Wie kaum ein Gebiet unter deutscher Herrschaft ist Weißrußland im Zweiten Weltkrieg zerstört und die Zahl seiner Bevölkerung durch brutale Mordaktionen dezimiert worden. Die Vernichtungspolitik gegenüber allen betroffenen Bevölkerungsgruppen läßt sich nur durch einen umfassenden Zugriff auf Ziele und Politik deutscher Zentral- und Besatzungsbehörden und das Vorgehen von SS, Wehrmacht und Polizei hinreichend untersuchen. Durch die Verbindung von Wirtschafts-, Alltags- und politischer Geschichte werden die Zusammenhänge, die zwischen Wirtschaftsinteressen und Massenmord bestanden, deutlich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2000Zynische Logik
Hinter dem Morden der deutschen Besatzer steckte Kalkül
Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburger Edition, Hamburg 1999. 1232 Seiten, 98 Mark.
Die Schrecken der NS-Herrschaft sind von deutschen Historikern und auch von der deutschen Justiz schon seit den sechziger Jahren intensiv erforscht worden. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese Studien sich meistens auf eine Chronologie des Verbrechens beschränkten, aber nur selten die Hintergründe und Triebkräfte der Verbrechen nachforschten.
In den vergangenen Jahren fand ein bemerkenswerter Wandel in der Historikerzunft bezüglich der Bewertung des NS-Systems statt. Wurden bisher die Historiker in die Lager der "Funktionalisten" und "Intentionalisten" getrennt, je nachdem, ob sie den Judenmord als Improvisation oder als von Anfang an beschlossenes Programm bewerteten, sind diese Gegensätze spätestens seit dem Erscheinen der Arbeiten von Götz Aly und Christian Gerlach aufgehoben. Sie stellten fest, dass zwischen Völkermord und wirtschaftlichen Interessen wichtige Zusammenhänge existierten: diese Interessen trugen zum Stoppen oder aber zur Beschleunigung der Mordaktionen bei.
Die nun vorliegende und in drei Monaten schon vergriffene Studie von Christian Gerlach über die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944 ist ein Meilenstein in der NS-Forschung. Es ist die bisher brillanteste Arbeit ihrer Art und liefert Unmengen von Beweisen über die Hintergründe und Motive der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Obwohl wir mittlerweile sehr viel von den Verbrechen wissen, wird das Bild nach dem Studium des Buches noch düsterer. Es ist eine sprachliche Leistung des Verfassers, trotz des Umfangs seiner Arbeit und trotz des unzumutbar abscheulichen Themas der Darstellung eine angemessene und leicht lesbare Sprache gefunden zu haben.
Der Fall Weißrussland gehört zur barbarischsten Besatzungspraxis, die Deutschland je praktiziert hat. Von der höchsten NS-Führung wurde kalten Blutes entschieden, das als "Zuschussgebiet" bewerte Land von allen Lebensmitteleinfuhren abzuschneiden und die Bewohner, die ihre Okkupanten noch zu versorgen hatten, ihrem Schicksal zu überlassen. Als Folge sollte "das größte Sterben seit dem Dreißigjährigen Krieg eintreten", wie Göring prophezeite. Dass diese Hungerstrategie kein Produkt von wenigen NS-Funktionären und kein ideologiebedingter Selbstzweck war, beweist Gerlach. Um die Versorgung sicherzustellen, benötigte Deutschland jährlich Millionen Tonnen von Öl, Getreide und Fleisch. Durch den Pakt mit Stalin am 23. August 1939 war die Versorgung bis zum deutschen Angriff sichergestellt. Gegen die Sowjetunion konnte Hitler aber nur dann Krieg führen, wenn er den Hungertod von mehreren Millionen ihrer Bürger bewusst in Kauf nahm und die "Überschussgebiete" von den "Zuschussgebieten" abschnürte, um genug Lebensmittel ins Reich transportieren zu können. Eine andere Wahl blieb ihm angesichts der wirksamen Seeblockade kaum übrig.
Bis zum Ende.
Dieses Szenario war von der höchsten Staatsführung gutgeheißen und von Ernährungswissenschaftlern und Verwaltungsbeamten präzise ausgearbeitet worden. Der Plan erwies sich zwar teils als unrealistisch, an den Grundzügen wurde jedoch bis zum Ende festgehalten. So war es schon am Anfang des Krieges höchste Priorität, dass "die Wehrmacht sich aus dem Lande" ernährte und damit Lebensmittelreserven für die Heimat freimachte. Die Wehrmacht am Ort hatte aber kein Interesse an einer durch Hungersnöte heimgesuchten und unkooperierenden Zivilbevölkerung: Um Schlimmerem vorzubeugen, verteilte sie in bescheidenem Maße Lebensmittel und versuchte die Nöte zu mildern. Da aber von außen keine Hilfe zu bekommen war, wurden die Ernährungslücken auf zwei Gruppen abgewälzt, die für die deutsche Führung als wertlos galten: auf die Gefangenen und später, als deren Arbeitskraft doch benötigt wurde, auf die Juden.
Dabei entstand ein erschreckendes Maß an Interesse und Kooperationsbereitschaft verschiedener ziviler und militärischer Stellen, die Probleme bei der Ernährungslage mit Massenmord zu lösen. Auch im Fall Babij Yar in der Ukraine zeigt sich die Verschränkung ideologisch-politischer und wirtschaftlicher Absichten beim Massenmord. Der Massenmord an den Juden Kiews wurde als positive Maßnahme bewertet, die Einsatzgruppe C konnte mit Befriedigung melden, dass der durch Sprengungen der Roten Armee herrschende riesige "Wohnungsmangel" in Kiew "nach Liquidierung der Juden durch Einweisung in die frei gewordenen Judenwohnungen behoben werden" konnte. Solche Ungeheuerlichkeiten ziehen sich durch die Geschichte der deutschen Besatzung in der Sowjetunion wie ein roter Faden.
Nicht pauschal.
Trotz der abscheulichen Taten der Besatzer versteht der Autor aber genau zwischen Schuld und Verantwortung der verschiedenen Instanzen zu unterscheiden. Gerlach relativiert das Bild von einer entfesselten Kriegführung der Fronttruppe gegen alles Lebende. Er hebt hervor, dass Fronteinheiten selten Zivilisten ermordeten und dass die meisten solcher Morde auf das Konto einer einzigen Einheit gingen, der 707. Infanteriedivision, deren Befehlshaber selbständig über das Morden entschied.
Es zeugt von Offenheit und Pluralismus des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dass es ein Buch herausgegeben hat, das die Thesen seines größten Öffentlichkeitsprojekts - die so genannte Wehrmachtausstellung - sanft, aber klar widerlegt. In 18 Fußnoten werden Fehldeutungen und Irrtümer von Hannes Heer über "die Mordorganisation Wehrmacht" zurückgewiesen. Die einfachen Soldaten waren nicht von NS-Ideologie verblendete bestialische Mörder. Gerlach beweist auch, dass der Primat der Weltanschauung vor kriegswirtschaftlichen Interessen eine nachträgliche Fiktion der Historiker ist. Tatsächlich ließen sich die Judentransporte nach Russland sofort stoppen, als der Transportraum zur Versorgung der Soldaten benötigt wurde. Solche und ähnliche Beweise zeigen, dass aus ökonomischer Sicht die Besatzer immer ihrer eigenen durch praktische Gesichtspunkte bestimmten Logik folgten. Wirtschaftliche Gründe dienten nicht zur Kaschierung der Massenmorde, sie waren vielmehr neben den vorhandenen antijüdischen und antislawischen Vorurteilen Mitauslöser der Verbrechen. Die These von dem "rassenideologischen Vernichtungskrieg" (Hillgruber) geht an den Zielen der deutschen Besatzung vorbei: Deutschland wollte die besetzten Gebiete als "Indien" ausnutzen. Mord als einziges Motiv aus dem Bündel aller Motive für den Ostfeldzug herauszunehmen macht die Analyse aller Entscheidungsfaktoren der Täter unmöglich.
"Es geht an die Grenze menschlichen Begreifens, aber selbst in dem Plan, etwa dreißig Millionen Menschen in der Sowjetunion durch Hunger, Unterversorgung und eine brutale Besatzungspolitik zu ermorden, war die Vernichtung kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um ein wirtschaftlich definiertes Ziel zu erreichen." Die Idee dieses Plans wurde nur gegen osteuropäische Völker entwickelt und spiegelt insofern die nationalsozialistischen Vorstellungen von der Hierarchie der Völker und Rassen. In sich zeigte der Plan aber eine erschreckende machiavellistische Logik. Gerlachs Buch setzt den Opfern dieser Politik nicht nur ein würdiges Denkmal, sondern bestimmt die Diskussion über die Motive der NS-Täter für die nächste Zeit.
KRISZTIÁN UNGVÁRY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinter dem Morden der deutschen Besatzer steckte Kalkül
Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburger Edition, Hamburg 1999. 1232 Seiten, 98 Mark.
Die Schrecken der NS-Herrschaft sind von deutschen Historikern und auch von der deutschen Justiz schon seit den sechziger Jahren intensiv erforscht worden. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass diese Studien sich meistens auf eine Chronologie des Verbrechens beschränkten, aber nur selten die Hintergründe und Triebkräfte der Verbrechen nachforschten.
In den vergangenen Jahren fand ein bemerkenswerter Wandel in der Historikerzunft bezüglich der Bewertung des NS-Systems statt. Wurden bisher die Historiker in die Lager der "Funktionalisten" und "Intentionalisten" getrennt, je nachdem, ob sie den Judenmord als Improvisation oder als von Anfang an beschlossenes Programm bewerteten, sind diese Gegensätze spätestens seit dem Erscheinen der Arbeiten von Götz Aly und Christian Gerlach aufgehoben. Sie stellten fest, dass zwischen Völkermord und wirtschaftlichen Interessen wichtige Zusammenhänge existierten: diese Interessen trugen zum Stoppen oder aber zur Beschleunigung der Mordaktionen bei.
Die nun vorliegende und in drei Monaten schon vergriffene Studie von Christian Gerlach über die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944 ist ein Meilenstein in der NS-Forschung. Es ist die bisher brillanteste Arbeit ihrer Art und liefert Unmengen von Beweisen über die Hintergründe und Motive der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Obwohl wir mittlerweile sehr viel von den Verbrechen wissen, wird das Bild nach dem Studium des Buches noch düsterer. Es ist eine sprachliche Leistung des Verfassers, trotz des Umfangs seiner Arbeit und trotz des unzumutbar abscheulichen Themas der Darstellung eine angemessene und leicht lesbare Sprache gefunden zu haben.
Der Fall Weißrussland gehört zur barbarischsten Besatzungspraxis, die Deutschland je praktiziert hat. Von der höchsten NS-Führung wurde kalten Blutes entschieden, das als "Zuschussgebiet" bewerte Land von allen Lebensmitteleinfuhren abzuschneiden und die Bewohner, die ihre Okkupanten noch zu versorgen hatten, ihrem Schicksal zu überlassen. Als Folge sollte "das größte Sterben seit dem Dreißigjährigen Krieg eintreten", wie Göring prophezeite. Dass diese Hungerstrategie kein Produkt von wenigen NS-Funktionären und kein ideologiebedingter Selbstzweck war, beweist Gerlach. Um die Versorgung sicherzustellen, benötigte Deutschland jährlich Millionen Tonnen von Öl, Getreide und Fleisch. Durch den Pakt mit Stalin am 23. August 1939 war die Versorgung bis zum deutschen Angriff sichergestellt. Gegen die Sowjetunion konnte Hitler aber nur dann Krieg führen, wenn er den Hungertod von mehreren Millionen ihrer Bürger bewusst in Kauf nahm und die "Überschussgebiete" von den "Zuschussgebieten" abschnürte, um genug Lebensmittel ins Reich transportieren zu können. Eine andere Wahl blieb ihm angesichts der wirksamen Seeblockade kaum übrig.
Bis zum Ende.
Dieses Szenario war von der höchsten Staatsführung gutgeheißen und von Ernährungswissenschaftlern und Verwaltungsbeamten präzise ausgearbeitet worden. Der Plan erwies sich zwar teils als unrealistisch, an den Grundzügen wurde jedoch bis zum Ende festgehalten. So war es schon am Anfang des Krieges höchste Priorität, dass "die Wehrmacht sich aus dem Lande" ernährte und damit Lebensmittelreserven für die Heimat freimachte. Die Wehrmacht am Ort hatte aber kein Interesse an einer durch Hungersnöte heimgesuchten und unkooperierenden Zivilbevölkerung: Um Schlimmerem vorzubeugen, verteilte sie in bescheidenem Maße Lebensmittel und versuchte die Nöte zu mildern. Da aber von außen keine Hilfe zu bekommen war, wurden die Ernährungslücken auf zwei Gruppen abgewälzt, die für die deutsche Führung als wertlos galten: auf die Gefangenen und später, als deren Arbeitskraft doch benötigt wurde, auf die Juden.
Dabei entstand ein erschreckendes Maß an Interesse und Kooperationsbereitschaft verschiedener ziviler und militärischer Stellen, die Probleme bei der Ernährungslage mit Massenmord zu lösen. Auch im Fall Babij Yar in der Ukraine zeigt sich die Verschränkung ideologisch-politischer und wirtschaftlicher Absichten beim Massenmord. Der Massenmord an den Juden Kiews wurde als positive Maßnahme bewertet, die Einsatzgruppe C konnte mit Befriedigung melden, dass der durch Sprengungen der Roten Armee herrschende riesige "Wohnungsmangel" in Kiew "nach Liquidierung der Juden durch Einweisung in die frei gewordenen Judenwohnungen behoben werden" konnte. Solche Ungeheuerlichkeiten ziehen sich durch die Geschichte der deutschen Besatzung in der Sowjetunion wie ein roter Faden.
Nicht pauschal.
Trotz der abscheulichen Taten der Besatzer versteht der Autor aber genau zwischen Schuld und Verantwortung der verschiedenen Instanzen zu unterscheiden. Gerlach relativiert das Bild von einer entfesselten Kriegführung der Fronttruppe gegen alles Lebende. Er hebt hervor, dass Fronteinheiten selten Zivilisten ermordeten und dass die meisten solcher Morde auf das Konto einer einzigen Einheit gingen, der 707. Infanteriedivision, deren Befehlshaber selbständig über das Morden entschied.
Es zeugt von Offenheit und Pluralismus des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dass es ein Buch herausgegeben hat, das die Thesen seines größten Öffentlichkeitsprojekts - die so genannte Wehrmachtausstellung - sanft, aber klar widerlegt. In 18 Fußnoten werden Fehldeutungen und Irrtümer von Hannes Heer über "die Mordorganisation Wehrmacht" zurückgewiesen. Die einfachen Soldaten waren nicht von NS-Ideologie verblendete bestialische Mörder. Gerlach beweist auch, dass der Primat der Weltanschauung vor kriegswirtschaftlichen Interessen eine nachträgliche Fiktion der Historiker ist. Tatsächlich ließen sich die Judentransporte nach Russland sofort stoppen, als der Transportraum zur Versorgung der Soldaten benötigt wurde. Solche und ähnliche Beweise zeigen, dass aus ökonomischer Sicht die Besatzer immer ihrer eigenen durch praktische Gesichtspunkte bestimmten Logik folgten. Wirtschaftliche Gründe dienten nicht zur Kaschierung der Massenmorde, sie waren vielmehr neben den vorhandenen antijüdischen und antislawischen Vorurteilen Mitauslöser der Verbrechen. Die These von dem "rassenideologischen Vernichtungskrieg" (Hillgruber) geht an den Zielen der deutschen Besatzung vorbei: Deutschland wollte die besetzten Gebiete als "Indien" ausnutzen. Mord als einziges Motiv aus dem Bündel aller Motive für den Ostfeldzug herauszunehmen macht die Analyse aller Entscheidungsfaktoren der Täter unmöglich.
"Es geht an die Grenze menschlichen Begreifens, aber selbst in dem Plan, etwa dreißig Millionen Menschen in der Sowjetunion durch Hunger, Unterversorgung und eine brutale Besatzungspolitik zu ermorden, war die Vernichtung kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um ein wirtschaftlich definiertes Ziel zu erreichen." Die Idee dieses Plans wurde nur gegen osteuropäische Völker entwickelt und spiegelt insofern die nationalsozialistischen Vorstellungen von der Hierarchie der Völker und Rassen. In sich zeigte der Plan aber eine erschreckende machiavellistische Logik. Gerlachs Buch setzt den Opfern dieser Politik nicht nur ein würdiges Denkmal, sondern bestimmt die Diskussion über die Motive der NS-Täter für die nächste Zeit.
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