Freiheit und Demokratie, so der Investor Peter Thiel 2009, seien nicht länger kompatibel. Wer die Freiheit liebe, müsse daher versuchen, der Politik in all ihren Formen zu entkommen. Zuflucht suchen könnten Libertäre im Cyberspace, im Weltraum und auf dem offenen Meer. Das mag verblasen klingen, steht aber in einer jahrzehntealten Tradition marktradikaler Ideen: Denker wie Milton Friedman begeisterten sich für das noch unter britischer Oberhoheit stehende Hongkong; Margaret Thatcher träumte von einem Singapur an der Themse.
In seinem Buch Globalisten hatte sich Quinn Slobodian mit Versuchen befasst, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch ihre Übertragung an internationale Organisationen. In Kapitalismus ohne Demokratie geht es nun um eine andere Lösung für das von Thiel beklagte Problem: die Zerschlagung der Welt in Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen.
Quinn Slobodian nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der neoliberalen Utopien. Sie führt nach Dubai und Liechtenstein, ins vom Bürgerkrieg zerrüttete Somalia und zu Elon Musks texanischem Weltraumbahnhof. Und sie weitet den Blick auf eine mögliche Zukunft, die uns Sorgen machen sollte.
In seinem Buch Globalisten hatte sich Quinn Slobodian mit Versuchen befasst, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch ihre Übertragung an internationale Organisationen. In Kapitalismus ohne Demokratie geht es nun um eine andere Lösung für das von Thiel beklagte Problem: die Zerschlagung der Welt in Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen.
Quinn Slobodian nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der neoliberalen Utopien. Sie führt nach Dubai und Liechtenstein, ins vom Bürgerkrieg zerrüttete Somalia und zu Elon Musks texanischem Weltraumbahnhof. Und sie weitet den Blick auf eine mögliche Zukunft, die uns Sorgen machen sollte.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bei Quinn Slobodian lernt der Rezensent Lennart Laberenz, wie ein entfesselter Kapitalismus sich in der Welt "Zonen" anlegt, wo er Kapital stapelt und den Staat ausschließt, um den Reichtum möglichst steuerfrei und umgeben von "einer weitgehend rechtlosen Armee aus Dienstmädchen, Gärtnern, Fahrerinnen, Boten oder Fabrikarbeitern" genießen zu können. Als Zonen dieses "Zersplitterungskapitalismus" definiert Slobodian laut Rezensent etwa Kunstlager, Gemeinden mit sittenwidriger Gewerbesteuer, Steuerparadiese, aber auch Gated Communities. Sie alle sorgen für eine zunehmende Ungleichheit zwischen Arm und Reich, und dies besonders auch in Deutschland, wo Jahr für Jahr 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden, meist steuerfrei, so Laberenz. Der Rezensent resümiert das Buch im wesentlichen, ohne groß die Argumentation Slobodians einzuordnen oder zu bewerten. Aber sein Entsetzen über Slobodians Befunde versteht sich auch von selbst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Slobodian widmet den düsteren Experimenten wie ihren zynischen Visionären ein beeindruckend akribisch recherchiertes und dabei erfreulich pointiert geschriebenes Buch, das wir als Warnung vor einer (bereits gegenwärtigen) Zukunft verstehen müssen ...« Tom Wohlfarth taz. die tageszeitung 20231208
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2024Eine marktradikale Obsession macht Karriere
Land und Meer: Quinn Slobodian setzt sich auf die Spur der anarchokapitalistischen Bewegung
Mit dem Wahlsieg Javier Mileis in Argentinien ist ein erklärter Anarchokapitalist in einem der führenden Staaten Lateinamerikas an die Macht gekommen. Der Anarchokapitalist im Präsidentenamt ist so etwas wie ein halbseidener Insolvenzverwalter des Leviathans. Schließlich will diese Spielart des Neoliberalismus staatliche Herrschaft nicht auf die Rolle eines Garanten von freien Märkten reduzieren, sondern überhaupt zerschlagen und alle staatlichen Aufgaben bis hin zur Strafverfolgung "privatisieren", das heißt in monetarisierte Tauschbeziehungen verwandeln. Das anarchokapitalistische Utopia sind Privatstädte, souveräne Eigentümer, Steuerfreiheit und Kryptowährungen.
Quinn Slobodian, der vor einigen Jahren durch eine Ideengeschichte des Neoliberalismus bekannt geworden ist, erzählt in seinem neuen, jetzt auf Deutsch erschienenen Buch von der Entstehung der globalen anarchokapitalistischen Bewegung am Ende des sozialliberalen Zeitalters. Die späten Siebzigerjahre als Beginn des inneren Zerfalls der westlichen Demokratien und ihrer Sozialmodelle sind dabei kein neues Deutungsschema. Autoren wie Grégoire Chamayou, Philipp Ther, Philipp Sarasin oder Lutz Raphael haben über Aspekte dieser Epochenschwelle in den letzten Jahren viel beachtete Bücher geschrieben: die Formierung der Antigewerkschaftsbewegung, die Weltwirtschaftspolitik nach Bretton Woods und dem Ölpreisschock, die supranationale Garantie freier Märkte und das Ende des Arbeiters.
Der Aspekt, den Slobodian diesen Deutungen hinzufügt, betrifft die Raumordnung des globalen Kapitalismus. Aus dem Ende der Imperien ist nämlich keine Welt der Nationalstaaten hervorgegangen, sondern eine perforierte Heterotopie aus Staaten, Unternehmen und konkurrierenden Marktregeln, ein in Sonderwirtschaftszonen zersplitterter Kapitalismus, wie Slobodian das nennt.
In elf Fallstudien verfolgt Slobodian die intellektuelle Karriere einer marktradikalen Obsession. Ihr zufolge sind Massendemokratien nichts als Hindernisse wirtschaftlicher Freiheit. Allgemeines Wahlrecht heißt nämlich möglicherweise: höhere Unternehmensteuern, teure öffentliche Bildung, Sozialleistungen und Umweltstandards. Die Tragik dieses Marktradikalismus erwähnt Slobodian nicht: Wo sie Fuß fasste, wurde eine Politik für den Geschäftsklimaindex und gegen den Wohlfahrtsstaat tatsächlich mehrheitsfähig, aber in Massendemokratien und nicht ohne sie.
Den Crack-Up Capitalists - den schönen Begriff gibt der deutsche Titel leider nicht wieder - erschienen aber Sonderwirtschaftszonen und utopische Enklaven paradiesischer Unternehmerfreiheit stets zugleich als politische Lösung und als Imagination einer besseren Zukunft. Slobodians Geschichte beginnt bei der Faszination der Thatcheristen für die Sonderwirtschaftszone Hongkong, übrigens die erste Verfassung mit einer Schuldenbremse, und den Nachahmerprojekten in Großbritannien und den USA. Das ökonomische Prinzip dieser riesigen Business Improvement Districts ist immer dasselbe: steuerliche und regulatorische Privilegien sowie geringe Sozialstandards, dadurch billige, oft pendelnde Arbeitskräfte, dadurch Attraktion von Kapital und fulminante Grundstückspreise. In Rankings wie dem Freedom House Index, mit denen ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten gemessen werden, geht es damit ebenso zuverlässig wie rasant auf Spitzenplätze.
Das Modell Hongkong war so nicht geplant, sondern entstand im Zwischenraum zwischen der Ablösung der britischen Kolonialherrschaft und dem wirtschaftlichen Liberalisierungskurs Chinas unter Deng Xiaoping. "Wie aber in der Natur erweist sich auch in der Wirtschaft das, was anfangs wie eine Fehlentwicklung wirkt, oft als eine Mutation, die gut an eine veränderte Umwelt angepasst ist: ein genetischer Ausreißer wird schließlich zum dominanten Typus." Es folgten der Aufstieg Singapurs, diesmal mit einer stärkeren politischen Rolle des Zwergstaates bei der Durchsetzung eines autoritären Sozialmodells, Sonderwirtschaftszonen im Südafrika nach der Apartheid, der Boom der Enklave Liechtenstein im Binnenmarkt und der Aufschwung von Gated Communities in der Krise der amerikanischen Städte. Am Schluss stehen Charterstadtprojekte in Honduras, quasistaatliche Glitzerwelten wie Dubai und Tech-Utopien postpolitischer Assoziation im Metaverse, die digitale Sezession nebst eigener Kryptowährung.
All das erzählt Slobodian in flottem Plauderton, der um moralische Urteile nie verlegen ist. Die Geschichte scheint gut, weil der Kapitalismus schlecht ist. Vieles kennt man schon: Donald Trump tritt auf als Virtuose der Sonderwirtschaftszone, dessen Immobilienprojekte meistens auf der Einräumung von Steuervorteilen beruhten. Boris Johnson hing noch als Premier der Idee an, die britische Insel nach dem Brexit aufzusplittern und durch viele Freihäfen innere Offshore-Zonen zu errichten. Anekdotisch stark sind auch die bizarren Phantasien von Milton Friedmans Sohn David, der als Harvard-Student nicht nur vom Anarchokapitalismus träumte, sondern sich in Rollenspielen eines wohlhabenden Clubs eine mittelalterliche Welt der Privatfehden schuf.
An dem, was Slobodian eine Ideengeschichte der Ökonomie nennt, fällt allerdings zunächst einmal die vernachlässigte Ökonomiegeschichte auf. Sonderwirtschaftszonen gab es lange vor Hongkong und dem Neoliberalismus. Die Hansestadt Hamburg etwa verdankt ihrem Deal mit Bismarck beim Beitritt zum Deutschen Reich den Freihafen und mit ihm viel ihres Reichtums. Zieht man den Rahmen globaler, so ließe sich auch die Bundesrepublik des Wirtschaftswunders, die früher als alle anderen Staaten auf Niedrigsteuerpolitik, schwache makroökonomische Interventionen und eine harte Währung setzte und folgerichtig den Ordoliberalismus dogmatisierte, als Sonderwirtschaftszone des Westens verstehen.
Auch ist die historische Folie von Slobodians Verfallserzählung, das Zerrbild sozioökonomisch geschlossener Wohlfahrtsstaaten, in denen Demokratie und Kapitalismus koexistierten, eher fragwürdig. Das zeigen etwa Torben Iversens und David Soskices Untersuchungen zur Wahlverwandtschaft von Kapitalismus und Demokratie (F.A.Z. vom 14. August 2019). Dass die Geschichte der Sonderwirtschaftszonen vor allem eine Geschichte transnationaler Unternehmen und ihrer Durchsetzung des Common-Law-Regimes aus Delaware, London oder New York gegenüber Staaten ist, liegt auf der Hand, wird aber nicht näher ausgeführt. Diese Unternehmen brauchen ihre heimatlichen Rechtsordnungen nicht, sie brauchen nur irgendeinen Staat oder Quasistaat, der ihnen durch internationales Recht eine vorteilhafte Stellung verschafft.
Überhaupt scheint es für Slobodian eigentlich gar keine Probleme gegeben zu haben, bevor die Marktradikalen welche schufen. Weder interessieren ihn die tatsächlichen Probleme des fordistischen Wachstumsmodells in den Siebzigerjahren noch die jeweils ganz andere Ausgangslage der ostasiatischen Länder, Somalias oder der Arabischen Halbinsel. Die Zonen der ehemaligen Kolonien waren schließlich keine Ausgrenzungen aus Staaten. Die Alternative staatlich regulierter Volkswirtschaften stand ihnen nicht zur Verfügung. Stimmen aus diesen Ländern kommen deswegen auch kaum vor.
Das Buch ist dennoch lesenswert, weil es eine Fülle von Material für einen Paradigmenwechsel bietet, für den Slobodian nur keinen Sinn und auch kein theoretisches Rüstzeug hat. So gut wie alle Sonderwirtschaftszonen außerhalb des Westens liegen am Meer, Hongkong und Singapur ebenso wie Honduras und Neom. Ihre politische Ausgliederung aus dem staatlichen Territorium ist nicht zuletzt ein sprechender Beleg für eine neue Stufe der zuerst von Hegel beschriebenen kapitalistischen Dialektik von Land und Meer. Seit es das freie Meer gibt, gibt es ein transnationales Recht globaler Unternehmen, das aus Prinzip nicht staatlich ist. Ein Fachbuch für Schifffahrtskaufleute ist deswegen heute eine interessantere Beschreibungsform der Organisation von globalen Märkten und der Verbindungslinien von Produktion und Handel als das staatliche Privatrecht.
Das hieße: Im Anarchokapitalismus verabschiedet sich die politische Theorie des Kapitalismus vom Land und der Industriegesellschaft und bezieht den Standpunkt der Freihäfen und der Oligarchenyachten. Liam Campling und Alejandro Colás haben über Geschichte und Gegenwart dieser maritimen Seite des Kapitalismus vor Kurzem mit "Capitalism and the Sea" ein großartiges Buch geschrieben. Singapurs Außenminister wusste schon 1972: "Unser Hafen macht die Welt zu unserem Hinterland." Das Sonderrecht der Sonderwirtschaftszonen ist, so gesehen, nichts anderes als das imperiale Recht der See, das sich ein Stück weit auf das Land vorgerobbt hat, nachdem Eisenbahnen und Fabriken, die industrialisiertes Land und Meer verbanden, ihre Bedeutung verloren. An den Crack-up-Kapitalisten kann man dann zwar immer noch ihren primitiven Freiheitsbegriff und ihr Ressentiment gegen die Massendemokratie skandalisieren. Ihre frühe Einsicht in die globale Lage nach den Trente Glorieuses ist aber verblüffend. FLORIAN MEINEL
Quinn Slobodian: "Kapitalismus ohne Demokratie". Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 427 S., Abb., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Land und Meer: Quinn Slobodian setzt sich auf die Spur der anarchokapitalistischen Bewegung
Mit dem Wahlsieg Javier Mileis in Argentinien ist ein erklärter Anarchokapitalist in einem der führenden Staaten Lateinamerikas an die Macht gekommen. Der Anarchokapitalist im Präsidentenamt ist so etwas wie ein halbseidener Insolvenzverwalter des Leviathans. Schließlich will diese Spielart des Neoliberalismus staatliche Herrschaft nicht auf die Rolle eines Garanten von freien Märkten reduzieren, sondern überhaupt zerschlagen und alle staatlichen Aufgaben bis hin zur Strafverfolgung "privatisieren", das heißt in monetarisierte Tauschbeziehungen verwandeln. Das anarchokapitalistische Utopia sind Privatstädte, souveräne Eigentümer, Steuerfreiheit und Kryptowährungen.
Quinn Slobodian, der vor einigen Jahren durch eine Ideengeschichte des Neoliberalismus bekannt geworden ist, erzählt in seinem neuen, jetzt auf Deutsch erschienenen Buch von der Entstehung der globalen anarchokapitalistischen Bewegung am Ende des sozialliberalen Zeitalters. Die späten Siebzigerjahre als Beginn des inneren Zerfalls der westlichen Demokratien und ihrer Sozialmodelle sind dabei kein neues Deutungsschema. Autoren wie Grégoire Chamayou, Philipp Ther, Philipp Sarasin oder Lutz Raphael haben über Aspekte dieser Epochenschwelle in den letzten Jahren viel beachtete Bücher geschrieben: die Formierung der Antigewerkschaftsbewegung, die Weltwirtschaftspolitik nach Bretton Woods und dem Ölpreisschock, die supranationale Garantie freier Märkte und das Ende des Arbeiters.
Der Aspekt, den Slobodian diesen Deutungen hinzufügt, betrifft die Raumordnung des globalen Kapitalismus. Aus dem Ende der Imperien ist nämlich keine Welt der Nationalstaaten hervorgegangen, sondern eine perforierte Heterotopie aus Staaten, Unternehmen und konkurrierenden Marktregeln, ein in Sonderwirtschaftszonen zersplitterter Kapitalismus, wie Slobodian das nennt.
In elf Fallstudien verfolgt Slobodian die intellektuelle Karriere einer marktradikalen Obsession. Ihr zufolge sind Massendemokratien nichts als Hindernisse wirtschaftlicher Freiheit. Allgemeines Wahlrecht heißt nämlich möglicherweise: höhere Unternehmensteuern, teure öffentliche Bildung, Sozialleistungen und Umweltstandards. Die Tragik dieses Marktradikalismus erwähnt Slobodian nicht: Wo sie Fuß fasste, wurde eine Politik für den Geschäftsklimaindex und gegen den Wohlfahrtsstaat tatsächlich mehrheitsfähig, aber in Massendemokratien und nicht ohne sie.
Den Crack-Up Capitalists - den schönen Begriff gibt der deutsche Titel leider nicht wieder - erschienen aber Sonderwirtschaftszonen und utopische Enklaven paradiesischer Unternehmerfreiheit stets zugleich als politische Lösung und als Imagination einer besseren Zukunft. Slobodians Geschichte beginnt bei der Faszination der Thatcheristen für die Sonderwirtschaftszone Hongkong, übrigens die erste Verfassung mit einer Schuldenbremse, und den Nachahmerprojekten in Großbritannien und den USA. Das ökonomische Prinzip dieser riesigen Business Improvement Districts ist immer dasselbe: steuerliche und regulatorische Privilegien sowie geringe Sozialstandards, dadurch billige, oft pendelnde Arbeitskräfte, dadurch Attraktion von Kapital und fulminante Grundstückspreise. In Rankings wie dem Freedom House Index, mit denen ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten gemessen werden, geht es damit ebenso zuverlässig wie rasant auf Spitzenplätze.
Das Modell Hongkong war so nicht geplant, sondern entstand im Zwischenraum zwischen der Ablösung der britischen Kolonialherrschaft und dem wirtschaftlichen Liberalisierungskurs Chinas unter Deng Xiaoping. "Wie aber in der Natur erweist sich auch in der Wirtschaft das, was anfangs wie eine Fehlentwicklung wirkt, oft als eine Mutation, die gut an eine veränderte Umwelt angepasst ist: ein genetischer Ausreißer wird schließlich zum dominanten Typus." Es folgten der Aufstieg Singapurs, diesmal mit einer stärkeren politischen Rolle des Zwergstaates bei der Durchsetzung eines autoritären Sozialmodells, Sonderwirtschaftszonen im Südafrika nach der Apartheid, der Boom der Enklave Liechtenstein im Binnenmarkt und der Aufschwung von Gated Communities in der Krise der amerikanischen Städte. Am Schluss stehen Charterstadtprojekte in Honduras, quasistaatliche Glitzerwelten wie Dubai und Tech-Utopien postpolitischer Assoziation im Metaverse, die digitale Sezession nebst eigener Kryptowährung.
All das erzählt Slobodian in flottem Plauderton, der um moralische Urteile nie verlegen ist. Die Geschichte scheint gut, weil der Kapitalismus schlecht ist. Vieles kennt man schon: Donald Trump tritt auf als Virtuose der Sonderwirtschaftszone, dessen Immobilienprojekte meistens auf der Einräumung von Steuervorteilen beruhten. Boris Johnson hing noch als Premier der Idee an, die britische Insel nach dem Brexit aufzusplittern und durch viele Freihäfen innere Offshore-Zonen zu errichten. Anekdotisch stark sind auch die bizarren Phantasien von Milton Friedmans Sohn David, der als Harvard-Student nicht nur vom Anarchokapitalismus träumte, sondern sich in Rollenspielen eines wohlhabenden Clubs eine mittelalterliche Welt der Privatfehden schuf.
An dem, was Slobodian eine Ideengeschichte der Ökonomie nennt, fällt allerdings zunächst einmal die vernachlässigte Ökonomiegeschichte auf. Sonderwirtschaftszonen gab es lange vor Hongkong und dem Neoliberalismus. Die Hansestadt Hamburg etwa verdankt ihrem Deal mit Bismarck beim Beitritt zum Deutschen Reich den Freihafen und mit ihm viel ihres Reichtums. Zieht man den Rahmen globaler, so ließe sich auch die Bundesrepublik des Wirtschaftswunders, die früher als alle anderen Staaten auf Niedrigsteuerpolitik, schwache makroökonomische Interventionen und eine harte Währung setzte und folgerichtig den Ordoliberalismus dogmatisierte, als Sonderwirtschaftszone des Westens verstehen.
Auch ist die historische Folie von Slobodians Verfallserzählung, das Zerrbild sozioökonomisch geschlossener Wohlfahrtsstaaten, in denen Demokratie und Kapitalismus koexistierten, eher fragwürdig. Das zeigen etwa Torben Iversens und David Soskices Untersuchungen zur Wahlverwandtschaft von Kapitalismus und Demokratie (F.A.Z. vom 14. August 2019). Dass die Geschichte der Sonderwirtschaftszonen vor allem eine Geschichte transnationaler Unternehmen und ihrer Durchsetzung des Common-Law-Regimes aus Delaware, London oder New York gegenüber Staaten ist, liegt auf der Hand, wird aber nicht näher ausgeführt. Diese Unternehmen brauchen ihre heimatlichen Rechtsordnungen nicht, sie brauchen nur irgendeinen Staat oder Quasistaat, der ihnen durch internationales Recht eine vorteilhafte Stellung verschafft.
Überhaupt scheint es für Slobodian eigentlich gar keine Probleme gegeben zu haben, bevor die Marktradikalen welche schufen. Weder interessieren ihn die tatsächlichen Probleme des fordistischen Wachstumsmodells in den Siebzigerjahren noch die jeweils ganz andere Ausgangslage der ostasiatischen Länder, Somalias oder der Arabischen Halbinsel. Die Zonen der ehemaligen Kolonien waren schließlich keine Ausgrenzungen aus Staaten. Die Alternative staatlich regulierter Volkswirtschaften stand ihnen nicht zur Verfügung. Stimmen aus diesen Ländern kommen deswegen auch kaum vor.
Das Buch ist dennoch lesenswert, weil es eine Fülle von Material für einen Paradigmenwechsel bietet, für den Slobodian nur keinen Sinn und auch kein theoretisches Rüstzeug hat. So gut wie alle Sonderwirtschaftszonen außerhalb des Westens liegen am Meer, Hongkong und Singapur ebenso wie Honduras und Neom. Ihre politische Ausgliederung aus dem staatlichen Territorium ist nicht zuletzt ein sprechender Beleg für eine neue Stufe der zuerst von Hegel beschriebenen kapitalistischen Dialektik von Land und Meer. Seit es das freie Meer gibt, gibt es ein transnationales Recht globaler Unternehmen, das aus Prinzip nicht staatlich ist. Ein Fachbuch für Schifffahrtskaufleute ist deswegen heute eine interessantere Beschreibungsform der Organisation von globalen Märkten und der Verbindungslinien von Produktion und Handel als das staatliche Privatrecht.
Das hieße: Im Anarchokapitalismus verabschiedet sich die politische Theorie des Kapitalismus vom Land und der Industriegesellschaft und bezieht den Standpunkt der Freihäfen und der Oligarchenyachten. Liam Campling und Alejandro Colás haben über Geschichte und Gegenwart dieser maritimen Seite des Kapitalismus vor Kurzem mit "Capitalism and the Sea" ein großartiges Buch geschrieben. Singapurs Außenminister wusste schon 1972: "Unser Hafen macht die Welt zu unserem Hinterland." Das Sonderrecht der Sonderwirtschaftszonen ist, so gesehen, nichts anderes als das imperiale Recht der See, das sich ein Stück weit auf das Land vorgerobbt hat, nachdem Eisenbahnen und Fabriken, die industrialisiertes Land und Meer verbanden, ihre Bedeutung verloren. An den Crack-up-Kapitalisten kann man dann zwar immer noch ihren primitiven Freiheitsbegriff und ihr Ressentiment gegen die Massendemokratie skandalisieren. Ihre frühe Einsicht in die globale Lage nach den Trente Glorieuses ist aber verblüffend. FLORIAN MEINEL
Quinn Slobodian: "Kapitalismus ohne Demokratie". Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 427 S., Abb., geb., 32,- Euro.
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