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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wider die Korrelation von Schweinepreisen und Wahlverhalten: Thomas Nipperdey stellt noch einmal die Frage nach der Objektivität in der Geschichtsschreibung.
Im Studium galten sie als Buch gewordene Wahrheit, die Gesamtdarstellungen aus dem Beck-Verlag: große, schwere Bände im weißen Schutzumschlag, darauf in kleiner, farbiger Schrift die Titel. Prunkstücke studentischer Regale, deren gediegene Ausstattung Autorität atmete und mit denen man in Hausarbeiten nicht viel falsch machen konnte, beliebt auch bei Nichthistorikern. Sie stammten von Gordon Craig, Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler, und das Wort von den "Meistererzählungen" schien Bücher wie Autoren zu bezeichnen.
Noch immer zählen die Tausendseiter zum historischen Repertoire, wenngleich die wissenschaftlichen Moden nicht spurlos an ihnen vorübergegangen sind. Craigs Name findet sich immer seltener in den Fußnotenapparaten, und auch Nipperdeys dreibändige "Deutsche Geschichte 1800 bis 1918" hat Patina angesetzt, da es längst ein Gemeinplatz ist, das Kaiserreich transnational zu lesen und eher von Weltgeschichten als von den Häutungen des deutschen Nationalstaats zu erzählen. C. H. Beck mag Nipperdey indes noch nicht der disziplinären Familienforschung überlassen und gibt in diesem Jahr eine Neuauflage der Deutschen Geschichte heraus. Als Begleitband wird unter dem fragenden Titel "Kann Geschichte objektiv sein?" eine vom Berliner Zeithistoriker Paul Nolte besorgte Auswahl von Nipperdeys Aufsätzen und Essays veröffentlicht. Sie erhellen sein Geschichtsbild und spiegeln zentrale Punkte, die sein Spätwerk episch ausbreiten wird: die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Modernitätserfahrungen und -krisen, die Kontinuitätslinien ins "Dritte Reich".
Eine Lektürehilfe für die "Deutsche Geschichte" bietet der Band indes nicht. Einzig der Aufsatz über die "anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft" diskutiert explizit Methoden und Theorien, derer sich Nipperdey bedient, und das Ziel einer Histoire totale, das ihm vor Augen steht. Sein Plädoyer für einen umfassenden Ansatz, der "die "menschlich-historische Welt in einem Dreiecksverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Person konstituiert", dabei die Kultur- nicht zur Geistesgeschichte verkürzt und Wahrnehmungen wie Emotionen als historischen Gegenstand erschließt, ist von unverminderter Aktualität.
Gleiches lässt sich vom titelgebenden Essay - der Frage nach der Objektivität - nicht sagen. Sowenig die Standortgebundenheit einer jeden historischen Betrachtung heute noch überrascht, so wenig überzeugt die Annahme, allein Sonderheiten wie "Hitler" legitimierten Werturteile, weil sie gegen den "ethischen Basiskonsens der Menschheit" verstießen. Doch wer bestimmt die Ausnahmen, und auf welchen Regelfall beziehen sie sich? Schließen wir Stalin und Pol Pot ein, nicht aber Suharto und Pinochet, Trotha und Dyer? So sympathisch es ist, am Fernziel Wahrheit festzuhalten, das Objektivitätsproblem lässt sich auf diese Weise nicht lösen. Am Ende ist es das Fragezeichen, das den Essay auffängt.
Mehrere Aufsätze sind gewissermaßen Vorstudien seines Opus magnum, etwa die Überlegungen zur Parteiengeschichte, über Kunst und Religiosität um 1900 oder der wunderbare Aufsatz zu "Nationalidee und Nationaldenkmal". Nipperdey systematisiert erst die unzähligen Denkmäler, die im Gefolge der Befreiungskriege entstanden, dann attestiert er dem deutschen Nationalbewusstsein einen grundsätzlichen Mangel an "ruhiger Gleichgewichtslage", eine Formulierung, die sich später auch in der "Deutschen Geschichte" finden wird.
Sonst ein Freund sparsamen Gebrauchs von Quellenzitaten, bedient sich Nipperdey ihrer hier wiederholt, um den heiligen Ernst der Denkmalbauer zu schildern. In der kraftmeiernden Rhetorik, die es ohne teutsche Treueinigkeit und Züchtigung der welschen Feinde nicht machen wollte, fängt er eine zentrale Facette wilhelminischer Mentalitätsgeschichte ein. Damit gelingt ebenjene anthropologische Beobachtung, die er zuvor umrissen hat, und mittels heuristischer Verfremdungseffekte wird die "Oberlehrerideologie" des Völkerschlachtdenkmals sichtbar.
Ironisch bedacht werden auch die Bielefelder Sozialhistoriker, mit denen Nipperdey in reger Debatte stand, auch wenn - seinen berühmten Anfangssätzen von den Epochengestalten Napoleon und Bismarck zum Trotz - ihn gar nicht so wenig mit den Kollegen verband. Ihre Verdienste betont er mehrfach, als Defizite markiert er den "verkürzten Begriff des sozialen Phänomens" und die Vernachlässigung des Individuums. Mokant wird die sozialhistorische Methodik als "Korrelationen zwischen Schweinepreisen und Wahlverhalten" beschrieben, und auch die Verbindung von "Wohnort und Selbstmord" mag man als vergnügte Spitze gegen die Kollegen aus Ostwestfalen auffassen.
Die eigentliche Ironie besteht darin, dass es ausgerechnet der als Neohistorist Geschmähte ist, der sich in den siebziger Jahren auf jene systemtheoretische Schule Talcott Parsons' (und Niklas Luhmanns) bezieht, die Wehler später als historisch weitgehend unbrauchbares, da zu abstraktes Theoriegerüst disqualifizieren wird. Mit Wehler gerät ein ums andere Mal die Kontinuitätsthese ins Visier. Mehrere Essays setzen sich mit jenen historischen Erklärungen auseinander, die alle deutsche Geschichte auf Hitler zuschreiben oder von diesem zurück - "Tacitushypothesen", wie Nipperdey mit Dahrendorf spöttisch kommentiert: unterkomplex und irreführend.
Er besteht auf der Offenheit der Geschichte, fordert Raum für kontingente Ereignisse und Entwicklungen. Sosehr die krisenhaften Modernisierungserfahrungen die Herausbildung einer stabilen, populären Demokratie unterminiert hätten, es habe kein gerader Weg vom Kaiserreich in den Nationalsozialismus geführt. Und umgekehrt reichten Kontinuitäten eben auch nach Weimar und Bonn. Die Vielzahl der Verbindungslinien aber relativiere "jede einzelne". Das ist dann nicht mehr weit von jenem Fazit, das Nipperdey am Schluss ziehen wird: Geschichte als Grautöne in unendlichen Schattierungen.
Das Vielfältige, das Disparate, das Widersprüchliche: das sind auch die Charakteristika des Nipperdey'schen Wilhelminismus. Zwar weist er die nostalgische Rückschau der Meinecke, Ritter und Dehio zurück, doch zeichnet die eingangs abgedruckte autobiographische Skizze - anrührend nicht trotz, sondern wegen ihrer distanzierten Sprache - Kindheit und Jugend des Historikers als Ausläufer jenes bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts, um das sein Werk kreist.
Abgesehen von den Erinnerungen, sind die abgedruckten Texte indes wissenschaftlich voraussetzungsreich und keine einfache Lektüre. Nipperdey macht es seinem Publikum ebenso wenig leicht wie sich selbst. Seine Argumentationen schlagen, bei aller Systematik, immer wieder Haken, sind mit Einschränkungen und Ergänzungen versehen, verweisen auf Gegensätze und Ungleichzeitiges. Geschichte ist bei Nipperdey nur komplex und kontingent zu haben.
KIM PRIEMEL
Thomas Nipperdey: "Kann Geschichte objektiv sein?" Historische Essays. Verlag C. H. Beck, München 2013. 328 S., br., 16,95 [Euro].
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