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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Shumona Sinha erzählt von einer besonderen Stadt
Wie es ist, zwischen zwei Welten zu stehen, weiß Shumona Sinha aus eigener Erfahrung. Geboren 1973 in Kalkutta, lebt sie seit 2001 in Paris. Ihr Roman "Erschlagt die Armen!", 2012 in Frankreich und 2015 auf Deutsch erschienen, beschrieb Missstände in einem Amt für Migration. Der damals selbst in einem solchen Amt als Dolmetscherin Beschäftigten wurde daraufhin gekündigt, ihr Fall machte Schlagzeilen. Darüber vergaß man fast, dass Sinha das heikle Thema der zweifelhaften Unterscheidung zwischen "Wirtschaftsflüchtlingen" und anderen literarisch komplex verarbeitet hatte. Doch auch wegen einer ausgesprochen poetischen Sprache ist sie zu entdecken. "Kalkutta" ist ihr dritter Roman - behutsamer im Ton als der zornigere frühere Roman.
Eine Frau, die schon lange in Paris wohnt, kehrt nach dem Tod des Vaters in ihre Heimatstadt Kalkutta zurück. Das Stöbern und die Rückblende sind Merkmale dieser Erinnerungsreise, auf der die Ich-Erzählerin schließlich selbst zur dritten Person wird: zu dem Mädchen Trisha. Der Vater ist politisch aktiv, die Mutter, eine Lehrerin, von Depressionen oft wie gelähmt. Die Unheimlichkeit dieser Krankheit, vom Kind wahrgenommen, wird in der Sprache der Erwachsenen fast surreal: "Trishas Nächte waren mit den weißen Pillen ihrer Mutter versiegelt. Ihr Vater verriegelte nicht nur die Tür von Urmilas nächtlichem Gefängnis, er verteilte drei Tropfen eines Zaubertranks, und Trisha begann, neben ihrer Mutter zusammenzuschrumpfen, zu verschwinden." Sie erinnert sich an das Hibiskusöl, mit dem sich die Mutter oft einreibt, weil sie keine Kraft mehr hat, sich zu waschen, oder an den Revolver, den die Familie hütet - vielleicht, um doch einmal aufzubegehren. Es liegt eine Trägheit über allem; ein Warten auf den lebensverändernden Moment inmitten einer pulsierenden Stadt, die als ehemalige Hauptstadt Britisch-Indiens eine besondere Vergangenheit hat.
Sie habe mit dem einseitigen Bild Kalkuttas, das immer nur mit Armut und Mutter Teresa assoziiert werde, aufräumen wollen, sagt Shumona Sinha im Interview. Das gelingt ihr durch die eigenwillige Verknüpfung von privater und allgemeiner Geschichte. Und so erfährt man beim Lesen viel über die Großstadt in Westbengalen, jene Region, die immer wieder Herd blutiger Unruhen war. Mehr als dreißig Jahre lang kommunistisch, hat sie eine andere Geschichte als das restliche Indien. Es ist die Zeit, in der Trisha die Bücher des Vaters studiert und erstmals das Wort "Guerrilla" registriert, das sie immer mit "Gorilla" verknüpft. Die Geschichte ihrer Eltern Shanky und Urmila, die 1972 heirateten, wäre undenkbar ohne die Prägungen durch eine zweischneidige Kultur, die hier eindrücklich geschildert wird. Händler verkaufen Porträts indischer Gottheiten, während Männer, die Bidis rauchen, in Hinterhöfen über die Notwendigkeit des Klassenkampfes diskutieren.
Vielen Frauen ist der Besuch einer Schule nicht erlaubt. Sie sorgen sich um ihre Haut, damit sie "weiß und weich wie Butter" bleibt. Dass manches Erzählte in seiner poetisch verdichteten Form umrissartig wirkt, ist notwendiges Resultat: Trisha setzt hier ein Puzzle mit fehlenden Teilen zusammen. Manche nachgetragene Information kommt da vielleicht etwas lexikonhaft daher. Doch von genau dieser Differenz im Tonfall lebt die Prosa. Shumona Sinha ist eine starke Erzählerin dieses erinnerten, fragilen Stoffs.
ANJA HIRSCH.
Shumona Sinha: "Kalkutta". Roman.
Aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2016. 192 S., geb., 19,90 [Euro].
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