Lucas Rijnevelds lyrisches Universum ist unnachahmlich und doch so vertraut. Seine Gedichte sind bevölkert von Fröschen, Schmetterlingen und Seesternen, von Vätern, denen schwierige Fragen gestellt werden – »Wo kommen Kinder her, wenn Eltern sich nie küssen?« –, von unsterblichen Großmüttern und Jugendlichen auf ihrem Weg zu einer belastbaren Identität. Und doch scheint nichts belastbar in diesem Kosmos aus zarten Begegnungen und erschütternden Einsichten über Leben und Ableben: Erheiterndes wird tragisch, Statisches kommt ins Wanken, das Unsichtbare greift unvermittelt an.
Diese erdigen wie geerdeten Gedichte erzeugen bildstark Szenen einer éducation sentimentale: Das Aufblühen der Sexualität und animistische Tierkörper treffen hier auf religiöse Maximen und magisches Denken. Gedichte, in die man sich verirrt, um sogleich den Beschluss zu fassen, in ihnen auf ewig zu verweilen.
Diese erdigen wie geerdeten Gedichte erzeugen bildstark Szenen einer éducation sentimentale: Das Aufblühen der Sexualität und animistische Tierkörper treffen hier auf religiöse Maximen und magisches Denken. Gedichte, in die man sich verirrt, um sogleich den Beschluss zu fassen, in ihnen auf ewig zu verweilen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hymnisch bespricht Rezensent Christian Metz die beiden nun in einem zweisprachigen Band auch in deutscher Übersetzung erschienenen Gedichtbände von Marieke Lucas Rijneveld. Rijneveld, in den Niederlanden als Frau geboren, heute als Mann gelesen und für ihren Roman "Was man sät" mit dem Booker-Preis ausgezeichnet, debütierte im Alter von 25 Jahren als Lyrikerin, klärt der Kritiker auf. Schon früh ging es in den Gedichten um geschlechtliche Identität, aber auch um Tod und Herkunft, fährt Metz fort, der sich von Ruth Löbners einfühlsamer Übersetzung sachte in den Rijneveld-Kosmos ziehen lässt. Wie Text-Gemälde auf weißen Leinwänden erscheinen ihm die nicht selten an Prosa angelehnten Langverse, die oft eigenwillig und "schroff" wirken, meist aber klingen, als wäre Rijneveld "als Kind in Bibeltexten gebadet worden". Etwa, wenn Rijneveld hier in Anspielung an den Froschregen aus der Johannes-Apokalypse über "Froschtennis" dichtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2022Wohl als Kind in Bibeltexten gebadet
Berühmt für Prosa, bedeutend für Poesie: Gedichte von Marieke Lucas Rijneveld
Marieke Lucas Rijneveld, 1991 in der niederländischen Provinz Nordbrabant geboren, hat den internationalen Erfolg der Leitwährung des globalen Buchmarkts zu verdanken: dem Roman. Das Prosadebüt "Was man sät" gewann 2020 den internationalen Booker-Preis. "Mein kleines Prachttier" avancierte dann zum Bestseller. Könnte man die Aufmerksamkeitslogik des globalen Buchmarkts für einen Augenblick aussetzen, dann würde Rijneveld statt für Prosa für Poesie gefeiert werden. Die Gedichte bilden nämlich Keimzelle und Ausgangspunkt dieses literarischen Kosmos.
Rijneveld betrat die literarische Bühne 2015 mit dem Gedichtband "Kalfsvlies" (Kalbskummer). Diese Lyrik widersprach allem, was man von einer damals knapp Fünfundzwanzigjährigen aus dem ländlichen Bibel-Gürtel unseres Nachbarlandes erwarten durfte: nämlich eigentlich nichts. Hier aber gab es spektakulär bildmächtige, gnadenlos scharfsinnige und unerschütterlich todesgewisse Verse: "Ich dachte immer, der Tod würde von außen über einen herfallen / und man könnte irgendwie ausweichen. LKWs beschreiben mit / ihren Scheinwerfern Kurven in unseren Köpfen, dabei war von / geradeaus die Rede, plötzlich stellt sich heraus, dass der Tod / schon immer unter der Haut gelauert hat." Den inneren Tod als äußere Satzklammer zu setzen ist schon ziemlich gut. Aber das Verschneiden mit dem kopfkurvigen LKW-Licht dazwischen und dem Denkbild davor ("ich dachte immer"): Das ist großartig.
Zumal Rijneveld keinen Überraschungsgeiz kennt, sondern direkt mit der nächsten Wendung erstaunt: "Ein Mann und eine Frau stehen nackt in einem Museum / verschrumpelte Körper wie eingerissene Landkarten, die eine Nacht lang in Tee / gelegen haben, um echter zu wirken." In diesen Langversen erweist sich der Vergleich, dem es im Kontrast zur Metapher an Kürze fehlt, als das perfekte Bildmedium, um die drei großen Themen - Religion, Körperlichkeit, Verwundbarkeit - immer wieder neu engzuführen: "Achtung zerbrechlich, nur gucken, wie ein Bildhauer sein Werk beguckt." Als der erste Gedichtband erschien, begeisterte die Presse sich noch für die junge Autorin. Als 2019 mit "Fantoommerrie" ("Phantomstute") der zweite Lyrikband folgte, bezeichnete Rijneveld sich als non-binär. Und seit diesem Jahr hat Marieke Lucas Rijneveld sich aufs männliche Geschlecht festgelegt. Die Fragen nach geschlechtlicher Identität verhandeln auch die Gedichte mit Umsicht, Behutsamkeit und Eindringlichkeit.
Der Suhrkamp Verlag hat die beiden Lyrikbände jetzt gemeinsam in einer zweisprachigen Ausgabe publiziert; in überaus gelungener, weil feinfühliger, aber doch eigensinniger Übersetzung von Ruth Löbner. Die Zusammenführung der Publikationen ergibt Sinn, weil sie wie ein Paar wirken. Die Formsprache bleibt über die Jahre konstant: Langverse, die sich vertraut an die Prosa anschmiegen. Die Gedichte sind jeweils für eine einzelne Buchseite konzipiert. Rijneveld behandelt das weiße Blatt wie eine Leinwand, auf der sich die Textlandschaft erstreckt.
Über beide Bände hinweg bleiben auch die Welten der Gedichte ineinander verschränkt. Rijneveld lässt eine junge Sprecherfigur zu Wort kommen: Nachdem sie zuerst fast noch Kind war, sieht man dieser Figur auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu. Mutter, Vater, Geschwister, Großvater bilden einen Familienkosmos. Die Welt misst sich zuerst durchaus daran, was abends auf den Tisch kommt: "Wir ehren den sorgsam bereiteten Eintopf." Aber die Fragen nach der eigenen Identität stehen längst an: "Wie man bei Hühnern an den Ohrläppchen ablesen kann, welche / Farbe ihre Eier haben, so müsste sich an dem Mädchen der Junge in ihr erkennen lassen."
Im zweiten Band rücken Umzug und Distanzierung von der Familienwelt in den Vordergrund, um im letzten Gedicht des Bandes noch einmal explizit zu werden: "Die Daseinsberechtigung von Zuckerstreuseln wird selten / ernstgenommen, genau wie die der Non-Binären, sowohl die Streuselfabrik als / auch sie bieten aus hygienischen Gründen keine Führungen an, wohl aber Info- / Pakete für Schulreferate." Im Original spricht Rijneveld vom "Vruchtenhagel", einer fruchtigen Sonderform des Hagelschlags. Verhandelt wird hier also frühstückgewordene niederländische Konsum- als Schokostreuselkultur. Die übrigens mit einer bestimmten Marke verbunden ist, die im Original auch direkt benannt ist. Unübersetzbar eigen, so sollen Individuum und Verse gleichermaßen sein. Beides gelingt.
Rijneveld dichtet, als wäre er als Kind in Bibeltexten gebadet worden. Auf eindrückliche Weise wird dieser Bildfundus in eine höchstpersönliche Welt transformiert. Der Froschregen aus der Johannes-Apokalypse etwa findet sich in ein grausames Kinderspiel übertragen: Froschtennis. "Überall tote Frösche: zwischen den Saiten unserer Tennisschläger, um / uns herum im feuchten Strandhafer, immer wieder legen wir ein kleines / Leben in die Mitte, spielen einen harten Aufschlag, sehen die hervorvorquellenden / Augen . . ." Solche Verse wirken so extrem eigen, als hätte man sich für einen Moment im Nebel des niederländischen Unterlandes verlaufen, und plötzlich eröffnete sich vor den Augen ein Bergpanorama.
Diese poetische Landschaft bringt ihre eigenen Typen hervor: "Er ist der Junge, der ohne Milch wehrlos ist gegen sich selbst." Und sie folgt ihren absonderlichen Gesetzen: "Erfolg ist hier das Kaninchen der andern". Rijnevelds Poesie kann rau und schroff wirken. Sie ist aber auch von einer Sehnsucht nach fürsorglicher Berührung und umsichtiger Anerkennung durchzogen. Und sie ist in ihrer Eigensinnigkeit ein poetisches Geschenk. CHRISTIAN METZ
Marieke Lucas
Rijneveld:
"Kalbskummer.
Phantomstute".
Gedichte.
Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 224 S. geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Berühmt für Prosa, bedeutend für Poesie: Gedichte von Marieke Lucas Rijneveld
Marieke Lucas Rijneveld, 1991 in der niederländischen Provinz Nordbrabant geboren, hat den internationalen Erfolg der Leitwährung des globalen Buchmarkts zu verdanken: dem Roman. Das Prosadebüt "Was man sät" gewann 2020 den internationalen Booker-Preis. "Mein kleines Prachttier" avancierte dann zum Bestseller. Könnte man die Aufmerksamkeitslogik des globalen Buchmarkts für einen Augenblick aussetzen, dann würde Rijneveld statt für Prosa für Poesie gefeiert werden. Die Gedichte bilden nämlich Keimzelle und Ausgangspunkt dieses literarischen Kosmos.
Rijneveld betrat die literarische Bühne 2015 mit dem Gedichtband "Kalfsvlies" (Kalbskummer). Diese Lyrik widersprach allem, was man von einer damals knapp Fünfundzwanzigjährigen aus dem ländlichen Bibel-Gürtel unseres Nachbarlandes erwarten durfte: nämlich eigentlich nichts. Hier aber gab es spektakulär bildmächtige, gnadenlos scharfsinnige und unerschütterlich todesgewisse Verse: "Ich dachte immer, der Tod würde von außen über einen herfallen / und man könnte irgendwie ausweichen. LKWs beschreiben mit / ihren Scheinwerfern Kurven in unseren Köpfen, dabei war von / geradeaus die Rede, plötzlich stellt sich heraus, dass der Tod / schon immer unter der Haut gelauert hat." Den inneren Tod als äußere Satzklammer zu setzen ist schon ziemlich gut. Aber das Verschneiden mit dem kopfkurvigen LKW-Licht dazwischen und dem Denkbild davor ("ich dachte immer"): Das ist großartig.
Zumal Rijneveld keinen Überraschungsgeiz kennt, sondern direkt mit der nächsten Wendung erstaunt: "Ein Mann und eine Frau stehen nackt in einem Museum / verschrumpelte Körper wie eingerissene Landkarten, die eine Nacht lang in Tee / gelegen haben, um echter zu wirken." In diesen Langversen erweist sich der Vergleich, dem es im Kontrast zur Metapher an Kürze fehlt, als das perfekte Bildmedium, um die drei großen Themen - Religion, Körperlichkeit, Verwundbarkeit - immer wieder neu engzuführen: "Achtung zerbrechlich, nur gucken, wie ein Bildhauer sein Werk beguckt." Als der erste Gedichtband erschien, begeisterte die Presse sich noch für die junge Autorin. Als 2019 mit "Fantoommerrie" ("Phantomstute") der zweite Lyrikband folgte, bezeichnete Rijneveld sich als non-binär. Und seit diesem Jahr hat Marieke Lucas Rijneveld sich aufs männliche Geschlecht festgelegt. Die Fragen nach geschlechtlicher Identität verhandeln auch die Gedichte mit Umsicht, Behutsamkeit und Eindringlichkeit.
Der Suhrkamp Verlag hat die beiden Lyrikbände jetzt gemeinsam in einer zweisprachigen Ausgabe publiziert; in überaus gelungener, weil feinfühliger, aber doch eigensinniger Übersetzung von Ruth Löbner. Die Zusammenführung der Publikationen ergibt Sinn, weil sie wie ein Paar wirken. Die Formsprache bleibt über die Jahre konstant: Langverse, die sich vertraut an die Prosa anschmiegen. Die Gedichte sind jeweils für eine einzelne Buchseite konzipiert. Rijneveld behandelt das weiße Blatt wie eine Leinwand, auf der sich die Textlandschaft erstreckt.
Über beide Bände hinweg bleiben auch die Welten der Gedichte ineinander verschränkt. Rijneveld lässt eine junge Sprecherfigur zu Wort kommen: Nachdem sie zuerst fast noch Kind war, sieht man dieser Figur auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu. Mutter, Vater, Geschwister, Großvater bilden einen Familienkosmos. Die Welt misst sich zuerst durchaus daran, was abends auf den Tisch kommt: "Wir ehren den sorgsam bereiteten Eintopf." Aber die Fragen nach der eigenen Identität stehen längst an: "Wie man bei Hühnern an den Ohrläppchen ablesen kann, welche / Farbe ihre Eier haben, so müsste sich an dem Mädchen der Junge in ihr erkennen lassen."
Im zweiten Band rücken Umzug und Distanzierung von der Familienwelt in den Vordergrund, um im letzten Gedicht des Bandes noch einmal explizit zu werden: "Die Daseinsberechtigung von Zuckerstreuseln wird selten / ernstgenommen, genau wie die der Non-Binären, sowohl die Streuselfabrik als / auch sie bieten aus hygienischen Gründen keine Führungen an, wohl aber Info- / Pakete für Schulreferate." Im Original spricht Rijneveld vom "Vruchtenhagel", einer fruchtigen Sonderform des Hagelschlags. Verhandelt wird hier also frühstückgewordene niederländische Konsum- als Schokostreuselkultur. Die übrigens mit einer bestimmten Marke verbunden ist, die im Original auch direkt benannt ist. Unübersetzbar eigen, so sollen Individuum und Verse gleichermaßen sein. Beides gelingt.
Rijneveld dichtet, als wäre er als Kind in Bibeltexten gebadet worden. Auf eindrückliche Weise wird dieser Bildfundus in eine höchstpersönliche Welt transformiert. Der Froschregen aus der Johannes-Apokalypse etwa findet sich in ein grausames Kinderspiel übertragen: Froschtennis. "Überall tote Frösche: zwischen den Saiten unserer Tennisschläger, um / uns herum im feuchten Strandhafer, immer wieder legen wir ein kleines / Leben in die Mitte, spielen einen harten Aufschlag, sehen die hervorvorquellenden / Augen . . ." Solche Verse wirken so extrem eigen, als hätte man sich für einen Moment im Nebel des niederländischen Unterlandes verlaufen, und plötzlich eröffnete sich vor den Augen ein Bergpanorama.
Diese poetische Landschaft bringt ihre eigenen Typen hervor: "Er ist der Junge, der ohne Milch wehrlos ist gegen sich selbst." Und sie folgt ihren absonderlichen Gesetzen: "Erfolg ist hier das Kaninchen der andern". Rijnevelds Poesie kann rau und schroff wirken. Sie ist aber auch von einer Sehnsucht nach fürsorglicher Berührung und umsichtiger Anerkennung durchzogen. Und sie ist in ihrer Eigensinnigkeit ein poetisches Geschenk. CHRISTIAN METZ
Marieke Lucas
Rijneveld:
"Kalbskummer.
Phantomstute".
Gedichte.
Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 224 S. geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Rijnevelds Poesie kann rau und schroff wirken. Sie ist aber auch von einer Sehnsucht nach fürsorglicher Berührung und umsichtiger Anerkennung durchzogen. Und sie ist in ihrer Eigensinnigkeit ein poetisches Geschenk.« Christian Metz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20221129