Die dreiundachtzigjährige Charlotte erwartet Besuch: Hugo, ihren Schwager, für den sie zeit ihres Lebens eine Schwäche hatte. Sollten sie doch noch einen romantischen Lebensabend miteinander verbringen können? Wird, was lange währt, endlich gut? Ingrid Nolls Heldin erzählt anrührend und tragikomisch zugleich von einer weitverzweigten Familie, die es in sich hat.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
"Eigenwilliger wurden Familienprobleme wohl noch nie gelöst" (Newmag, München)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.1996Kleine Morde unter Damen
Wohin mit der Mumie im Mondschein? Ingrid Noll gibt Ratschläge für den Hausputz im Herbst · Von Arnd Rühle
So ein Freudensatz kann ein ganzes Buch beflügeln: "Hugo kommt!" Der achtundachtzig Jahre alte Schwager hat sich bei Charlotte angekündigt. Der Besuch bei der alten Dame nach Jahrzehnten des Schweigens wirbelt viel Staub auf - für die ehemals große Liebe muß aufgeräumt werden, im Haus und in der Vergangenheit. Die beiden hatten eine innige Beziehung (mit Tochter-Folge; das weiß Hugo noch nicht); sie haben einst auch gemeinsam, handwerklich sauber, eine Leiche im Keller eingemauert und den Kaminabzug nicht vergessen. Es war nicht irgendeine Leiche, sondern der tote Körper des Mannes, der Charlotte angetraut war. Als Totgesagter aus russischer Gefangenschaft heimgekommen, steht er nächtens vor der Tür: verdreckt, verhungert, lungenkrank. Sein Tod kein Mord, sondern ein Unglücksfall: volltrunken mit dem Kopf gegen den Kohlenkasten. Das heimliche Begräbnis hat dann die Rente sichern sollen.
Nun muß die Mumie entsorgt werden im Zuge der Lebensaufräumarbeiten. Charlotte plaudert und erinnert sich: wie beschwerlich das Leben ist im Alter, wie es früher war, im Schuhgeschäfts-Elternhaus mit drei Brüdern und drei Schwestern. Was aus denen und deren Kindern geworden ist - zwanziger, dreißiger, vierziger Jahre und heute. Eine manchmal traurige, oft komische, alles in allem eine Allerweltsfamilienchronik. Sehr unterhaltsam.
Doch wo bleibt die Kriminalgeschichte, die jedermann von Ingrid Noll erwartet? Alles ehrbare Leute diesmal in Darmstadt. Und wenn der Tod zugreift, dann profitiert er von Krankheiten, von Unglücken, vom Krieg, von der Altersschwäche. Wer die früheren Bücher der Autorin kennt, der weiß allerdings mehr als die gute alte Charlotte. Beispielsweise, was es bedeutet, wenn die Lieblingsenkelin Cora zupackend staunt (denn sie ist netterweise auf ganz unkomplizierte Weise bei der Mumien-Entsorgung behilflich): "Interessant, kommt mir irgendwie bekannt vor." Sie erwartet eben, wie der Leser auch, kriminelle Energie von ihren Ahnen und scherzt deshalb mißverständlich: "Man macht so etwas schließlich nicht zum ersten Mal."
Schließlich bietet sie sogar an, die getrockneten Überreste ihres Großvaters mit nach Italien zu nehmen: "Unter meiner Terrasse ist Platz genug." Diese Terrasse kennt der Leser des zweiten Noll-Buches ("Die Häupter meiner Lieben") als Grabkammer. Mit dem fröhlich kühlen, praktisch intelligenten Luder Cora scheint sich so unter der Hand der Autorin allmählich eine kriminelle Sympathiefigur des Typs zu entwickeln, den wir als Tom Ripley bei Patricia Highsmith kennen.
Zu Ripley, Kunstkenner und Kunstsammler, würde Cora mit ihrem Interesse für Klimt und Schiele auch ganz gut passen. Sie kommt extra aus Italien angereist, um die Ausstellung in der Frankfurter Schirn zu besuchen. Onkel Hugo, ehemals Buchhändler, empfiehlt statt dessen einen Besuch auf der Buchmesse. Als literarischer Lokalpatriot unterhält er sich mit seinem Enkel Felix fachmännisch über die kritischen Geister, "für die unsere Residenzstadt bekannt ist: Merck, Büchner, Niebergall, Edschmid, Gundolf und vor allem Georg Hensel". Was den Maschinenbaustudenten zur Ergänzung reizt: "Du hast die Wohmann vergessen."
Überhaupt schafft die Autorin gern Atmosphäre in den Schicksalsläufen durch Zitate oder die Erwähnung von Kulturgrößen. Charlotte kann den "Erlkönig", und auch von Storm fällt ihr was ein und von Ringelnatz. Und Bruder Albert, der heimlich die schönen schwesterlichen Kleider anzieht und Perlenketten auffädelt, trägt Trauer nach dem Tod des Stummfilmfrauenhelden Valentino. Übrigens erschießt sich der Bedauernswerte im Alter von zwanzig Jahren, "weil niemand ihn verstanden hat".
Vom Tode ist also doch, versteckt oder hintergründig, oft die Rede, heiter und selbstverständlich. Wer stirbt, hat ausgelitten. Gegen Ende des Romans erzählen sich die Schwestern ihre Geheimnisse: "Bevor wir in die Grube fahren, sollten wir uns diese kleinen Freuden gönnen." Schwester Alice, eine Ärztin, hat einen drogensüchtigen Heiratsschwindler auf dem Gewissen. Ihrer Tochter, der humorlosen Psychotherapeutin, will sie nichts davon sagen. Probleme werden bei Ingrid Noll ohne Polizei und ohne psychologischen Beistand bewältigt, allein durch scheinbar naives, tatsächlich aber raffiniertes Erzählen.
Der Romantitel aus dem wundersamen Mondlied von Matthias Claudius kündigt es an: "So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder. Kalt ist der Abendhauch." Als die Mumie Bernhard endlich bei Mondschein im fremden Garten begraben werden kann, gibt's auf unschuldig neugierige Fragen schlagfertig die Antwort, man begrabe den Hund, einen Bernhardiner. Der Hund ist tot. Im ersten Noll-Titel war es der Hahn. Blutige Sauereien gibt es nicht; aber hundsgemein geht's manchmal schon zu.
Am Schluß, jedenfalls fürs erste, nachdem alles aufgeräumt zu sein scheint, muß Hugo wieder gehen. Jetzt aber ins Seniorenheim. Was wird er dort tun? Ganz gewiß an Ringelnatz denken: "Vorbei - verjährt - Doch nimmer vergessen." Dies ist also beileibe kein Buch um Schuld und Sühne, von Verbrechen und Strafe. Und wie Dostojewski schreibt Ingrid Noll auch nicht. Aber immerhin wieder wie Noll. Das ist, zum vierten Mal, schon allerhand.
Ingrid Noll: "Kalt ist der Abendhauch". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1996. 246 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wohin mit der Mumie im Mondschein? Ingrid Noll gibt Ratschläge für den Hausputz im Herbst · Von Arnd Rühle
So ein Freudensatz kann ein ganzes Buch beflügeln: "Hugo kommt!" Der achtundachtzig Jahre alte Schwager hat sich bei Charlotte angekündigt. Der Besuch bei der alten Dame nach Jahrzehnten des Schweigens wirbelt viel Staub auf - für die ehemals große Liebe muß aufgeräumt werden, im Haus und in der Vergangenheit. Die beiden hatten eine innige Beziehung (mit Tochter-Folge; das weiß Hugo noch nicht); sie haben einst auch gemeinsam, handwerklich sauber, eine Leiche im Keller eingemauert und den Kaminabzug nicht vergessen. Es war nicht irgendeine Leiche, sondern der tote Körper des Mannes, der Charlotte angetraut war. Als Totgesagter aus russischer Gefangenschaft heimgekommen, steht er nächtens vor der Tür: verdreckt, verhungert, lungenkrank. Sein Tod kein Mord, sondern ein Unglücksfall: volltrunken mit dem Kopf gegen den Kohlenkasten. Das heimliche Begräbnis hat dann die Rente sichern sollen.
Nun muß die Mumie entsorgt werden im Zuge der Lebensaufräumarbeiten. Charlotte plaudert und erinnert sich: wie beschwerlich das Leben ist im Alter, wie es früher war, im Schuhgeschäfts-Elternhaus mit drei Brüdern und drei Schwestern. Was aus denen und deren Kindern geworden ist - zwanziger, dreißiger, vierziger Jahre und heute. Eine manchmal traurige, oft komische, alles in allem eine Allerweltsfamilienchronik. Sehr unterhaltsam.
Doch wo bleibt die Kriminalgeschichte, die jedermann von Ingrid Noll erwartet? Alles ehrbare Leute diesmal in Darmstadt. Und wenn der Tod zugreift, dann profitiert er von Krankheiten, von Unglücken, vom Krieg, von der Altersschwäche. Wer die früheren Bücher der Autorin kennt, der weiß allerdings mehr als die gute alte Charlotte. Beispielsweise, was es bedeutet, wenn die Lieblingsenkelin Cora zupackend staunt (denn sie ist netterweise auf ganz unkomplizierte Weise bei der Mumien-Entsorgung behilflich): "Interessant, kommt mir irgendwie bekannt vor." Sie erwartet eben, wie der Leser auch, kriminelle Energie von ihren Ahnen und scherzt deshalb mißverständlich: "Man macht so etwas schließlich nicht zum ersten Mal."
Schließlich bietet sie sogar an, die getrockneten Überreste ihres Großvaters mit nach Italien zu nehmen: "Unter meiner Terrasse ist Platz genug." Diese Terrasse kennt der Leser des zweiten Noll-Buches ("Die Häupter meiner Lieben") als Grabkammer. Mit dem fröhlich kühlen, praktisch intelligenten Luder Cora scheint sich so unter der Hand der Autorin allmählich eine kriminelle Sympathiefigur des Typs zu entwickeln, den wir als Tom Ripley bei Patricia Highsmith kennen.
Zu Ripley, Kunstkenner und Kunstsammler, würde Cora mit ihrem Interesse für Klimt und Schiele auch ganz gut passen. Sie kommt extra aus Italien angereist, um die Ausstellung in der Frankfurter Schirn zu besuchen. Onkel Hugo, ehemals Buchhändler, empfiehlt statt dessen einen Besuch auf der Buchmesse. Als literarischer Lokalpatriot unterhält er sich mit seinem Enkel Felix fachmännisch über die kritischen Geister, "für die unsere Residenzstadt bekannt ist: Merck, Büchner, Niebergall, Edschmid, Gundolf und vor allem Georg Hensel". Was den Maschinenbaustudenten zur Ergänzung reizt: "Du hast die Wohmann vergessen."
Überhaupt schafft die Autorin gern Atmosphäre in den Schicksalsläufen durch Zitate oder die Erwähnung von Kulturgrößen. Charlotte kann den "Erlkönig", und auch von Storm fällt ihr was ein und von Ringelnatz. Und Bruder Albert, der heimlich die schönen schwesterlichen Kleider anzieht und Perlenketten auffädelt, trägt Trauer nach dem Tod des Stummfilmfrauenhelden Valentino. Übrigens erschießt sich der Bedauernswerte im Alter von zwanzig Jahren, "weil niemand ihn verstanden hat".
Vom Tode ist also doch, versteckt oder hintergründig, oft die Rede, heiter und selbstverständlich. Wer stirbt, hat ausgelitten. Gegen Ende des Romans erzählen sich die Schwestern ihre Geheimnisse: "Bevor wir in die Grube fahren, sollten wir uns diese kleinen Freuden gönnen." Schwester Alice, eine Ärztin, hat einen drogensüchtigen Heiratsschwindler auf dem Gewissen. Ihrer Tochter, der humorlosen Psychotherapeutin, will sie nichts davon sagen. Probleme werden bei Ingrid Noll ohne Polizei und ohne psychologischen Beistand bewältigt, allein durch scheinbar naives, tatsächlich aber raffiniertes Erzählen.
Der Romantitel aus dem wundersamen Mondlied von Matthias Claudius kündigt es an: "So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder. Kalt ist der Abendhauch." Als die Mumie Bernhard endlich bei Mondschein im fremden Garten begraben werden kann, gibt's auf unschuldig neugierige Fragen schlagfertig die Antwort, man begrabe den Hund, einen Bernhardiner. Der Hund ist tot. Im ersten Noll-Titel war es der Hahn. Blutige Sauereien gibt es nicht; aber hundsgemein geht's manchmal schon zu.
Am Schluß, jedenfalls fürs erste, nachdem alles aufgeräumt zu sein scheint, muß Hugo wieder gehen. Jetzt aber ins Seniorenheim. Was wird er dort tun? Ganz gewiß an Ringelnatz denken: "Vorbei - verjährt - Doch nimmer vergessen." Dies ist also beileibe kein Buch um Schuld und Sühne, von Verbrechen und Strafe. Und wie Dostojewski schreibt Ingrid Noll auch nicht. Aber immerhin wieder wie Noll. Das ist, zum vierten Mal, schon allerhand.
Ingrid Noll: "Kalt ist der Abendhauch". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1996. 246 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die perfekte Mischung zwischen bürgerlicher Idylle und blankem Grauen.« Duglore Pizzini / Die Presse Die Presse