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Michel Houellebecq ist weise geworden: Sein großer Künstlerroman "Karte und Gebiet" vermisst die Welt unseres Jahrhunderts und findet den letzten Frieden in der Provinz.
Von Sandra Kegel
Michel Houellebecq ist tot. Er wurde ermordet. Möglicherweise ist er zusammen mit seinem Hund Platon einem Ritualmord zum Opfer gefallen. Das jedenfalls vermuten die entgeisterten Polizisten, als sie die mit Laserschneider verstümmelten Leichen in Houellebecqs Haus in der französischen Provinz finden: "Ist es so schlimm?, fragte Jasselin leise. Noch viel schlimmer. Viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Jemand, der das getan hat, den dürfte es gar nicht geben."
Was klingt wie eine Parodie auf die Thriller des schwedischen Erfolgsautors Stieg Larsson, ist tatsächlich ein Ausschnitt aus "Karte und Gebiet", dem neuen, ausgesprochen komischen und geistreichen Roman von Michel Houellebecq. Der Nihilist mit der verkappten Romantikerseele macht im dritten Kapitel tatsächlich Ernst mit Roland Barthes' bekannter These vom Tod des Autors. Nicht nur lässt er den Schriftsteller gleichen Namens qualvoll enden, er dichtet ihm auch eine Beerdigung an, die der Verstorbene bis in Details noch zu Lebzeiten festgelegt hatte - inklusive eines Möbiusbandes auf dem Grabstein. Und als hätte es Houellebecqs Alter Ego geahnt, ließ es sich wenige Monate vor seinem Tod heimlich taufen.
Im Zentrum der Geschichte steht indes nicht jener ominöse Houellebecq, der, so schildert sich der Autor, "einer alten kranken Schildkröte ähnelt", sondern ein anderer Künstler, bei dem man durchaus ein weiteres Abbild des Autors vermuten darf. Jed Martins Fotografien und Gemälde reflektieren kühl und distanziert über den Zustand der Welt, urteilen Kritiker über ihn. Nur dreimal begegnen sich auf vierhundert Seiten Künstler und Schriftsteller, von Freundschaft wird man da nicht sprechen, und doch gehören diese Begegnungen, zweimal in Irland, einmal in der französischen Provinz, zu den interessantesten Passagen dieses Romans, der dem tatsächlichen Houellebecq nach zwei vergeblichen Anläufen endlich den ersehnten Prix Goncourt gebracht hat. Der Autor soll für den Künstler ein Katalogvorwort schreiben, und ihre Gespräche kreisen um Kunst und Literatur, sie erörtern Produktionsweisen und eröffnen Referenzräume in überraschenden Parallelen.
So ernst die dort verhandelten Gegenstände also sind, so elementar und so überraschend, so souverän beweist auch der bislang gern als enfant terrible der französischen Literaturszene titulierte Houellebecq hier außerdem, dass er selbst die besten Persiflagen auf seine Person zu schreiben vermag. Besser jedenfalls als die mitunter matten Karikaturen seiner Gegner. Da tritt etwa dem Maler der kauzige Schriftsteller gegenüber, in Pantoffeln, Cordhose und Strickjacke sowie einem ausgeprägten Hang zu Depression, Übergewicht und Zeichentrickserien. Das weitet sich dann vordergründig zur Literaturbetriebsposse, in der das illustre Personal der Pariser Kulturschickeria heraufbeschworen wird, mit Frédéric Beigbeder als koksendem Wiedergänger Sartres und Houellebecqs Verlegerin Teresa Cremisi, die bei der Beerdigung ihres Autors seine vielen Feinde beklagt. Patrick Kéchichian, der Kritiker von "Le Monde", feiert Jed Martins Kunst mit den Worten "nicht ohne einen Hauch von Dreistigkeit" nehme der Fotograf "den Standpunkt Gottes ein, der an der Seite des Menschen an der (Re-)Konstruktion der Welt teilhat". Und nicht zuletzt gibt sich mit Julien Lepers und Jean-Pierre Pernaut Frankreichs Fernsehprominenz die Ehre.
Aber wer von hier aus Houellebecqs Roman als simple Gesellschaftsfarce rezipiert, verfehlt ihn komplett. Denn der Autor, nach wie vor ein stupender Diagnostiker unserer westlichen Welt, verzichtet hier auf die gewohnte Provokation um jeden Preis. An ihre Stelle ist ein Erzählstil getreten, der klar, schnörkellos und bisweilen sogar zärtlich ist. In der Wahl seiner Mittel zeigt er sich souverän, und ganz offensichtlich kümmert er sich nicht weiter um postmodernen Firlefanz - wo derlei anklingt wie in der Vorführung des Autors im Spiegelstadium, ist das erzählerisch untermauert und frei von jedem Hauch einer Kopfgeburt. Vor allem aber tritt neben die sprachliche Souveränität die Kühnheit der Konstruktion. Der Autor bringt mit leichter Hand zusammen, was nicht zusammengehört, poetologisch wie inhaltlich. Besser als mit der finalen Möbiusschleife - endlos und dabei niemals identisch mit ihrem Spiegelbild - hätte Houellebecq sein Verfahren nicht markieren können.
So hat man es gleichzeitig mit einem Künstler- und einem Landschaftsroman zu tun, einem Thriller und seiner Parodie, einem Essay über Houellebeqs Heimatland inklusive Zukunftsvision und Loblied auf die Provinz, einer Vater-Sohn-Geschichte, die nach den letzten Dingen fragt, und schließlich mit einem Hundesachbuch sowie einer zärtlichen Hymne auf eine Ofenheizung. Als wäre das nicht genug für zehn Romane, rechnet der Autor gleich noch mit dem sogenannten Schweizer Sterbetourismus ab, weil der Organisationen wie Dignitas viel Geld einbringe.
In jedem dieser disparaten Bereiche aber diskutiert er die immer gleichen Fragen: Wie sollen wir leben in den kommenden Jahrzehnten? Wie sollen wir lieben? Wo sollen wir wohnen? Was essen? Was bedeutet es, alt zu werden? Und können wir dabei glücklich sein?
Wer so fragt, denkt ersichtlich ans Morgen. Und so spielt der Roman auch in einer Zeit kurz nach der unseren, um schließlich eine entindustrialisierte Utopie im ausklingenden einundzwanzigsten Jahrhundert zu entwerfen. Der Kapitalismus hat ausgedient, die vielen Finanzkrisen haben nicht nur die Royal Bank of Scotland, sondern die ganze Welt in den Abgrund gerissen. Just in diesem Moment entdeckt das gedemütigte Frankreich seine Provinzen neu. Mehr noch - es entsteht eine umfassende Begeisterung für das Land, wie es sie seit Jean-Jacques Rousseau nicht mehr gab. Auch dies ist eine Provokation in einem traditionell zentralistischen Staat, dem die province nichts, Paris hingegen alles ist.
Der diplomierte Agraringenieur Houellebecq lässt seinen Antihelden Jed Martin nun ausgerechnet mit abfotografierten Landkarten berühmt und zum Vorreiter der Bewegung "Magie des Regionalen" werden. Die Michelin-Karten im Maßstab 1:150 000, auf die auch der Titel des Romans anspielt, haben es dem Künstler angetan: "Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit", schwärmt er. Mit der Ausstellung "Die Karte ist interessanter als das Gebiet" wird der junge Absolvent der École des Beaux-arts dann auch über Nacht berühmt.
Gelingt Martin mit den Karten der Durchbruch, so wird der Einzelgänger erst durch einen künstlerischen Bruch, der ihm zum figurativen Maler macht, zum höchstbezahlten Künstler Frankreichs. Seine Werke heißen nun "Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik" oder "Michel Houellebecq, Schriftsteller".
Als Künstler, sagt Martin an zentraler Stelle, müsse man sich "rätselhaften, unvorhersehbaren Botschaften unterwerfen, die man in Ermangelung eines besseren Begriffs und ohne jeden religiösen Glauben als Intuition bezeichnen müsse". Der Künstler habe dabei nicht die geringste Möglichkeit, sich Botschaften, die sich ihm auf kategorische Weise aufdrängten, zu entziehen. So erklärt der Maler sich und vor allem seiner Umwelt die kaum mehr nachvollziehbaren Kehrtwenden seines kreativen Schaffens.
Auch Houellebecq - der Autor, nicht die Romanfigur - hat mit "Karte und Gebiet" ein neues Territorium betreten, was ihm in Frankreich durchaus als Anbiederung an den Mainstream ausgelegt worden ist. Doch wenn ein Autor, der sein Talent zur Dystopie hinreichend belegt hat, nun die erstaunlich realitätssatte Utopie eines Glücks ohne Ende entwirft, dann ist das im Gegenteil eine unerhörte Provokation.
Ihr Schöpfer aber ist weise geworden und sein Ton leicht wie ein Soufflé.
Michel Houellebecq : "Karte und Gebiet". Roman.
Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Verlag, Köln 2011. 416 S., geb., 22,99 [Euro].
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'Der genialste Landvermesser der französischen Literatur hat einen höchst unterhaltsamen Gesellschaftsroman des Kunstbetriebs, ja der Gegenwart geschrieben.' -- Frankfurter Allgemeine Zeitung
'Ein sehr komischer Roman, auf dessen deutsche Übersetzung man sich freuen kann.' -- Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
'Perfekt. Ein packendes, trauriges und humorvolles Buch.' -- Die Zeit Frankreich
'Michel Houellebecqs spannendstes, gefühlvollstes und bewegendstes Buch.' -- Livres Hebdo
'Kein Bewunderer seines einzigartigen Talents wird von diesem Roman enttäuscht sein.' -- Le Monde
'Sein Werk markiert einen Wendepunkt in der Literaturgeschichte.' -- Marianne
'Komplex, subtil und atemberaubend virtuos.' -- Les Inrockuptibles
'Das verspricht perfekt gerechtfertigte Lobeshymnen.' -- Libération
'Alles, was seinen bisherigen Erfolg sicherte, ist hier noch einmal vereint.' -- Le Figaro
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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