Eine fulminante Gesamtdarstellung und Neudeutung des wilhelminischen Reichs, über die man lange diskutieren wird. Mit großem Weitblick erzählt und deutet Rainer F. Schmidt die Geschichte vom Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs im europäischen Zusammenhang: die längst überfällige, glänzend geschriebene Darstellung und Neuinterpretation des wilhelminischen Deutschlands auf seinem Weg – bis hin zu seinem Ende im Ersten Weltkrieg. Das wilhelminische Kaiserreich steht bis heute in keinem guten Ruf. Kryptoabsolutismus, Sonderweg und Weltmachtstreben – so lauten die Etiketten, die ihm angeklebt werden. Ein irrlichternder Kaiser, unfähige Kanzler, Welt- und Flottenpolitik nach außen und die zähe Verteidigung der Vorherrschaft der alten Eliten im Innern: All das führte auf den Weg, der im Ersten Weltkrieg endete und den eigenen Untergang besiegelte. Rainer Schmidts glänzend geschriebene Darstellung bietet eine alternative Sichtweise zu diesem gängigen Bild. Umfassend beschreibt er das wilhelminische Reich in seinen wichtigsten Strukturen, aber auch in seinen modernen Elementen. In einem grandiosen Panorama schildert und deutet der Autor die internationalen Beziehungen zwischen 1890 und 1918 nicht monokausal von Berlin her, sondern bettet sie in den gesamteuropäischen Kontext ein. Dabei ergibt sich der Befund einer komplexen Gemengelage, die 1914 in den Krieg mündete: eigene Fehleinschätzungen, die Berlin in die Isolation führten, aber auch eine gezielte Einkreisungs- und Erpressungsstrategie der anderen Mächte, womit die große Katastrophe unausweichlich wurde. Eine fulminante Gesamtdarstellung und brisante Neuinterpretation einer der umstrittensten Epochen der deutschen Geschichte, über die man lange diskutieren wird.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Gerd Krumeich hätte sich von Rainer F. Schmidt ein Buch über die internationalen Beziehungen zwischen 1890 und 1919 gewünscht, das durchaus einen konservativen Standpunkt vertritt, aber doch ausgewogener auf die deutsch-französischen Beziehungen eingeht und die Forschungsiteratur stärker einbezieht. Schmidts Darstellung leidet laut Rezensent unter karger quellenmäßiger Ausstattung, manch falscher Zahl und vor allem unter den "marktschreierisch" vorgetragenen einseitigen Thesen des Autors zum Revanchismus der Franzosen und zur Rolle des Versailler Vertrags als "Urkatastrophe". Spannende Überlegungen im Buch, wie die zur "wilhelminischen Erpressungspolitik" gegenüber Frankreich, gehen dabei unter, bedauert Krumeich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2021Raymond Poincaré heißt der große Bösewicht
Rainer Schmidt unternimmt eine Darstellung der internationalen Beziehungen zwischen 1890 und 1919 und formuliert dabei manche kernige These
Das ist ein merkwürdiges und schwieriges Buch. Schwierig, die fast neunhundert Seiten überhaupt zu sortieren; schwierig, und oft unmöglich, die vielen ebenso kernigen wie unkonventionellen Thesen nachzuvollziehen und nachzuzeichnen. Rainer Schmidt hat nichts weniger als eine Gesamtdarstellung der internationalen Beziehungen in der Zeit von 1890 bis 1919 versucht. Aber mehr als zweihundert Seiten befassen sich allein mit dem Wilhelminismus, mit der Geschichte der deutschen Innenpolitik von 1890 bis 1914. Zwar betont der Autor, dass die Außenpolitik in diese hineinspiele und deren Analyse deshalb wichtig sei, aber eine solche Interdependenz kann der Rezensent nicht sehen.
Schmidt ist unbedingter Bismarck-Verehrer. Was nach dem großen Mann kam, war Epigonentum, und keiner der verantwortlichen Politiker, von Caprivi über Hohenlohe bis Bülow und Bethmann, hatte für ihn staatsmännisches Format. Dessen hätte es aber bedurft, um der allmählich enger werdenden Einkreisung durch die anderen Mächte zu widerstehen. Denn Deutschland sei gezielt eingekreist worden, auch wenn es wegen der Ungeschicklichkeit seiner Politiker auch eine Art Selbstauskreisung aus dem Mächtekonzert gegeben habe.
Schmidt will mit diesem Buch offensichtlich ein größeres, historisch interessiertes Publikum ansprechen. Dazu dienen die Anekdoten, mit denen nahezu jedes Kapitel eingeleitet wird. Insgesamt wohl hundert Seiten werden für Quisquilien wie Gortschakows Erotomanie oder die Psychologie der Grauen Eminenz Holstein und die Abseitigkeiten Wilhelms II. verbraucht.
Das Werk hat wissenschaftlichen Anspruch, ist aber quellenmäßig doch recht karg ausgestattet. Die Forschungsliteratur wird oft gar nicht, oft nur zum kleinen Teil, rezipiert und eigentlich nie diskutiert, sieht man einmal von den ständigen Nebenbemerkungen gegen Wehler, Nipperdey, Mommsen und andere "kritische" Historiker ab. Wichtige Zusammenhänge, wie etwa die Dreyfus-Affäre mit ihren Konsequenzen für den Antisemitismus, kommen mit wenig Literatur aus, für die Zabern-Affäre von 1913, der so gut untersuchte Höhepunkt des preußischen Militarismus, sucht man vergeblich Referenzen. Nur im Kapitel über die Julikrise von 1914 ist intensive Arbeit auch mit nicht gedruckten Quellen erkennbar.
Einige grobe Fehler seien hier noch vermerkt: Deutschland hatte im Ersten Weltkrieg keineswegs sieben Millionen Kriegstote, darunter wohl "760 000 Zivilisten", die durch die alliierte Hungerblockade umgekommen sind - wo hat der Autor nur diese fantastischen Zahlen her? Und das deutsche Wehrgesetz von 1913 war keineswegs die Konsequenz einer französischen "Wehrpflicht"-Verlängerung. Beide Gesetze kamen ungefähr gleichzeitig und wurden jeweils mit den Aggressionsabsichten des Nachbarn begründet.
Das Buch setzt mit einer Kurzfassung der in ihm vorgetragenen Thesen ein: Frankreich habe seit 1871 im Grunde nichts im Sinn gehabt als die "Revanche" für die Niederlage und die Annexion von Elsass-Lothringen. Clemenceau, führender Politiker der republikanischen Linken, habe sich 1871 geschworen, die Niederlage zu rächen und habe das konsequent durchgeführt. Außerdem sei er der Meinung gewesen, dass es "zwanzig Millionen Deutsche zu viel gebe". Es stimmt, diese Behauptung war in den Zwanzigerjahren in aller Munde und kommt in vielen Hitler-Reden vor. Belegt aber ist sie nicht, auch nicht von Schmidt.
Im Fokus der Darstellung steht dann der Versailler Vertrag von 1919, für Schmidt die "Urkatastrophe" des totalitären Zeitalters. Der "kurzfristige Eifer" der Sieger habe das Klima von Rache und Vergeltung geschaffen, woraus sich dann der Aufstieg der Nationalsozialisten mit allen Konsequenzen ergab. Der Ungeist von Versailles sei die Verlängerung der hemmungslosen Hasspropaganda der Alliierten während des Krieges gewesen. Ganz unrecht hat Schmidt damit nicht, und Versailles war in der Tat eine Katastrophe für die internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit. Aber seine Argumente sind hier, wie im ganzen Buch, immer dick aufgetragen, oft marktschreierisch, zudem von einer großen Einseitigkeit. Kein Wort verliert der Autor darüber, dass deutsche Truppen vier Jahre lang Nordfrankreich besetzt hatten und dass sie für die Franzosen eindeutig schuld daran waren, dass 1919 vierzehn Departements Frankreichs in Schutt und Asche lagen.
Trotzdem wird man dann immer wieder überrascht von überlegenswerten und stringenten Überlegungen und Thesen. Etwa im Fall von Schmidts Kritik an Politikern des Wilhelminismus, die im internationalen Verkehr so ziemlich alles falsch gemacht hätten. Auch an seine Ausführungen zu länderspezifischen Psychosen lässt sich anknüpfen, ebenso an seine Darstellung der Entstehung der wilhelminischen Erpressungspolitik gegenüber England und Frankreich, insbesondere der Flottenpolitik von Tirpitz, die das übermächtige England verhandlungswillig machen sollte. Interessant, gut getroffen und überaus lesbar sind auch die Ausführungen über den "ziellosen Imperialismus" der zu spät kommenden deutschen "Weltpolitik" in einer bereits unter den Großmächten verteilten Dritten Welt. Das nimmt genau die Forschung der vom Autor so ungeliebten "kritischen Historiker" wieder auf. Aber einen Verweis auf deren Arbeiten findet man nicht.
Schmidts Schilderung der Mentalitäten und Handlungsprogramme des "Zeitalters des Imperialismus" wäre nachvollziehbar, wäre da nicht der immer wiederkehrende Topos vom russisch-französischen Bündnis und dem alles überschattenden Revanche-Gedanken der Franzosen, der dann 1914 seine Erfüllung gefunden habe. Da hat Schmidt die Literatur nicht zur Kenntnis genommen, die nachweist, dass die "Revanche" in Frankreich seit den 1900er-Jahren keine Rolle mehr spielte, wenngleich natürlich die Wegnahme von Elsass-Lothringen immer schmerzte und nicht von ungefähr ein Kriegsziel ersten Ranges wurde.
Der große Bösewicht in diesem Buch ist Raymond Poincaré, 1912 Außenminister und seit Januar 1913 französischer Staatspräsident. Er ist, kurz gefasst, an allem schuld. Wenn der Autor im eigentlich lesenswerten Kapitel über die Julikrise von 1914 zugesteht, dass Deutschland den Krieg entfesselt hat, so doch nur unter der Voraussetzung, dass Poincaré ihn gewollt und zielstrebig mit allen Tricks und Raffinessen vorbereitet hatte. Natürlich wollte Poincaré dem deutschen Druck widerstehen, wollte das Bündnis mit Russland wieder stark machen, wollte auch England auf Frankreichs Seite ziehen. Er kannte ja die Konturen des deutschen Aufmarschplans (Schlieffenplan) und wusste genau, dass Deutschland das deutlich schwächere Frankreich schlagen wollte, bevor es sich gegen Russland mit seiner langsameren Mobilmachung wenden konnte. Aber Schmidt sieht das alles nur unter dem Gesichtspunkt einer kontinuierlichen Politik der Einkreisung und Vernichtung Deutschlands, er kommt gar nicht auf die Idee, dass es Poincaré vor allem um die Sicherstellung von Frankreichs Verteidigung ging. Die Risiken einer solchen Politik sind offensichtlich und werden auch seit bald hundert Jahren diskutiert. Aber Schmidt schreibt, an der einschlägigen Forschung vorbei, fast wie im deutschnationalen Duktus der 1920er-Jahre.
Zum Abschluss, nach einem kurzen Kapitel über den Weltkrieg, noch einmal das Fanal: Die Alliierten und "Versailles" haben Europa die große Katastrophe des Nationalsozialismus eingebrockt.
Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen, denn ein brauchbares Buch über die behandelte Zeit, geschrieben vom konservativen Standpunkt aus, fehlt eigentlich. Aber so geht es nicht, wirklich nicht. GERD KRUMEICH
Rainer F. Schmidt: "Kaiserdämmerung". Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 878 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Schmidt unternimmt eine Darstellung der internationalen Beziehungen zwischen 1890 und 1919 und formuliert dabei manche kernige These
Das ist ein merkwürdiges und schwieriges Buch. Schwierig, die fast neunhundert Seiten überhaupt zu sortieren; schwierig, und oft unmöglich, die vielen ebenso kernigen wie unkonventionellen Thesen nachzuvollziehen und nachzuzeichnen. Rainer Schmidt hat nichts weniger als eine Gesamtdarstellung der internationalen Beziehungen in der Zeit von 1890 bis 1919 versucht. Aber mehr als zweihundert Seiten befassen sich allein mit dem Wilhelminismus, mit der Geschichte der deutschen Innenpolitik von 1890 bis 1914. Zwar betont der Autor, dass die Außenpolitik in diese hineinspiele und deren Analyse deshalb wichtig sei, aber eine solche Interdependenz kann der Rezensent nicht sehen.
Schmidt ist unbedingter Bismarck-Verehrer. Was nach dem großen Mann kam, war Epigonentum, und keiner der verantwortlichen Politiker, von Caprivi über Hohenlohe bis Bülow und Bethmann, hatte für ihn staatsmännisches Format. Dessen hätte es aber bedurft, um der allmählich enger werdenden Einkreisung durch die anderen Mächte zu widerstehen. Denn Deutschland sei gezielt eingekreist worden, auch wenn es wegen der Ungeschicklichkeit seiner Politiker auch eine Art Selbstauskreisung aus dem Mächtekonzert gegeben habe.
Schmidt will mit diesem Buch offensichtlich ein größeres, historisch interessiertes Publikum ansprechen. Dazu dienen die Anekdoten, mit denen nahezu jedes Kapitel eingeleitet wird. Insgesamt wohl hundert Seiten werden für Quisquilien wie Gortschakows Erotomanie oder die Psychologie der Grauen Eminenz Holstein und die Abseitigkeiten Wilhelms II. verbraucht.
Das Werk hat wissenschaftlichen Anspruch, ist aber quellenmäßig doch recht karg ausgestattet. Die Forschungsliteratur wird oft gar nicht, oft nur zum kleinen Teil, rezipiert und eigentlich nie diskutiert, sieht man einmal von den ständigen Nebenbemerkungen gegen Wehler, Nipperdey, Mommsen und andere "kritische" Historiker ab. Wichtige Zusammenhänge, wie etwa die Dreyfus-Affäre mit ihren Konsequenzen für den Antisemitismus, kommen mit wenig Literatur aus, für die Zabern-Affäre von 1913, der so gut untersuchte Höhepunkt des preußischen Militarismus, sucht man vergeblich Referenzen. Nur im Kapitel über die Julikrise von 1914 ist intensive Arbeit auch mit nicht gedruckten Quellen erkennbar.
Einige grobe Fehler seien hier noch vermerkt: Deutschland hatte im Ersten Weltkrieg keineswegs sieben Millionen Kriegstote, darunter wohl "760 000 Zivilisten", die durch die alliierte Hungerblockade umgekommen sind - wo hat der Autor nur diese fantastischen Zahlen her? Und das deutsche Wehrgesetz von 1913 war keineswegs die Konsequenz einer französischen "Wehrpflicht"-Verlängerung. Beide Gesetze kamen ungefähr gleichzeitig und wurden jeweils mit den Aggressionsabsichten des Nachbarn begründet.
Das Buch setzt mit einer Kurzfassung der in ihm vorgetragenen Thesen ein: Frankreich habe seit 1871 im Grunde nichts im Sinn gehabt als die "Revanche" für die Niederlage und die Annexion von Elsass-Lothringen. Clemenceau, führender Politiker der republikanischen Linken, habe sich 1871 geschworen, die Niederlage zu rächen und habe das konsequent durchgeführt. Außerdem sei er der Meinung gewesen, dass es "zwanzig Millionen Deutsche zu viel gebe". Es stimmt, diese Behauptung war in den Zwanzigerjahren in aller Munde und kommt in vielen Hitler-Reden vor. Belegt aber ist sie nicht, auch nicht von Schmidt.
Im Fokus der Darstellung steht dann der Versailler Vertrag von 1919, für Schmidt die "Urkatastrophe" des totalitären Zeitalters. Der "kurzfristige Eifer" der Sieger habe das Klima von Rache und Vergeltung geschaffen, woraus sich dann der Aufstieg der Nationalsozialisten mit allen Konsequenzen ergab. Der Ungeist von Versailles sei die Verlängerung der hemmungslosen Hasspropaganda der Alliierten während des Krieges gewesen. Ganz unrecht hat Schmidt damit nicht, und Versailles war in der Tat eine Katastrophe für die internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit. Aber seine Argumente sind hier, wie im ganzen Buch, immer dick aufgetragen, oft marktschreierisch, zudem von einer großen Einseitigkeit. Kein Wort verliert der Autor darüber, dass deutsche Truppen vier Jahre lang Nordfrankreich besetzt hatten und dass sie für die Franzosen eindeutig schuld daran waren, dass 1919 vierzehn Departements Frankreichs in Schutt und Asche lagen.
Trotzdem wird man dann immer wieder überrascht von überlegenswerten und stringenten Überlegungen und Thesen. Etwa im Fall von Schmidts Kritik an Politikern des Wilhelminismus, die im internationalen Verkehr so ziemlich alles falsch gemacht hätten. Auch an seine Ausführungen zu länderspezifischen Psychosen lässt sich anknüpfen, ebenso an seine Darstellung der Entstehung der wilhelminischen Erpressungspolitik gegenüber England und Frankreich, insbesondere der Flottenpolitik von Tirpitz, die das übermächtige England verhandlungswillig machen sollte. Interessant, gut getroffen und überaus lesbar sind auch die Ausführungen über den "ziellosen Imperialismus" der zu spät kommenden deutschen "Weltpolitik" in einer bereits unter den Großmächten verteilten Dritten Welt. Das nimmt genau die Forschung der vom Autor so ungeliebten "kritischen Historiker" wieder auf. Aber einen Verweis auf deren Arbeiten findet man nicht.
Schmidts Schilderung der Mentalitäten und Handlungsprogramme des "Zeitalters des Imperialismus" wäre nachvollziehbar, wäre da nicht der immer wiederkehrende Topos vom russisch-französischen Bündnis und dem alles überschattenden Revanche-Gedanken der Franzosen, der dann 1914 seine Erfüllung gefunden habe. Da hat Schmidt die Literatur nicht zur Kenntnis genommen, die nachweist, dass die "Revanche" in Frankreich seit den 1900er-Jahren keine Rolle mehr spielte, wenngleich natürlich die Wegnahme von Elsass-Lothringen immer schmerzte und nicht von ungefähr ein Kriegsziel ersten Ranges wurde.
Der große Bösewicht in diesem Buch ist Raymond Poincaré, 1912 Außenminister und seit Januar 1913 französischer Staatspräsident. Er ist, kurz gefasst, an allem schuld. Wenn der Autor im eigentlich lesenswerten Kapitel über die Julikrise von 1914 zugesteht, dass Deutschland den Krieg entfesselt hat, so doch nur unter der Voraussetzung, dass Poincaré ihn gewollt und zielstrebig mit allen Tricks und Raffinessen vorbereitet hatte. Natürlich wollte Poincaré dem deutschen Druck widerstehen, wollte das Bündnis mit Russland wieder stark machen, wollte auch England auf Frankreichs Seite ziehen. Er kannte ja die Konturen des deutschen Aufmarschplans (Schlieffenplan) und wusste genau, dass Deutschland das deutlich schwächere Frankreich schlagen wollte, bevor es sich gegen Russland mit seiner langsameren Mobilmachung wenden konnte. Aber Schmidt sieht das alles nur unter dem Gesichtspunkt einer kontinuierlichen Politik der Einkreisung und Vernichtung Deutschlands, er kommt gar nicht auf die Idee, dass es Poincaré vor allem um die Sicherstellung von Frankreichs Verteidigung ging. Die Risiken einer solchen Politik sind offensichtlich und werden auch seit bald hundert Jahren diskutiert. Aber Schmidt schreibt, an der einschlägigen Forschung vorbei, fast wie im deutschnationalen Duktus der 1920er-Jahre.
Zum Abschluss, nach einem kurzen Kapitel über den Weltkrieg, noch einmal das Fanal: Die Alliierten und "Versailles" haben Europa die große Katastrophe des Nationalsozialismus eingebrockt.
Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen, denn ein brauchbares Buch über die behandelte Zeit, geschrieben vom konservativen Standpunkt aus, fehlt eigentlich. Aber so geht es nicht, wirklich nicht. GERD KRUMEICH
Rainer F. Schmidt: "Kaiserdämmerung". Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 878 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Rainer F. Schmidt ist ein guter Erzähler, der auch bei einem Buch mit wissenschaftlichem Anspruch seine Leserinnen und Leser mitnimmt, ihr Interesse weckt, und sie mit vielen Einzelheiten und Anekdoten auch gut unterhält. [...] Für historisch und politisch interessierte Leser eine echte Fundgrube - und dazu auch noch wirklich gut zu lesen.« Andreas Kurth, Sachbuch-Couch, März 2023 Andreas Kurth Sachbuch Couch 20230331