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Statt Kampf und Krieg Liebes- und Hochzeitsgeschichten: Das märchenhafte finnische Nationalepos "Kalewala" ist in gelungener Neuübersetzung zu entdecken
Nach dreißig Jahren wird der alte Zauberer allmählich ungeduldig. Ein Menschenalter lang ist er nun schon herumgewandert im Leib seiner urweltlichen Riesenmutter, und noch immer hat er nicht das Licht der Welt erblickt. Dabei weiß er als erfahrener Magier nicht nur allerlei von Sonne und Mond, er vermag sie auch beschwörend anzurufen aus seiner dunklen Höhle. Als aber auch die Himmelsmächte ihm ihren Beistand verweigern, bleibt ihm nichts übrig, als sich selbst zu helfen; so öffnet er von innen die Pforte und springt kopfüber ins Freie. Und da ist er nun: Wäinämöinen, der große Zauberer der uralten Welt, der Erz-Schamane und Vater aller Sänger.
Wer in die Welt des "Kalewala" eintritt, befindet sich mit einem Schlag in einem traumschönen Kosmos, in dem Singen und Zaubern noch zwei Wörter für dieselbe Sache sind. Und so zauberhaft lesen sich denn auch die fünfzig abenteuerprallen Gesänge. Kein melancholisches Zwielicht erfüllt dieses finnische Nationalepos, sondern die klare und kräftige Beleuchtung einer Sommersonne, die der Erde noch etwas näher ist als in unserer ermüdeten Spätzeit. Nicht satt singen kann sich das Epos von den Taten und Leiden Wäinämöinens, seiner Gegenspieler und Gefährten, des zauberkundigen Schmiedes Wieland zum Beispiel, der hier Ilmarinen heißt, oder des heldenhaften Lemminkäinen. Wenn Wäinämöinen zaubernd singt, bebt die Erde; wenn er weint, rollen seine Tränen als blaue Perlen ins Meer. Halb Orpheus, halb wilder Mann, sieht er hier manchmal fast aus wie ein urtümlicherer Gandalf unter finnischen Hobbits. Von der Geburt des Bären hören wir, von der Entstehung von Erde und Sternenhimmel und vom wilden Hexengelage in Finsterland. Was uns das "Kalewala" zeigt, erinnert oft eher an eine Märchen- als an eine Sagenwelt, nicht frei von schwankhaften Zügen und voller überraschender, archaisch-schöner Bilder. Wie sehen die Gedanken der Armen und Elenden aus? "Wie harscher Schnee am Hang, Wasser im tiefen Brunnen." Und die der Glücklichen? "Wie wallendes Wasser, wie ein Schwappen im Trog."
Das "Kalewala" ist der erstaunliche Fall eines Nationalepos, in dem Kampf und Krieg nur Episoden unter anderen sind und das um so mehr weiß von Trog und Brunnen. Nicht aus Belagerungen und Schlachten ergibt sich hier das epische Geschehen, sondern aus Liebes- und Hochzeitsgeschichten, kosmisch weitläufigen wie irdisch handgreiflichen, aus Liedern von Heils- und Unheilszauber, von pfiffigen Listen und langen Abenteuerfahrten, namentlich vom Raub eines magischen Geräts, jenes "Sampo", der nach der Art eines archaischen Grals Heil und Segen spendet und dessen Schicksal die längsten Handlungsstränge gelten.
Das Epos, das sich als Sammlung ältester mündlicher Überlieferungen darstellt, gehört doch ganz dem neunzehnten Jahrhundert: zusammengesetzte Bruchstücke eines Ganzen, das es niemals gab. Sein Kompilator ist einer jener Grenzgänger zwischen Volkskunde, Philologie und Poesie, an denen das romantische Europa so reich war. Elias Lönnrot, der vom Sohn eines armen Schneiders märchenhaft aufstieg zum Nationaldichter und Gelehrten, hat den Sagen, Liedern und Märchen, die er zwanzig Jahre lang in den finnischen Wäldern und Bibliotheken sammelte, kaum eigene Verse hinzugefügt - und doch ist das "Kalewala" ganz sein Werk. Fast wie einer der mit dem Überlieferungsmaterial frei schaltenden Sänger behandelt er seine Stoffe, nun aber im Medium der Schrift und getrieben vom Verlangen nach Vollständigkeit. Kein Vers, kein Wort soll verlorengehen; das nation building braucht jeden Beleg einer autochthonen nationalsprachlichen Überlieferung, um die finnische Kultur zum ersten Mal zu behaupten gegen die der Schweden und der Russen. Und so werden überall dort, wo eine Episode in mehreren Varianten überliefert ist, möglichst alle zugleich berücksichtigt. Das Ergebnis ist ein höchst abwechslungsreiches Patchwork, das es Neugierigen übrigens leichtmacht, den Text portionenweise zu genießen. Statt epischer Monumentalität präsentiert Lönnrot eher eine locker gefügte Folge von Ereignissen um die zentralen Gestalten, angereichert um diverse Binnenerzählungen, Weisheiten, Lieder. Es ist dem poetischen Ingenium dieses Sammlers zu verdanken, daß seine Sammelwut nicht etwa trockene Redundanz erzeugt, sondern im Gegenteil einen alle Reize von Parallelismen und Motivechos auskostenden, vitalen Sprachzauber. In der zweiten und umfangreichsten Version, die 1849 erschien, entfaltet er seine ganze Pracht. Sie liegt nun Gisbert Jänickes vollständiger, detailgenauer und man darf wohl sagen: kongenialer Neuübersetzung zugrunde.
Das "Kalewala" ist wiederholt ins Deutsche übertragen worden, in philologisch anspruchsvollen Adaptionen. Dennoch liest sich Jänickes Text unvergleichlich frisch und geschmeidig. Und überaus präzise, weil er um der Worttreue willen die alternierenden Trochäen der "Kalewalastrophe" auflöst in die weit ausschwingenden, freien Langverse einer rhythmisierten Prosa. Dieser Entschluß schafft nicht nur Platz für eine präzise Wiedergabe des finnischen Textes, der ja gegenüber dem Deutschen mit ungleich weniger Silben auskommt, er ermöglicht es auch in fast verblüffender Weise, die für das "Kalewala" so charakteristischen Ambivalenzen von Beschwörung und Parlando, von Drama und Komik zu entfalten. Der musikalische Reiz ist beträchtlich. In Jänickes Wiedergabe teilt sich die elementare Sprachfreude der Stabreime ebenso mit wie der Parallelismen. Denn warum einfach sagen, was in der Vervielfachung so viel farbenprächtiger wird? "Brauner Petz" also heißt hier der Bär, aber er heißt auch "Waldstern", "Buckelrücken" und "Honigtatze"; und wenn mit dem fünfzigsten Gesang das Epos endet, dann steht hier nicht einfach das Wort "Ende", sondern der feierlich verdoppelte Parallelismus: "Hier will ich meinen Mund schließen, meine Zunge festbinden, / meine Lieder ausklingen, aufhören mit dem Singen." Ach nein, gerade das will er eben nicht, zum Vergnügen seiner Hörer.
Sosehr Lönnrots "Kalewala" sich als abschließende Summe begreift, so entschieden markiert es doch den Aufbruch zu einer modernen finnischen Kunst. Aus seinem unerschöpflichen Motivvorrat haben sich die Poeten ebenso bedient wie die Maler und natürlich die Musik des Jean Sibelius; und die Quelle sprudelt noch immer. Auch das ist Wäinämöinens Vorsorge zu verdanken. Wenn der Uralte am Ende mit seinem Kupferschiff fortsegelt aus Kalewas Land, dann geschieht das nicht sang- und klanglos: "Die Kantele ließ er in Finnland zurück, das schöne Spielzeug / hinterließ er seinem Volk, den Liederschatz seiner Kindern."
Elias Lönnrot: "Kalewala". Das finnische Epos. Aus dem Finnischen übersetzt und mit einem Nachwort von Gisbert Jänicke. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2004. 486 S., geb., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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