katharina und Hans, ein verheirateter Mann Mitte fünfzig, begegnen sich Ende der achtziger Jahre in Ostberlin, zufällig, und kommen für die nächsten Jahre nicht voneinander los. Vor dem Hintergrund der untergehenden DDR und des Umbruchs nach 1989 erzählt Jenny Erpenbeck in ihrer unverwechselbaren Sprache von den Abgründen des Glücks – vom Weg zweier Liebender im Grenzgebiet zwischen Wahrheit und Lüge, von Obsession und Gewalt, Hass und Hoffnung. Alles in ihrem Leben verwandelt sich noch in derselben Sekunde, in der es geschieht, in etwas Verlorenes. Die Grenze ist immer nur ein Augenblick.
»Erpenbecks beklemmende Entfaltung einer Amour fou, die mit dem Untergang des Staates synchronisiert wird, entwickelt einen beispiellosen Sog. Es ist ein großer, schöner und grausamer Liebesroman, der zu Recht ausgezeichnet worden ist.« Adam Soboczynski, Die Zeit
»Jenny Erpenbeck erzählt in ›Kairos‹ von der existentiellen Verlorenheit einer ganzen Generation.« Maike Albath, Deutschlandfunk ›Büchermarkt‹
»Erpenbeck demonstriert in ›Kairos‹ ihre sprachlichen und literarischen Qualitäten.« Gerrit Bartels, Tagesspiegel
Perlentaucher-Notiz zur Efeu-Rezension
Es gebe "ein großes Bedürfnis danach, zu erfahren, welche konkreten Auswirkungen das, was im Moment des Mauerfalls wie ein Happy End aussah, tatsächlich auf die Biografien der Menschen im Osten hatte", versucht sich Erpenbeck ihren außergewöhnlichen Erfolg im englischsprachigen Ausland im SZ-Gespräch zu erklären.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2021Ost-West-Beziehung
Dichter Gefühlsknäuel: Jenny Erpenbeck erzählt in „Kairos“
von einer Amour fou in der DDR
VON HELMUT BÖTTIGER
Es gab in der DDR eine Bohème, die mit westlichen Maßstäben nicht zu messen war. Im neuen Roman von Jenny Erpenbeck tauchen wie Codewörter Namen von Ostberliner Etablissements auf, die denselben Charakter annehmen wie die berühmten Pariser Cafés am Montparnasse – die „Offenbachstuben“ beispielsweise, das „Ermelerhaus“ oder natürlich das „Weinrestaurant Ganymed“ am Schiffbauerdamm, dessen Nasi-Goreng-Variante landesweit ausstrahlte und in dessen „Berner Butterbouillon“ ein Wachtelei schwamm. Darauf macht Hans, der um 34 Jahre ältere Schriftsteller, seine 19-jährige frisch eroberte Geliebte Katharina gleich aufmerksam: Es ist ein Teil ihres Glücks.
Erpenbecks Roman „Kairos“ ist ein Liebesroman und ein Roman über die späte DDR, und beide Stränge sind viel enger miteinander verbunden, als man am Anfang ahnt. Langsam entsteht ein dichter Gefühlsknäuel, und auch am Schluss bleibt davon noch ein unauflösbarer Rest. „Kairos“ umkreist etwas, was man im Westen nach 1989 allmählich zu ahnen begann und das dabei immer fremder und unverständlicher wurde: dass in der Ostberliner Kulturszene eine eigene Atmosphäre und Mentalität entstanden war, die den bundesdeutschen Selbstverständlichkeiten zuwiderlief.
Hans W., der rätselhafte Protagonist des Romans, ist einer jener widersprüchlichen, komplexen Charaktere, die die Kritik an den versteinerten Verhältnissen der DDR mit dem Festhalten an sozialistischen Vorstellungen verbinden. Den Privilegien, die ein nicht komplett dissidentischer Schriftsteller hat – festes Einkommen, garantierte Aufträge, die große gesellschaftliche Bedeutung von Literatur – stehen Zweifel, Desillusionierung und eher richtungslose private Suchbewegungen gegenüber. Seine Begegnung mit der jungen Katharina wird von Jenny Erpenbeck mit dramaturgisch raffiniert eingesetzten Mitteln als coup de foudre geschildert, ihre Beziehung als eine DDR-spezifische Amour fou. Der Marx-Engels-Platz, der 57er-Bus, der plötzlich einsetzende Regen und die S-Bahn-Brücke am Alex – die Stationen ihrer ersten Begegnung entwickeln einen eigenen Sog und werden leitmotivisch beschworen.
Diese Liebe steht unter besonderen Gesetzen. Es ist die Anziehung zwischen einem, der in den Fünfzigerjahren wegen seiner Überzeugungen bewusst aus dem Westen in die DDR gegangen ist, und einer Nachgeborenen, die das Leben in der DDR als selbstverständlich ansieht und deshalb nicht mehr in derselben Weise um den Sozialismus kämpft. Aber sie verkörpert so etwas wie die Hoffnung auf die Zukunft. Katharina ist mit den Idealen der frühen DDR-Kultur aufgewachsen, ihr Vater ist ein führender Kopf an der Akademie der Wissenschaften, und das Theater Brechts oder die Musik Hanns Eislers werden ihre Orientierungspunkte. In der hoch aufgeladenen ersten Liebesszene zwischen den Hauptfiguren am Abend nach jener Begegnung spielt das alles eine große Rolle, und im Assoziationsstrom Katharinas fällt mitten in die ersten Küsse hinein der berühmte Brecht-Satz: „Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund“. Es sind ganz eigene kulturelle Chiffren, die hier zitiert werden, und das Ineinander von Verführung und Sex mit den Klängen von Mozarts „Requiem“ vom Plattenspieler ist ein spezielles Exerzitium: Tod und Liebe, als die klassischen Ingredienzen der antiken Tragödie, werden aufeinander bezogen und bilden das beständige Hintergrundrauschen dieses Romans.
Qual und Lust, durch die Geschichtsmaschine gedreht wie durch einen Fleischwolf: die vielen Verweise auf Heiner Müller sind in „Kairos“ nicht zu übersehen. Hans, der Schriftsteller, hat Züge einer Heiner-Müller-Figur. Er sagt Sätze, die dem DDR-Dramatiker wie maßgeschneidert sind: „Das Gefühl abtrennen von sich und unters Mikroskop legen, darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten zwanzigsten Jahrhundert.“ Und Katharina resümiert nach einem Gespräch mit ihm, dass der Tod in Deutschland nicht das Ende, „sondern der Anfang von allem“ sei.
Die Liebe zwischen der jungen Kostüm- und Bühnenbildnerin Katharina und diesem lustvoll inszenierten Heiner-Müller-Imago spiegelt auf vertrackte Weise die Endzeitstimmung in den letzten Jahren der DDR wider. Sie ist eine utopische Entgrenzung, aber gleichzeitig durchtränkt vom Wissen um die Vergeblichkeit. Die sadomasochistischen Sex-Techniken, in die Hans Katharina einführt, wirken wie eine augenzwinkernde Bebilderung des Müller-Theaters: die Zurschaustellung des Körperlichen und der Triebe sowie die Ablehnung jeglicher Moral. Natürlich ist Hans W. eine suggestiv ausgedachte Kunstfigur und wird mit anderen biografischen Daten versehen als Heiner Müller, aber das gehört zum Spiel. Genauso, dass Heiner Müller selbst ein paar Mal am Rande des Romans auftaucht und beispielsweise der Pianist im „Ganymed“ ihm ähnlich sieht – das wirkt wie der Matrjoschka-Effekt, in dem sich die Puppen in der Puppe verstecken.
Jenny Erpenbeck stattet ihre Heldin Katharina außerdem mit erkennbaren autobiografischen Zügen, etwa das Alter und die konkrete theaterpraktische Tätigkeit in Frankfurt an der Oder aus und legt dadurch gewisse Fährten, die sie dann wieder verwischt. „Kairos“ ist keineswegs ein Schlüsselroman, sondern in erster Linie eine radikale Selbstvergewisserung der Autorin. Sie versucht, Zeugnis darüber abzulegen, wie sie die DDR erfahren hat und weshalb ihr die Bundesrepublik immer noch fremd erscheint – verallgemeinern lassen sich diese Gefühle jedoch nicht.
Jenny Erpenbeck stammt aus einer privilegierten Familie der DDR-Kultur. Ihre Großeltern waren Fritz Erpenbeck, der unter anderem als Leiter der Hauptabteilung Darstellende Kunst und Musik beim Ministerrat der DDR amtierte, sowie die als Schriftstellerin bekannte Hedda Zinner. Ihr Vater John Erpenbeck ist einer der namhaftesten Physiker und Wissenschaftler aus der DDR, und von ihm stammen offenkundig auch die Informationen über die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften, die im Roman eine große Rolle spielen und einen wehmütigen Abgesang auf die DDR instrumentieren. In alldem ist „Kairos“ eine aufschlussreiche Milieustudie: Es geht hier um die Innensicht der etablierten Kulturszene der DDR, die sich innerhalb des Systems bewegte und von den Repressionen, etwa nach der Biermann-Ausbürgerung, höchstens atmosphärisch etwas zu spüren bekam.
Sehr bezeichnend ist eine Moskaureise, die Katharina und Hans noch in der Gorbatschow-Ära unternehmen und die ein letzter, geglückter Moment ihrer Beziehung ist. Von den gesellschaftlichen Verwerfungen ist hier nirgendwo die Rede, stattdessen wird das sowjetisch-lebenspralle Moskau in glühenden Liebesfarben geschildert, wie man es sonst allenfalls bei amerikanischen Literaten über Paris findet. Realistisch ist in „Kairos“ weder das Moskau-Bild noch die Darstellung der DDR, und es ist hier nirgends zu ahnen, dass es die DDR-Bürger selber waren, die bei ihren ersten freien Wahlen 1990 mit 48,1 Prozent die „Allianz für Deutschland“ wählten, also Helmut Kohl und die Treuhandanstalt.
„Kairos“ ist trotzdem ein aufregend komponiertes Buch einer ästhetisch hochreflektierten Romanautorin. In ihrem szenischen Denken, den Tempowechseln und glänzend rhythmisierten Textpassagen zeigt sich im Übrigen auch Jenny Erpenbecks Affinität zur Musik und zur dramatischen Oper. Dass sie 1993 Heiner Müllers Assistentin bei seiner „Tristan und Isolde“-Inszenierung in Bayreuth war, erscheint nach diesem Roman umso schlüssiger.
In der Ostberliner Kulturszene
entstand eine eigene
Atmosphäre und Mentalität
Es ist kein Schlüsselroman,
sondern die radikale
Selbstvergewisserung der Autorin
Jenny Erpenbeck stammt, wie die Hauptfigur Katharina, aus einer kulturbegeisterten Familie in Ostberlin, sie kennt die Kunstszene der DDR also sehr gut.
Foto: Stefanie Preuin
Jenny Erpenbeck:
Kairos.
Roman.
Penguin-Verlag,
München 2021.
379 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dichter Gefühlsknäuel: Jenny Erpenbeck erzählt in „Kairos“
von einer Amour fou in der DDR
VON HELMUT BÖTTIGER
Es gab in der DDR eine Bohème, die mit westlichen Maßstäben nicht zu messen war. Im neuen Roman von Jenny Erpenbeck tauchen wie Codewörter Namen von Ostberliner Etablissements auf, die denselben Charakter annehmen wie die berühmten Pariser Cafés am Montparnasse – die „Offenbachstuben“ beispielsweise, das „Ermelerhaus“ oder natürlich das „Weinrestaurant Ganymed“ am Schiffbauerdamm, dessen Nasi-Goreng-Variante landesweit ausstrahlte und in dessen „Berner Butterbouillon“ ein Wachtelei schwamm. Darauf macht Hans, der um 34 Jahre ältere Schriftsteller, seine 19-jährige frisch eroberte Geliebte Katharina gleich aufmerksam: Es ist ein Teil ihres Glücks.
Erpenbecks Roman „Kairos“ ist ein Liebesroman und ein Roman über die späte DDR, und beide Stränge sind viel enger miteinander verbunden, als man am Anfang ahnt. Langsam entsteht ein dichter Gefühlsknäuel, und auch am Schluss bleibt davon noch ein unauflösbarer Rest. „Kairos“ umkreist etwas, was man im Westen nach 1989 allmählich zu ahnen begann und das dabei immer fremder und unverständlicher wurde: dass in der Ostberliner Kulturszene eine eigene Atmosphäre und Mentalität entstanden war, die den bundesdeutschen Selbstverständlichkeiten zuwiderlief.
Hans W., der rätselhafte Protagonist des Romans, ist einer jener widersprüchlichen, komplexen Charaktere, die die Kritik an den versteinerten Verhältnissen der DDR mit dem Festhalten an sozialistischen Vorstellungen verbinden. Den Privilegien, die ein nicht komplett dissidentischer Schriftsteller hat – festes Einkommen, garantierte Aufträge, die große gesellschaftliche Bedeutung von Literatur – stehen Zweifel, Desillusionierung und eher richtungslose private Suchbewegungen gegenüber. Seine Begegnung mit der jungen Katharina wird von Jenny Erpenbeck mit dramaturgisch raffiniert eingesetzten Mitteln als coup de foudre geschildert, ihre Beziehung als eine DDR-spezifische Amour fou. Der Marx-Engels-Platz, der 57er-Bus, der plötzlich einsetzende Regen und die S-Bahn-Brücke am Alex – die Stationen ihrer ersten Begegnung entwickeln einen eigenen Sog und werden leitmotivisch beschworen.
Diese Liebe steht unter besonderen Gesetzen. Es ist die Anziehung zwischen einem, der in den Fünfzigerjahren wegen seiner Überzeugungen bewusst aus dem Westen in die DDR gegangen ist, und einer Nachgeborenen, die das Leben in der DDR als selbstverständlich ansieht und deshalb nicht mehr in derselben Weise um den Sozialismus kämpft. Aber sie verkörpert so etwas wie die Hoffnung auf die Zukunft. Katharina ist mit den Idealen der frühen DDR-Kultur aufgewachsen, ihr Vater ist ein führender Kopf an der Akademie der Wissenschaften, und das Theater Brechts oder die Musik Hanns Eislers werden ihre Orientierungspunkte. In der hoch aufgeladenen ersten Liebesszene zwischen den Hauptfiguren am Abend nach jener Begegnung spielt das alles eine große Rolle, und im Assoziationsstrom Katharinas fällt mitten in die ersten Küsse hinein der berühmte Brecht-Satz: „Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund“. Es sind ganz eigene kulturelle Chiffren, die hier zitiert werden, und das Ineinander von Verführung und Sex mit den Klängen von Mozarts „Requiem“ vom Plattenspieler ist ein spezielles Exerzitium: Tod und Liebe, als die klassischen Ingredienzen der antiken Tragödie, werden aufeinander bezogen und bilden das beständige Hintergrundrauschen dieses Romans.
Qual und Lust, durch die Geschichtsmaschine gedreht wie durch einen Fleischwolf: die vielen Verweise auf Heiner Müller sind in „Kairos“ nicht zu übersehen. Hans, der Schriftsteller, hat Züge einer Heiner-Müller-Figur. Er sagt Sätze, die dem DDR-Dramatiker wie maßgeschneidert sind: „Das Gefühl abtrennen von sich und unters Mikroskop legen, darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten zwanzigsten Jahrhundert.“ Und Katharina resümiert nach einem Gespräch mit ihm, dass der Tod in Deutschland nicht das Ende, „sondern der Anfang von allem“ sei.
Die Liebe zwischen der jungen Kostüm- und Bühnenbildnerin Katharina und diesem lustvoll inszenierten Heiner-Müller-Imago spiegelt auf vertrackte Weise die Endzeitstimmung in den letzten Jahren der DDR wider. Sie ist eine utopische Entgrenzung, aber gleichzeitig durchtränkt vom Wissen um die Vergeblichkeit. Die sadomasochistischen Sex-Techniken, in die Hans Katharina einführt, wirken wie eine augenzwinkernde Bebilderung des Müller-Theaters: die Zurschaustellung des Körperlichen und der Triebe sowie die Ablehnung jeglicher Moral. Natürlich ist Hans W. eine suggestiv ausgedachte Kunstfigur und wird mit anderen biografischen Daten versehen als Heiner Müller, aber das gehört zum Spiel. Genauso, dass Heiner Müller selbst ein paar Mal am Rande des Romans auftaucht und beispielsweise der Pianist im „Ganymed“ ihm ähnlich sieht – das wirkt wie der Matrjoschka-Effekt, in dem sich die Puppen in der Puppe verstecken.
Jenny Erpenbeck stattet ihre Heldin Katharina außerdem mit erkennbaren autobiografischen Zügen, etwa das Alter und die konkrete theaterpraktische Tätigkeit in Frankfurt an der Oder aus und legt dadurch gewisse Fährten, die sie dann wieder verwischt. „Kairos“ ist keineswegs ein Schlüsselroman, sondern in erster Linie eine radikale Selbstvergewisserung der Autorin. Sie versucht, Zeugnis darüber abzulegen, wie sie die DDR erfahren hat und weshalb ihr die Bundesrepublik immer noch fremd erscheint – verallgemeinern lassen sich diese Gefühle jedoch nicht.
Jenny Erpenbeck stammt aus einer privilegierten Familie der DDR-Kultur. Ihre Großeltern waren Fritz Erpenbeck, der unter anderem als Leiter der Hauptabteilung Darstellende Kunst und Musik beim Ministerrat der DDR amtierte, sowie die als Schriftstellerin bekannte Hedda Zinner. Ihr Vater John Erpenbeck ist einer der namhaftesten Physiker und Wissenschaftler aus der DDR, und von ihm stammen offenkundig auch die Informationen über die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften, die im Roman eine große Rolle spielen und einen wehmütigen Abgesang auf die DDR instrumentieren. In alldem ist „Kairos“ eine aufschlussreiche Milieustudie: Es geht hier um die Innensicht der etablierten Kulturszene der DDR, die sich innerhalb des Systems bewegte und von den Repressionen, etwa nach der Biermann-Ausbürgerung, höchstens atmosphärisch etwas zu spüren bekam.
Sehr bezeichnend ist eine Moskaureise, die Katharina und Hans noch in der Gorbatschow-Ära unternehmen und die ein letzter, geglückter Moment ihrer Beziehung ist. Von den gesellschaftlichen Verwerfungen ist hier nirgendwo die Rede, stattdessen wird das sowjetisch-lebenspralle Moskau in glühenden Liebesfarben geschildert, wie man es sonst allenfalls bei amerikanischen Literaten über Paris findet. Realistisch ist in „Kairos“ weder das Moskau-Bild noch die Darstellung der DDR, und es ist hier nirgends zu ahnen, dass es die DDR-Bürger selber waren, die bei ihren ersten freien Wahlen 1990 mit 48,1 Prozent die „Allianz für Deutschland“ wählten, also Helmut Kohl und die Treuhandanstalt.
„Kairos“ ist trotzdem ein aufregend komponiertes Buch einer ästhetisch hochreflektierten Romanautorin. In ihrem szenischen Denken, den Tempowechseln und glänzend rhythmisierten Textpassagen zeigt sich im Übrigen auch Jenny Erpenbecks Affinität zur Musik und zur dramatischen Oper. Dass sie 1993 Heiner Müllers Assistentin bei seiner „Tristan und Isolde“-Inszenierung in Bayreuth war, erscheint nach diesem Roman umso schlüssiger.
In der Ostberliner Kulturszene
entstand eine eigene
Atmosphäre und Mentalität
Es ist kein Schlüsselroman,
sondern die radikale
Selbstvergewisserung der Autorin
Jenny Erpenbeck stammt, wie die Hauptfigur Katharina, aus einer kulturbegeisterten Familie in Ostberlin, sie kennt die Kunstszene der DDR also sehr gut.
Foto: Stefanie Preuin
Jenny Erpenbeck:
Kairos.
Roman.
Penguin-Verlag,
München 2021.
379 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2021Das Gefühl unters Mikroskop legen
Jenny Erpenbecks "Kairos" erzählt von einer folgenreichen Liaison in der untergehenden DDR
Auf der Schwelle vor der Wohnung wartet Katharina auf Hans. Es ist schon nach Mitternacht, aber den Schlüssel hat er, nur er, und weil es 1986 ist und kein Telefon zur Hand, macht sie sich wartend Gedanken über ihren Platz in seinem Leben und in der Welt. Er sitzt in der Bar. Er will nicht nach Hause, will trinken, um zu vergessen, denkt, er wäre in dieser Nacht allein. Ohne sie ist die Wohnung wertlos und er in dieser Welt verloren. Sie wartet Stunden, dann kommt er betrunken die Treppe herauf. Versöhnung. Am nächsten Tag scheint alles vergessen. Die Mitte des Romans ist beinah erreicht, und im nächtlichen Aneinandervorbeisitzen der beiden hat sich, zunächst als kleiner Riss, der Abgrund angedeutet.
Zum Überleben benötigt die Liebe romantisches Kapital. Als wir uns das erste Mal sahen. Unser erster gemeinsamer Weg im Regen. Die Begleitmusik unseres Begehrens. Wie du beim Lesen in meinem Schoß lagst, beim Denken den Kopf hältst. Diese Liebe ist noch dazu eine ganz besondere, weil sie verboten ist: eine kaum erwachsen gewordene Frau, ein verheirateter Schriftsteller über fünfzig. Von dem Moment an, als sich ihre Blicke treffen im Bus, haben sie sich einander versprochen. Und weil alles so geheim ist, gibt es besonders viel anekdotisches Material, das sich zelebrieren lässt auf Papier und in den charaktervollsten Lokalen im Ostberlin der Vorwendezeit, denn Hans ist ein erfolgreicher Schriftsteller, kein Dissident.
"Kairos", das ist der Gott des glücklichen Zeitpunkts, der nur für einen Moment an seiner Haarlocke zu fassen ist. Als sie das erste Mal miteinander schlafen, hören sie Mozarts Requiem. "Wir dürfen uns nicht unglücklich machen", sagt Hans. Da schon verbinden sich Tod und Liebe nach alter Tragödienmanier, und obwohl sich hier schon das Ende andeutet für Katharina und Hans und die Leser, will es niemand von ihnen sehen, wollen alle lieber drinnen statt draußen sein, auch so ein Leitmotiv des Romans, und wie ein Liebender liest man hinweg über die eingestreute Saat des Zweifels: "Ungebrochen ist sie, irgendwie sauber. Wäre sie anders, würde er sie auch nicht so begehren, und nicht auf diese Weise."
Was für eine alte, bekannte Story. Was für eine Aufgabe, eine solche Geschichte mit neuen Metaphern zu füllen, sie unvorhersehbar werden zu lassen und einzigartig in ihrer Tragik. Jenny Erpenbeck, 1967 in Ostberlin geboren, wurde schon "Meisterin der Prosapräzision" genannt, ihre literarische Arbeit immer wieder ausgezeichnet. Wir lernen: Ein Museumsbesuch muss an keiner Stelle vom Museum handeln, er kann mit dem Satz "Aus den Nüstern der Rosse des Todes schnaubt Finsternis" beginnen und sich wie ein Abenteuer unter Göttern lesen. Man hat ihr Schreiben mit Orchestermusik verglichen, wegen der präzisen Arbeit an Rhythmus und Tempo und ihres Blicks für Details. So ist es auch jetzt wieder. Beinahe wünscht man sich, alles Erinnerungswürdige aus diesen Jahren würde in der Sprache dieser Autorin festgehalten, um sie den Generationen, die nachkommen, in gleichbleibender Intensität zu präsentieren.
Denn die Geschichte spielt im Ostberlin der Wendezeit, mit Blick auf den leeren Mauerstreifen. Katharina lernt im Staatsverlag Setzerin, später will sie an die Kunsthochschule. Hans' Vater war begeisterter Nazi, als Kind hat Hans die Ideologie aufgesogen, später ging er freiwillig in die DDR. Er lehrt Katharina die Musik von Hanns Eisler, spielt ihr vor, wie Ernst Busch sang, lange bevor sie geboren wurde, erklärt ihr Brechts Theater, denkt an die letzten Worte des tragischen Lenin-Gefährten Bucharin: "Wenn du stirbst, wofür stirbst du?" Das Kapital ihrer Liebe schöpft aus einer Ostberliner Bohème, die ihren eigenen Dynamiken folgt, deren Vokabeln und Referenzen vielen bereits dreißig Jahre später fremd sind, es aber verdient haben, erinnert zu werden. Das von ihnen wenig beachtete Gesellschaftssystem um sie herum zerfällt in der Geschwindigkeit, in der auch ihr Glück vergeht, und jetzt wünscht man sich doch, von draußen auf sie blicken zu können, nicht schon so weit drinnen zu sein.
Für alle den richtigen Ton zu treffen ist auch so eine Aufgabe, für die Großmutter und den Nazivater (geht uns alles nichts an), für die sehr junge Frau, die niemals naiv, nur lebenshungrig klingt, die mutig ihren West-Urlaub verlängert, aber nur um eine Stunde, die Hans als unpolitisch beschreibt, als Angehörige einer neuen Zeit - oft stehen ihre Stimmen gleichberechtigt beieinander -, die süchtig danach ist, ihn süchtig zu machen, und immerzu die Warnungen der Freunde ignoriert. Weil jene doch nicht verstehen, was sie da erlebt und wie schwer die Liebe wiegen kann. "Was willst du denn mit so einem, das hat doch keine Zukunft."
Im ersten Sommer sucht Katharina Hans heimlich im Familienurlaub auf, spricht ihn am Strand an, während Frau und Sohn gerade baden. Im zweiten Jahr hat sich sein Blick verändert, das Hochgefühl der gelungenen Überraschung ist weg. Und der kluge Hans, der schon ein Leben gelebt und einige Frauen unglücklich gemacht hat, der weiß, dass es die Ehe ist, aus der sich seine Liebschaften nähren, der sich wünscht, das Gefühl abzutrennen und unters Mikroskop zu legen - "darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten 20. Jahrhundert" -, auch er hält immerzu vergeblich fest.
Jenny Erpenbeck stammt selbst aus einer DDR-Schriftstellerfamilie. Dass ihr Hans Züge des Schriftstellers Heiner Müller trägt und der wie ein Geist durch ihren Roman wandelt, etwa als Erinnerung beim Anblick eines Pianisten in einem Lokal, dass Katharina und die Autorin sich in manch beruflicher Entscheidung ähneln, das alles lässt sich mit Interesse und Neugier zur Kenntnis nehmen. Wie es ihr gelingt, einen Moment der Zeitgeschichte in einer so bedrückenden wie faszinierenden Beziehung zu kondensieren, ist das eigentliche Geheimnis dieses Romans. ELENA WITZECK.
Jenny Erpenbeck: "Kairos". Roman.
Penguin Verlag, München 2021. 384 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jenny Erpenbecks "Kairos" erzählt von einer folgenreichen Liaison in der untergehenden DDR
Auf der Schwelle vor der Wohnung wartet Katharina auf Hans. Es ist schon nach Mitternacht, aber den Schlüssel hat er, nur er, und weil es 1986 ist und kein Telefon zur Hand, macht sie sich wartend Gedanken über ihren Platz in seinem Leben und in der Welt. Er sitzt in der Bar. Er will nicht nach Hause, will trinken, um zu vergessen, denkt, er wäre in dieser Nacht allein. Ohne sie ist die Wohnung wertlos und er in dieser Welt verloren. Sie wartet Stunden, dann kommt er betrunken die Treppe herauf. Versöhnung. Am nächsten Tag scheint alles vergessen. Die Mitte des Romans ist beinah erreicht, und im nächtlichen Aneinandervorbeisitzen der beiden hat sich, zunächst als kleiner Riss, der Abgrund angedeutet.
Zum Überleben benötigt die Liebe romantisches Kapital. Als wir uns das erste Mal sahen. Unser erster gemeinsamer Weg im Regen. Die Begleitmusik unseres Begehrens. Wie du beim Lesen in meinem Schoß lagst, beim Denken den Kopf hältst. Diese Liebe ist noch dazu eine ganz besondere, weil sie verboten ist: eine kaum erwachsen gewordene Frau, ein verheirateter Schriftsteller über fünfzig. Von dem Moment an, als sich ihre Blicke treffen im Bus, haben sie sich einander versprochen. Und weil alles so geheim ist, gibt es besonders viel anekdotisches Material, das sich zelebrieren lässt auf Papier und in den charaktervollsten Lokalen im Ostberlin der Vorwendezeit, denn Hans ist ein erfolgreicher Schriftsteller, kein Dissident.
"Kairos", das ist der Gott des glücklichen Zeitpunkts, der nur für einen Moment an seiner Haarlocke zu fassen ist. Als sie das erste Mal miteinander schlafen, hören sie Mozarts Requiem. "Wir dürfen uns nicht unglücklich machen", sagt Hans. Da schon verbinden sich Tod und Liebe nach alter Tragödienmanier, und obwohl sich hier schon das Ende andeutet für Katharina und Hans und die Leser, will es niemand von ihnen sehen, wollen alle lieber drinnen statt draußen sein, auch so ein Leitmotiv des Romans, und wie ein Liebender liest man hinweg über die eingestreute Saat des Zweifels: "Ungebrochen ist sie, irgendwie sauber. Wäre sie anders, würde er sie auch nicht so begehren, und nicht auf diese Weise."
Was für eine alte, bekannte Story. Was für eine Aufgabe, eine solche Geschichte mit neuen Metaphern zu füllen, sie unvorhersehbar werden zu lassen und einzigartig in ihrer Tragik. Jenny Erpenbeck, 1967 in Ostberlin geboren, wurde schon "Meisterin der Prosapräzision" genannt, ihre literarische Arbeit immer wieder ausgezeichnet. Wir lernen: Ein Museumsbesuch muss an keiner Stelle vom Museum handeln, er kann mit dem Satz "Aus den Nüstern der Rosse des Todes schnaubt Finsternis" beginnen und sich wie ein Abenteuer unter Göttern lesen. Man hat ihr Schreiben mit Orchestermusik verglichen, wegen der präzisen Arbeit an Rhythmus und Tempo und ihres Blicks für Details. So ist es auch jetzt wieder. Beinahe wünscht man sich, alles Erinnerungswürdige aus diesen Jahren würde in der Sprache dieser Autorin festgehalten, um sie den Generationen, die nachkommen, in gleichbleibender Intensität zu präsentieren.
Denn die Geschichte spielt im Ostberlin der Wendezeit, mit Blick auf den leeren Mauerstreifen. Katharina lernt im Staatsverlag Setzerin, später will sie an die Kunsthochschule. Hans' Vater war begeisterter Nazi, als Kind hat Hans die Ideologie aufgesogen, später ging er freiwillig in die DDR. Er lehrt Katharina die Musik von Hanns Eisler, spielt ihr vor, wie Ernst Busch sang, lange bevor sie geboren wurde, erklärt ihr Brechts Theater, denkt an die letzten Worte des tragischen Lenin-Gefährten Bucharin: "Wenn du stirbst, wofür stirbst du?" Das Kapital ihrer Liebe schöpft aus einer Ostberliner Bohème, die ihren eigenen Dynamiken folgt, deren Vokabeln und Referenzen vielen bereits dreißig Jahre später fremd sind, es aber verdient haben, erinnert zu werden. Das von ihnen wenig beachtete Gesellschaftssystem um sie herum zerfällt in der Geschwindigkeit, in der auch ihr Glück vergeht, und jetzt wünscht man sich doch, von draußen auf sie blicken zu können, nicht schon so weit drinnen zu sein.
Für alle den richtigen Ton zu treffen ist auch so eine Aufgabe, für die Großmutter und den Nazivater (geht uns alles nichts an), für die sehr junge Frau, die niemals naiv, nur lebenshungrig klingt, die mutig ihren West-Urlaub verlängert, aber nur um eine Stunde, die Hans als unpolitisch beschreibt, als Angehörige einer neuen Zeit - oft stehen ihre Stimmen gleichberechtigt beieinander -, die süchtig danach ist, ihn süchtig zu machen, und immerzu die Warnungen der Freunde ignoriert. Weil jene doch nicht verstehen, was sie da erlebt und wie schwer die Liebe wiegen kann. "Was willst du denn mit so einem, das hat doch keine Zukunft."
Im ersten Sommer sucht Katharina Hans heimlich im Familienurlaub auf, spricht ihn am Strand an, während Frau und Sohn gerade baden. Im zweiten Jahr hat sich sein Blick verändert, das Hochgefühl der gelungenen Überraschung ist weg. Und der kluge Hans, der schon ein Leben gelebt und einige Frauen unglücklich gemacht hat, der weiß, dass es die Ehe ist, aus der sich seine Liebschaften nähren, der sich wünscht, das Gefühl abzutrennen und unters Mikroskop zu legen - "darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten 20. Jahrhundert" -, auch er hält immerzu vergeblich fest.
Jenny Erpenbeck stammt selbst aus einer DDR-Schriftstellerfamilie. Dass ihr Hans Züge des Schriftstellers Heiner Müller trägt und der wie ein Geist durch ihren Roman wandelt, etwa als Erinnerung beim Anblick eines Pianisten in einem Lokal, dass Katharina und die Autorin sich in manch beruflicher Entscheidung ähneln, das alles lässt sich mit Interesse und Neugier zur Kenntnis nehmen. Wie es ihr gelingt, einen Moment der Zeitgeschichte in einer so bedrückenden wie faszinierenden Beziehung zu kondensieren, ist das eigentliche Geheimnis dieses Romans. ELENA WITZECK.
Jenny Erpenbeck: "Kairos". Roman.
Penguin Verlag, München 2021. 384 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein mitreißender Roman über das Ausgesetztsein in der Liebe und den richtigen Moment im Leben.« SWR lesenswert, Denis Scheck