Die Behauptung von Wirtschaft und Politik, dass es zum bestehenden System keine Alternative gibt, wird von David Graeber in diesem Buch systematisch demontiert. Eine andere Wirtschaft, ein anderes Modell menschlicher Gemeinschaft ist nicht nur denkbar, sondern auch möglich und machbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.201299 Prozent Anarchisten?
Die Ansichten des Occupy-Vordenkers David Graeber
Er ist der Mann, der den Slogan "We are the 99 percent" der Demonstranten im New Yorker Zuccotti Park erfunden hat. Die Behauptung, 99 Prozent der Bevölkerung zu repräsentieren, hat der Occupy-Bewegung im Herbst 2011 global Beachtung verschafft, doch inzwischen scheint der Schwung erlahmt. Das Zeltdorf in Frankfurt vor der EZB wirkt ziemlich verschlafen, fast verlassen.
David Graeber meint dennoch, dass eine Revolution bevorstehen könnte. Der 51 Jahre alte Anthropologe, der nun Reader am Goldsmiths College in London ist, gilt als einer der Vordenker von Occupy. Während die Aktivisten eine bunte, heterogene Gruppe mit recht diffusen Vorstellungen sind, hat Graeber genaue Vorstellungen von der Revolution. Als Ziel der radikalen Elemente der "Bewegung für globale Gerechtigkeit", zu der er sich zählt, benennt er: "den Staat zerschlagen und den Kapitalismus zerstören". Danach winke das anarchistische Paradies, zwanglos, basisdemokratisch, mit weniger Arbeit und Stress.
Die vorliegenden Essays erlauben einen Blick in die politische Gedankenwelt Graebers. Ursprünglich wurden die Aufsätze in kleinen Szene-Publikationen verbreitet, dann hat die amerikanische Verlagsgruppe Random House eine Ausgabe auf den Markt geworfen. Man mag es Ironie nennen, dass eines der größten, kapitalistischen Verlagskonzerne der Welt einen Autor bewirbt, der schreibt, die "herrschenden Klassen" müssten Angst vor seinesgleichen haben, denn sie würden, "womöglich am nächsten Baum aufgeknüpft..., wenn der Durchschnittsbürger Wind von ihren Machenschaften bekämen". Man kann sich auch an Lenins Spruch erinnern, dass die Kapitalisten den Kommunisten noch den Strick verkaufen, an dem sie dann aufgehängt werden.
So weit ist es natürlich nicht. Nach Graebers Meinung hat die antikapitalistische Bewegung ein taktisches Problem: Er betont zunächst ihre Erfolge und "Siege", etwa die Großdemonstrationen gegen die Welthandelsorganisation WTO, den Internationalen Währungsfonds und die G-8-Staaten. Doch dann fangen die Kapitalisten als Ablenkung einen Krieg an. Der 11. September 2001, den Graeber immerhin nicht als CIA-Plot abtut, war demnach der Wendepunkt für die Bewegung. Danach war sie desorientiert. Statt gegen den Kapitalismus kämpfte sie nun gegen den Krieg. Nach Ansicht Graebers - der seine Thesen völlig ohne Belege aufstellt - tappte sie in die Falle "der Herrschenden". Zweifelhaft ist auch die Behauptung, die Proteste gegen die WTO seien der Grund, warum es kaum noch Fortschritte zu mehr Freihandel gegeben hat. Ob das Feststecken der Doha-Runde wirklich den ärmsten Ländern der Welt hilft, deren Agrarexporte weiterhin durch Zölle der Industriestaaten behindert werden, thematisiert Graeber nicht.
Nur am Rande kommen in der Essay-Sammlung seine Ansichten zur Schuldenproblematik vor. Hierzu hat Graeber eine anthropologisch-historische Studie vorgelegt, die - wie er meint - herkömmliche ökonomische Erklärungen auf den Kopf stellt. Die Marktwirtschaft, in der Waren gehandelt und mit Geld bezahlt werden, ist demnach eine Erfindung der Staaten und habe sich nicht evolutionär aus früheren Tauschwirtschaften herausgebildet. Geld und Geldleihen seien Instrumente zur Versklavung, sagt Graeber. Und Revolutionen habe es immer dann gegeben, wenn den Menschen die Schulden über den Kopf wuchsen.
Graeber will die moralische Norm aushebeln, dass Schulden zu zahlen sind. In der Bibel ist ein "Jubeljahr" mit Schuldenerlass und Bodenreformen erwähnt (ob es das historisch wirklich so gab, ist umstritten). So verlockend manchen ein umfassender Schuldenschnitt erscheinen mag, welche ökonomischen Konsequenzen hätte es, wenn Schuldtitel grundsätzlich unsicher werden? Es gäbe praktisch keinen Markt mehr für Fremdkapital. Staaten, Unternehmen und Bürger müssten horrende Risikoprämien zahlen. Investitionen wären kaum noch zu finanzieren.
Zu Ende gedacht, brächten David Graebers Vorschläge eine Abkehr von der hochkomplexen, arbeitsteiligen globalen Wirtschaft und eine Rückentwicklung zu primitiven Formen der Eigenwirtschaft. Für den Anthropologen, der auf Madagaskar solche Gesellschaften studiert hat, mag das eine reizvolle Vorstellung von einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft sein. Ob sich 99 Prozent der Bevölkerung eine solche Zukunft wünschen, darf doch bezweifelt werden.
PHILIP PLICKERT.
David Graeber: "Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus".
Pantheon-Verlag, München 2012, 192 Seiten, 12,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ansichten des Occupy-Vordenkers David Graeber
Er ist der Mann, der den Slogan "We are the 99 percent" der Demonstranten im New Yorker Zuccotti Park erfunden hat. Die Behauptung, 99 Prozent der Bevölkerung zu repräsentieren, hat der Occupy-Bewegung im Herbst 2011 global Beachtung verschafft, doch inzwischen scheint der Schwung erlahmt. Das Zeltdorf in Frankfurt vor der EZB wirkt ziemlich verschlafen, fast verlassen.
David Graeber meint dennoch, dass eine Revolution bevorstehen könnte. Der 51 Jahre alte Anthropologe, der nun Reader am Goldsmiths College in London ist, gilt als einer der Vordenker von Occupy. Während die Aktivisten eine bunte, heterogene Gruppe mit recht diffusen Vorstellungen sind, hat Graeber genaue Vorstellungen von der Revolution. Als Ziel der radikalen Elemente der "Bewegung für globale Gerechtigkeit", zu der er sich zählt, benennt er: "den Staat zerschlagen und den Kapitalismus zerstören". Danach winke das anarchistische Paradies, zwanglos, basisdemokratisch, mit weniger Arbeit und Stress.
Die vorliegenden Essays erlauben einen Blick in die politische Gedankenwelt Graebers. Ursprünglich wurden die Aufsätze in kleinen Szene-Publikationen verbreitet, dann hat die amerikanische Verlagsgruppe Random House eine Ausgabe auf den Markt geworfen. Man mag es Ironie nennen, dass eines der größten, kapitalistischen Verlagskonzerne der Welt einen Autor bewirbt, der schreibt, die "herrschenden Klassen" müssten Angst vor seinesgleichen haben, denn sie würden, "womöglich am nächsten Baum aufgeknüpft..., wenn der Durchschnittsbürger Wind von ihren Machenschaften bekämen". Man kann sich auch an Lenins Spruch erinnern, dass die Kapitalisten den Kommunisten noch den Strick verkaufen, an dem sie dann aufgehängt werden.
So weit ist es natürlich nicht. Nach Graebers Meinung hat die antikapitalistische Bewegung ein taktisches Problem: Er betont zunächst ihre Erfolge und "Siege", etwa die Großdemonstrationen gegen die Welthandelsorganisation WTO, den Internationalen Währungsfonds und die G-8-Staaten. Doch dann fangen die Kapitalisten als Ablenkung einen Krieg an. Der 11. September 2001, den Graeber immerhin nicht als CIA-Plot abtut, war demnach der Wendepunkt für die Bewegung. Danach war sie desorientiert. Statt gegen den Kapitalismus kämpfte sie nun gegen den Krieg. Nach Ansicht Graebers - der seine Thesen völlig ohne Belege aufstellt - tappte sie in die Falle "der Herrschenden". Zweifelhaft ist auch die Behauptung, die Proteste gegen die WTO seien der Grund, warum es kaum noch Fortschritte zu mehr Freihandel gegeben hat. Ob das Feststecken der Doha-Runde wirklich den ärmsten Ländern der Welt hilft, deren Agrarexporte weiterhin durch Zölle der Industriestaaten behindert werden, thematisiert Graeber nicht.
Nur am Rande kommen in der Essay-Sammlung seine Ansichten zur Schuldenproblematik vor. Hierzu hat Graeber eine anthropologisch-historische Studie vorgelegt, die - wie er meint - herkömmliche ökonomische Erklärungen auf den Kopf stellt. Die Marktwirtschaft, in der Waren gehandelt und mit Geld bezahlt werden, ist demnach eine Erfindung der Staaten und habe sich nicht evolutionär aus früheren Tauschwirtschaften herausgebildet. Geld und Geldleihen seien Instrumente zur Versklavung, sagt Graeber. Und Revolutionen habe es immer dann gegeben, wenn den Menschen die Schulden über den Kopf wuchsen.
Graeber will die moralische Norm aushebeln, dass Schulden zu zahlen sind. In der Bibel ist ein "Jubeljahr" mit Schuldenerlass und Bodenreformen erwähnt (ob es das historisch wirklich so gab, ist umstritten). So verlockend manchen ein umfassender Schuldenschnitt erscheinen mag, welche ökonomischen Konsequenzen hätte es, wenn Schuldtitel grundsätzlich unsicher werden? Es gäbe praktisch keinen Markt mehr für Fremdkapital. Staaten, Unternehmen und Bürger müssten horrende Risikoprämien zahlen. Investitionen wären kaum noch zu finanzieren.
Zu Ende gedacht, brächten David Graebers Vorschläge eine Abkehr von der hochkomplexen, arbeitsteiligen globalen Wirtschaft und eine Rückentwicklung zu primitiven Formen der Eigenwirtschaft. Für den Anthropologen, der auf Madagaskar solche Gesellschaften studiert hat, mag das eine reizvolle Vorstellung von einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft sein. Ob sich 99 Prozent der Bevölkerung eine solche Zukunft wünschen, darf doch bezweifelt werden.
PHILIP PLICKERT.
David Graeber: "Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus".
Pantheon-Verlag, München 2012, 192 Seiten, 12,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Christian Schlüter hat David Graebers "Kampfschrift" wider den "Kamikaze-Kapitalismus" mit Gewinn gelesen. Zwar scheint dem Ethnologen und Occupy-Aktivisten der Kapitalismus längst am Ende. Solange der Spuk aber nicht ganz vorbei ist, kann noch einiges schieflaufen. Die Warnungen des Autors scheinen Schlüter berechtigt. Graeber macht für ihn klar, dass die Occupy-Bewegung sich die Kampfrichtung nicht vorschreiben lassen will. Besonders interessant findet er in diesem Zusammenhang die kritische Auseinandersetzung mit den Ikonen des anti-kapitalistischen Widerstands wie Antonio Negri, Michael Hardt, Judith Revel, Michel Foucault, Lois Althusser, Guy Debord oder Cornelius Castoriades.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Besonders aufschlussreich sind die theoretischen, scharf in der Sache, aber locker im Ton gehaltenen Auseinandersetzungen mit den linken Ikonen des anti-kapitalistischen Widerstands.« Frankfurter Rundschau, 01.06.2012
»Insgesamt ist diese Sammlung ein Graeber >at his best<: konkret, der Praxis verpflichtet, ohne mit theoretischem Background hinter dem Berg zu halten.«