Millionen sind mit Winnetou und Old Shatterhand aufgewachsen. Enis Maci und Mazlum Nergiz nicht. In diesem Band gehen sie der Sache auf den Grund: Was hat es auf sich mit dem Lügen und dem Überleben? Was trennt den Fake von seinem Vorbild? Und wann steht sie endlich, die Autobahn vom wilden Kurdistan bis ins Land der Skipetaren?
Mit dabei: ein Autor, der sich für den Helden seiner eigenen Romane hält. Gebirge, die in Sachsen liegen, aber Utah im Wilden Westen meinen. Und ein nichtabreißender Strom von Zerrbildern über das Fremde.
Karl May zoomt rein in Landschaften, die schöner nicht sein könnten. Alles Show, alles wahr.
Mit dabei: ein Autor, der sich für den Helden seiner eigenen Romane hält. Gebirge, die in Sachsen liegen, aber Utah im Wilden Westen meinen. Und ein nichtabreißender Strom von Zerrbildern über das Fremde.
Karl May zoomt rein in Landschaften, die schöner nicht sein könnten. Alles Show, alles wahr.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Thomas Steinfeld fällt ein differenziertes Urteil über Enis Macis und Mazlum Nergiz' mit einem Soundtrack von Maximilian Weber (per QR-Code abrufbar) unterlegtes Buch "Karl May". Die beiden in den Neunzigern in Deutschlands aufgewachsenen Autor:innen nähern sich darin archivalisch und in reportagenhafter Nacherzählung dem Leben und Werken des Hochstaplers und fantastischen Erzählers May an. Der Text spielt in dessen zum Museum gewordenen Wohnhaus in Radebeul bei Dresden und, unter anderem, in Worms und auf Kreta; Macis und Nergiz bauen, wie Steinfeld schreibt, "Collagen" aus den Orten von Mays exzessiver Einbildungskraft. Dabei gelingt es dem Rezensenten zufolge teilweise, den utopischen Impuls hinter Mays Erzählen zu rekonstruieren; teils sei der Text zu theatralisch, um die schweren und schwierigen Themen, die er anschneidet - wie dem Vorwurf des literarischen Kolonialismus - formal aufzufangen. Ein, wie Steinfeld urteilt, "zwiespältiges", aber in jedem Fall interessantes literarisches Experiment.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2024Das Apachen-Herz pocht nicht mehr
Die Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz arbeiten
sich in einem Buch an dem fantastischen Erfinder Karl May ab.
In Radebeul bei Dresden, im letzten Wohnhaus Karl Mays, befindet sich ein Museum, das dem Leben des Schriftstellers gewidmet ist. Die Bücher, der Schreibtisch, auch die Waffen, mit denen er sich angeblich durch den Wilden Westen kämpfte, sind dort zu sehen, sogar die „Silberbüchse“ seines Indianerfreundes Winnetou – ein magisches Gerät aus einer behauptet fernen Welt, hergestellt aber von einem Büchsenmacher im nahen Kötzschenbroda.
Interessieren aber tun die Wunderdinge das Publikum zunehmend weniger: Vergangen sind die Zeiten, als die fast hundert Bände der Gesammelten Werke, die Fantasien der deutschen Jugend beherrschten. Längst vorbei die Jahre, als sich die Besucher zu Tausenden durch den Garten mit dem herzförmigen Teich wälzten. Still liegt das Museum an den meisten Tagen da. Ein Neubau, seit mehr als zwanzig Jahren geplant, ist noch nicht begonnen.
„Karl May“ heißt ein Band mit Prosaskizzen der Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz, beide Anfang der Neunziger geboren und in Deutschland groß geworden, Enis Maci aus einer albanischen Familie kommend, Mazlum Nergiz aus der Türkei stammend. „Millionen sind mit Winnetou und Old Shatterhand aufgewachsen.“ Diese Autoren seien es nicht, heißt es in der Ankündigung des Verlags. Allerdings – wenige ihrer Altersgenossen dürften noch mit Karl May aufgewachsen sein. Die Begeisterung für dessen Bücher liegt mindestens eine Generation, wenn nicht zwei zurück. Das Deutschland, in dessen Brust das Herz eines Westmanns (alternativ: eines Apachen) pochte, gibt es schon lange nicht mehr. Enis Maci und Mazlum Nergiz, in deren Buch Dokumentation, private Geschichte, affektive Fantasie und poetische Vergegenwärtigung (oder die Bereitschaft zur bloßen Assoziation) miteinander verknüpft werden, betreiben archivalische Recherche mit theatralischen Mitteln. Sie tun es so, als gehörten diese Geschichten ganz und gar ins Heute.
Die Lizenz zum Mischen und Erfinden haben sie sich von Karl May erteilen lassen, dem Betrüger, Hochstapler und Gefangenen seiner eigenen Einbildungskraft. „Es beginnt mit einem Wunsch: dass deine Geschichte wahr würde“, lautet der erste Satz des Textes. Das Motto ist richtig gewählt: Denn weniger Wahn und Großmannssucht versahen Karl May mit einem falschen Doktortitel und ließen ihn behaupten, alles, was Old Shatterhand im amerikanischen Westen oder Kara ben Nemsi im Orient erlebt haben sollen, selbst erfahren zu haben. Vielmehr trieb ihn das Bedürfnis, gleichsam einzuziehen in das erfundene, bessere Leben, Teil der utopischen Erfindung zu werden, sich zur Figur des eigenen Werks zu erheben. Diesem Impuls folgen Enis Maci und Mazlum Nergiz.
Weil sie aber wissen, was es mit dem Unterschied von Traum und Wirklichkeit auf sich hat (oder anders gesagt: weil sie weder Karl May noch Winnetou sein wollen), kommt eine Art reporterhaftes Nachspielen dabei heraus: zwei neugierige junge Leute an den Schauplätzen oder Tatorten einer exzessiven Einbildungskraft: „Wenn das Licht schräg auf das Gestein fällt und die Kiefernnadeln in Glut sind und da Vögel rufen im abgezehrten, regenlosen Wald: dann weißt du nicht, ob das hier Sachsen ist oder Utah.“
So entstehen Collagen: Die mitspielenden Reporter besuchen Bad Segeberg, Worms, Kreta: „Und ich denke an die Buddha-Statuen von Bamiyan. Damals und heute.“ Die Autoren kennen Anna Delvey, Wolfgang Beltracchi und Till Eulenspiegel sowie viele andere Täuscher, Fantasten, Betrüger. Maci und Nergiz berichten von den Vorwürfen, bei Karl Mays Abenteuerromanen handle es sich um literarischen Kolonialismus, sie erzählen die Geschichte der Stadt Ninive, sie liegen an einem Swimmingpool im Languedoc: „Wir also in Mays Haus.“ Über in den Text gesetzte QR-Codes lassen sich Soundtracks abrufen, angefertigt von Maximilian Weber, musikalische Szenen, die seelische Innenräume für das Erzählte schaffen, kurz nur, dann rast die Revue weiter. „Karl May“ hat nur gut 150 Seiten und funktioniert nach dem Prinzip Wundertüte. Leichtes und Unterhaltsames befindet sich darin, Bedenkenswertes, das stets nur herbeizitiert, nicht aber ausgeführt wird, sowie Schweres und Schwieriges, für das die Form eines Varietés eher unangemessen ist: Mit Karl May gelangt man zwar in ein halbfiktives Mesopotamien, nicht aber zum Islamischen Staat.
Zwiespältig ist dieses Unternehmen: Interessant in dem Versuch, einer überhitzten Fantasie Gestalt zu verleihen, ohne sie als Wahn zu denunzieren, in einigen Szenen, in denen es gelingt, der Sehnsucht hinter einer ausgreifenden Einbildungskraft habhaft zu werden, sogar schön. Und dann, einer leichtfertigen Verwandlung von allem und jedem in theatralischen Stoff wegen, doch zu viel Jahrmarktsbude, um es mit dem Ernst des Trivialen aufnehmen zu können.
THOMAS STEINFELD
Enis Maci und Mazlum Nergiz: Karl May. Mit Musik von Maximilian Weber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 156 Seiten, 15 Euro
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz arbeiten
sich in einem Buch an dem fantastischen Erfinder Karl May ab.
In Radebeul bei Dresden, im letzten Wohnhaus Karl Mays, befindet sich ein Museum, das dem Leben des Schriftstellers gewidmet ist. Die Bücher, der Schreibtisch, auch die Waffen, mit denen er sich angeblich durch den Wilden Westen kämpfte, sind dort zu sehen, sogar die „Silberbüchse“ seines Indianerfreundes Winnetou – ein magisches Gerät aus einer behauptet fernen Welt, hergestellt aber von einem Büchsenmacher im nahen Kötzschenbroda.
Interessieren aber tun die Wunderdinge das Publikum zunehmend weniger: Vergangen sind die Zeiten, als die fast hundert Bände der Gesammelten Werke, die Fantasien der deutschen Jugend beherrschten. Längst vorbei die Jahre, als sich die Besucher zu Tausenden durch den Garten mit dem herzförmigen Teich wälzten. Still liegt das Museum an den meisten Tagen da. Ein Neubau, seit mehr als zwanzig Jahren geplant, ist noch nicht begonnen.
„Karl May“ heißt ein Band mit Prosaskizzen der Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz, beide Anfang der Neunziger geboren und in Deutschland groß geworden, Enis Maci aus einer albanischen Familie kommend, Mazlum Nergiz aus der Türkei stammend. „Millionen sind mit Winnetou und Old Shatterhand aufgewachsen.“ Diese Autoren seien es nicht, heißt es in der Ankündigung des Verlags. Allerdings – wenige ihrer Altersgenossen dürften noch mit Karl May aufgewachsen sein. Die Begeisterung für dessen Bücher liegt mindestens eine Generation, wenn nicht zwei zurück. Das Deutschland, in dessen Brust das Herz eines Westmanns (alternativ: eines Apachen) pochte, gibt es schon lange nicht mehr. Enis Maci und Mazlum Nergiz, in deren Buch Dokumentation, private Geschichte, affektive Fantasie und poetische Vergegenwärtigung (oder die Bereitschaft zur bloßen Assoziation) miteinander verknüpft werden, betreiben archivalische Recherche mit theatralischen Mitteln. Sie tun es so, als gehörten diese Geschichten ganz und gar ins Heute.
Die Lizenz zum Mischen und Erfinden haben sie sich von Karl May erteilen lassen, dem Betrüger, Hochstapler und Gefangenen seiner eigenen Einbildungskraft. „Es beginnt mit einem Wunsch: dass deine Geschichte wahr würde“, lautet der erste Satz des Textes. Das Motto ist richtig gewählt: Denn weniger Wahn und Großmannssucht versahen Karl May mit einem falschen Doktortitel und ließen ihn behaupten, alles, was Old Shatterhand im amerikanischen Westen oder Kara ben Nemsi im Orient erlebt haben sollen, selbst erfahren zu haben. Vielmehr trieb ihn das Bedürfnis, gleichsam einzuziehen in das erfundene, bessere Leben, Teil der utopischen Erfindung zu werden, sich zur Figur des eigenen Werks zu erheben. Diesem Impuls folgen Enis Maci und Mazlum Nergiz.
Weil sie aber wissen, was es mit dem Unterschied von Traum und Wirklichkeit auf sich hat (oder anders gesagt: weil sie weder Karl May noch Winnetou sein wollen), kommt eine Art reporterhaftes Nachspielen dabei heraus: zwei neugierige junge Leute an den Schauplätzen oder Tatorten einer exzessiven Einbildungskraft: „Wenn das Licht schräg auf das Gestein fällt und die Kiefernnadeln in Glut sind und da Vögel rufen im abgezehrten, regenlosen Wald: dann weißt du nicht, ob das hier Sachsen ist oder Utah.“
So entstehen Collagen: Die mitspielenden Reporter besuchen Bad Segeberg, Worms, Kreta: „Und ich denke an die Buddha-Statuen von Bamiyan. Damals und heute.“ Die Autoren kennen Anna Delvey, Wolfgang Beltracchi und Till Eulenspiegel sowie viele andere Täuscher, Fantasten, Betrüger. Maci und Nergiz berichten von den Vorwürfen, bei Karl Mays Abenteuerromanen handle es sich um literarischen Kolonialismus, sie erzählen die Geschichte der Stadt Ninive, sie liegen an einem Swimmingpool im Languedoc: „Wir also in Mays Haus.“ Über in den Text gesetzte QR-Codes lassen sich Soundtracks abrufen, angefertigt von Maximilian Weber, musikalische Szenen, die seelische Innenräume für das Erzählte schaffen, kurz nur, dann rast die Revue weiter. „Karl May“ hat nur gut 150 Seiten und funktioniert nach dem Prinzip Wundertüte. Leichtes und Unterhaltsames befindet sich darin, Bedenkenswertes, das stets nur herbeizitiert, nicht aber ausgeführt wird, sowie Schweres und Schwieriges, für das die Form eines Varietés eher unangemessen ist: Mit Karl May gelangt man zwar in ein halbfiktives Mesopotamien, nicht aber zum Islamischen Staat.
Zwiespältig ist dieses Unternehmen: Interessant in dem Versuch, einer überhitzten Fantasie Gestalt zu verleihen, ohne sie als Wahn zu denunzieren, in einigen Szenen, in denen es gelingt, der Sehnsucht hinter einer ausgreifenden Einbildungskraft habhaft zu werden, sogar schön. Und dann, einer leichtfertigen Verwandlung von allem und jedem in theatralischen Stoff wegen, doch zu viel Jahrmarktsbude, um es mit dem Ernst des Trivialen aufnehmen zu können.
THOMAS STEINFELD
Enis Maci und Mazlum Nergiz: Karl May. Mit Musik von Maximilian Weber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 156 Seiten, 15 Euro
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