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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Fatih Çevikkollu erörtert die Folgen der Arbeitsmigration am Beispiel seiner Familie
"Wir arbeiten jetzt und leben später." Dieser Maxime folgen Fatih Çevikkollus Eltern, als sie in den Sechzigerjahren im Zuge des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei nach Köln kommen. Der Vater arbeitet bei Ford, die Mutter ist Näherin. Mit dem verdienten Geld finanzieren sie Reisen in die Heimat, in die sie auch endgültig zurückkehren wollen. Während seine Familie Deutschland nur als Zwischenstation betrachtet, wächst Çevikkollu als sogenanntes "Kofferkind" auf: Er wird zwischen der Türkei und Deutschland hin- und hergeschickt, so wie etwa 700.000 andere Kofferkinder in diesen Jahren.
Çevikkollu, heute Kabarettist und Schauspieler, schreibt: "Ich bin Deutscher, aber ich habe immer das Konzept der Türkei im Kopf. Wie ein Betriebssystem, das nicht genutzt wird, ein Upload, der nicht gestartet wird, aber immer präsent ist wie ein Avatar." In seinem Buch "Kartonwand" geht er der Frage nach, warum so viele Migranten unter psychischen Krankheiten leiden. Dabei widmet er sich jenen Stressfaktoren der Gastarbeiter, die als Auslöser für seelische Belastungen infrage kommen. Çevikkollu vertritt die These, "dass Migration eine Indikation ist, also ein zusätzlicher Faktor, der die Entstehung der Krankheiten begünstigt".
So sieht er einen Zusammenhang zwischen der Psychose seiner Mutter und ihrem "Absturz aus einer angesehenen Familie mit Bildung" zur Näherin in Deutschland. Hinzu kommen die Abwesenheit von Sozialplänen, die eine bessere Eingliederung in die deutsche Gesellschaft ermöglicht hätten, sowie das stetige Hinarbeiten auf eine Rückkehr in die Türkei. Redundanzen bleiben bei Çevikkollus Verfahren nicht aus, etwa wenn er fast alle Verwandten zur Psychose seiner Mutter befragt und auch der letzte Onkel die Schuld auf den Vater schiebt, der nach der Trennung von seiner langjährigen Ehefrau eine neue Partnerin hat.
Der Autor will mithilfe seiner eigenen Geschichte bestimmten Migrationsproblemen auf die Spur kommen. Zum Beispiel suchte seine Mutter plötzlich Zuflucht in den "Hinterhof-Moscheen" Kölns. Sie "waren ein Auffangbecken für Arbeiter:innen aus der Türkei, die sich in ihrer Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit alleingelassen fühlten und deshalb anfällig waren für religiöse Heilversprechen." Nicht zu vergessen das weite Feld rassistischer Anfeindungen gegenüber Arbeitsmigranten: Anschläge, wie die Mordserie der NSU, und das behördliche Versagen bei der Aufklärung solcher Taten führten dazu, dass Migranten sich nicht gesehen fühlen. "Es blieb ein beunruhigendes Gefühl, es gab keine Zuversicht, kein Vertrauen. Das Einzige, was übrig blieb, war: Zorn."
Welche Auswirkungen die Migration auf die Gesundheit der Gastarbeiter hatte, ist noch nicht ausreichend erforscht. Çevikkollu schöpft aus eigenen Erfahrungen, Literatur zum Thema und einem Gespräch mit dem Psychotherapeuten Ali Kemal Gün. Verbindliche Erkenntnisse werden sich so nicht gewinnen lassen, dennoch vermittelt das Buch einen lebhaften Einblick in das Leben von Gastarbeiterfamilien in Deutschland. MAI-CHARLOTT HEINZE
Fatih Çevikkollu:
"Kartonwand". Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 208 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fatih Çevikkollu erörtert die Folgen der Arbeitsmigration am Beispiel seiner Familie
"Wir arbeiten jetzt und leben später." Dieser Maxime folgen Fatih Çevikkollus Eltern, als sie in den Sechzigerjahren im Zuge des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei nach Köln kommen. Der Vater arbeitet bei Ford, die Mutter ist Näherin. Mit dem verdienten Geld finanzieren sie Reisen in die Heimat, in die sie auch endgültig zurückkehren wollen. Während seine Familie Deutschland nur als Zwischenstation betrachtet, wächst Çevikkollu als sogenanntes "Kofferkind" auf: Er wird zwischen der Türkei und Deutschland hin- und hergeschickt, so wie etwa 700.000 andere Kofferkinder in diesen Jahren.
Çevikkollu, heute Kabarettist und Schauspieler, schreibt: "Ich bin Deutscher, aber ich habe immer das Konzept der Türkei im Kopf. Wie ein Betriebssystem, das nicht genutzt wird, ein Upload, der nicht gestartet wird, aber immer präsent ist wie ein Avatar." In seinem Buch "Kartonwand" geht er der Frage nach, warum so viele Migranten unter psychischen Krankheiten leiden. Dabei widmet er sich jenen Stressfaktoren der Gastarbeiter, die als Auslöser für seelische Belastungen infrage kommen. Çevikkollu vertritt die These, "dass Migration eine Indikation ist, also ein zusätzlicher Faktor, der die Entstehung der Krankheiten begünstigt".
So sieht er einen Zusammenhang zwischen der Psychose seiner Mutter und ihrem "Absturz aus einer angesehenen Familie mit Bildung" zur Näherin in Deutschland. Hinzu kommen die Abwesenheit von Sozialplänen, die eine bessere Eingliederung in die deutsche Gesellschaft ermöglicht hätten, sowie das stetige Hinarbeiten auf eine Rückkehr in die Türkei. Redundanzen bleiben bei Çevikkollus Verfahren nicht aus, etwa wenn er fast alle Verwandten zur Psychose seiner Mutter befragt und auch der letzte Onkel die Schuld auf den Vater schiebt, der nach der Trennung von seiner langjährigen Ehefrau eine neue Partnerin hat.
Der Autor will mithilfe seiner eigenen Geschichte bestimmten Migrationsproblemen auf die Spur kommen. Zum Beispiel suchte seine Mutter plötzlich Zuflucht in den "Hinterhof-Moscheen" Kölns. Sie "waren ein Auffangbecken für Arbeiter:innen aus der Türkei, die sich in ihrer Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit alleingelassen fühlten und deshalb anfällig waren für religiöse Heilversprechen." Nicht zu vergessen das weite Feld rassistischer Anfeindungen gegenüber Arbeitsmigranten: Anschläge, wie die Mordserie der NSU, und das behördliche Versagen bei der Aufklärung solcher Taten führten dazu, dass Migranten sich nicht gesehen fühlen. "Es blieb ein beunruhigendes Gefühl, es gab keine Zuversicht, kein Vertrauen. Das Einzige, was übrig blieb, war: Zorn."
Welche Auswirkungen die Migration auf die Gesundheit der Gastarbeiter hatte, ist noch nicht ausreichend erforscht. Çevikkollu schöpft aus eigenen Erfahrungen, Literatur zum Thema und einem Gespräch mit dem Psychotherapeuten Ali Kemal Gün. Verbindliche Erkenntnisse werden sich so nicht gewinnen lassen, dennoch vermittelt das Buch einen lebhaften Einblick in das Leben von Gastarbeiterfamilien in Deutschland. MAI-CHARLOTT HEINZE
Fatih Çevikkollu:
"Kartonwand". Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 208 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main