Die Literatur W. G. Sebalds wird seit Jahren verehrt und dabei verkannt. Sein essayistisches Werk liefert den Schlüssel zur Selbstpositionierung im literarischen Feld. W. G. Sebald wird heute als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts gefeiert. Seit seinem tragischen Tod vor zehn Jahren erfuhr er seitens der literarischen und universitären Rezeption glühende Verehrung. Als Gedächtnis der Deutschen wird Sebald stilisiert, als melancholischer Wanderer zwischen den Welten, als Sprachrohr der Opfer und Vergessenen. Doch eine zweite Seite Sebalds wird meist ignoriert - die des polemischen Literaturwissenschaftlers und Essayisten, der provokant gegen kanonisierte Autoren wie Alfred Döblin, Alfred Andersch oder Jurek Becker wetterte und dabei unter dem Deckmantel der Aufklärung die eigene Position im literarischen Feld profilierte. Schley stellt sein Werk als eine meisterhafte Inszenierung einer Autorschaft heraus. Fridolin Schley macht zum ersten Mal das Phänomen Sebald selbst zum Gegenstand einer kritischen Analyse. Sebalds standardisierte Autorbilder eines heimatlosen Außenseiters und moralischen Gewissens erweisen sich so als Spielarten eines strategisch eingesetzten Habitus, der seine eigene Holocaustliteratur legitimiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2012Feldzüge eines Eroberers
Fridolin Schleys Studie über den Autor W. G. Sebald
Für Leser, die W. G. Sebald nicht mögen, hat Fridolin Schley ein gutes Buch geschrieben. Der junge, schon mit mehreren Prosawerken hervorgetretene Autor hinterfragt den Nimbus des deutschen Schriftstellers, der in England lebte, während der neunziger Jahre einen meteorischen Aufstieg erfuhr und 2001 früh verstarb. Titel und Untertitel der Studie deuten bereits die Skepsis an, mit der hier einem Anspruch begegnet wird: "Kataloge der Wahrheit" ironisiert ein angebliches Wissen, mit dem Sebald aufgetreten sei, und "Inszenierung von Autorschaft" stellt ihn unter Verdacht, sich eine zweifelhafte Rolle angemaßt zu haben.
Schley rückt Sebalds Kunst in die Nähe der Künstlichkeit, und gut ist sein Buch, weil er diese "Inszenierung" mit beachtlichem Sprachvermögen und bedenkenswerten Argumenten vorführt. 1999, als Sebald schon berühmt war, erschien "Luftkrieg und Literatur", seine Anklage gegen Deutschlands Schriftsteller, die auf das Trauma der Zerstörung ihres Landes nie adäquat reagiert hätten. Der Band enthielt auch eine Polemik gegen Alfred Andersch. Sebald warf ihm vor, seine unter Hitler kompromittierte Biographie literarisch reingewaschen zu haben, und Schley geht den Hintergründen dieser Polemik eindrucksvoll nach.
Nicht nur die Deutschen, sondern auch ein jüdisches Opfer der Nationalsozialisten wie Jean Améry, den Sebald als Autor sehr schätzte, hatten in Andersch einen vorbildlichen Aufklärer gesehen. Indem Sebald ihn diskreditierte, machte er ihm diese Position streitig, setzte sich selbst an seine Stelle, und dies, so Schleys These, tat er nicht nur mit Andersch, sondern auch mit vielen anderen deutschen Schriftstellern der Vor- und Nachkriegszeit. Alle beraubte er ihrer Deutungshoheit über Deutschlands Geschichte, um sie schließlich zu beerben.
Die Belege, die Schley in seiner umfangreichen Studie ausbreitet, entnimmt er Sebalds literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die seinem Prosawerk vorausgegangen sind und es begleiteten: den oft sehr harten Verrissen von Sternheim, Döblin und Broch, von Grass, Jurek Becker und vielen anderen. Er stellte große Namen der deutschen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert vor ein Gericht, in dem er der Ankläger war und dem er mit seinen Katalogen der Wahrheit zugleich vorsaß.
In jahrzehntelanger Vorarbeit, sagt Schley, habe Sebald die literarische Bühne bereinigt, um sie schließlich selbst zu betreten: Dies, etwas zugespitzt, ist die These von der Inszenierung seiner Autorschaft. In der Studie geht Schley dabei umsichtig und teilweise sehr überzeugend vor - er zeigt zum Beispiel, dass Sebalds Verrisse seiner Konkurrenten nicht nur hart, sondern oft unhaltbar sind -, doch der Kernbestand seiner These ist die Beschreibung einer Eroberung.
Was ist davon zu halten? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. In Deutschland stieß Sebald schon früh auf Widerspruch, um "Luftkrieg und Literatur" entbrannte eine Kontroverse, und Schleys Studie fasst dieses negative Sentiment jetzt zusammen, gibt ihm ein theoretisches Rüstzeug. Neben Lesern, die Sebald irritiert, gibt es freilich nicht wenige, die von seinem Werk tief beeindruckt sind (unter ihnen der Verfasser dieser Zeilen), und deshalb sei hier auch auf die Schwachpunkte der These hingewiesen.
Zu den übergreifenden Themen der Studie gehört neben der "Inszenierung" die Rede von der "Holocaustliteratur". Ihr, so Schley, wollte Sebald sich einschreiben, und in allem - seiner richterlichen Anmaßung, seiner jüdischen Spurensuche, dem melancholischen Ton seiner Sprache - habe er das Ziel verfolgt. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch und wirft methodische sowie hermeneutische Fragen auf.
Sebalds Verortung in der Holocaustliteratur wurde in Amerika erfunden. Seinen internationalen Durchbruch erfuhr er 1996 mit der englischen Übersetzung des Romans "Die Ausgewanderten", aus Werbegründen wurde das Buch unter dem Label des Holocaust vermarktet, und der Erfolg wirkte auf die deutsche Rezeption zurück. Für Schleys These ist das heikel: Sie beschreibt Sebalds Inszenierung vor deutschen Konkurrenten, seinen ersten Erfolg aber hatte er auf einer anderen Bühne gefeiert, die seine von Schley konstruierte Strategie gar nicht im Auge gehabt haben konnte.
Auf Sebalds Prosawerk trifft das Label des Holocaust kaum zu. In "Die Ausgewanderten" sind nur zwei der vier Protagonisten Hitlers Opfer. Der Lehrer Paul Bereyter ist sich dessen lange nicht bewusst; auf seiner Leinwand versucht der Maler Max Aurach, eine nicht mehr fassbare Erinnerung daran festzuhalten; und auch in Sebalds letztem Roman wird Jacques Austerlitz den "Holocaust" nur als eine nie zu vollendende Suche nach untergegangenen Welten erfahren.
Alle repräsentieren sie ein "Judentum" auf der Schwundstufe: Bereyter wurde von Hitler dazu gezwungen, Aurach weiß es nur noch aus den Memoiren seiner ermordeten Mutter, Austerlitz musste seine Rettung mit der Zwangstaufe bezahlen. Ohne sich seinen Figuren anzuverwandeln, wie Schley es an vielen Stellen suggeriert, hört der Erzähler ihrer Geschichte zu und weist sich vor ihnen dabei unumwunden als ein Deutscher aus.
Das ist auch gut so. Fridolin Schley scheint anzunehmen, Hitlers Zerstörung der Welt sei ein jüdisches Erbe, und der Autor wolle es sich durch seine Inszenierung aneignen. Es ist aber viel einfacher: Hitler und seine Folgen sind nicht nur ein jüdisches, sondern auch - und viel mehr - ein deutsches Erbe. Wer W. G. Sebald adäquat lesen will, muss sich dieses Erbes bewusst sein.
JAKOB HESSING
Fridolin Schley: "Kataloge der Wahrheit". Zur Inszenierung von Autorschaft bei W. G. Sebald.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 525 S., geb., 54,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fridolin Schleys Studie über den Autor W. G. Sebald
Für Leser, die W. G. Sebald nicht mögen, hat Fridolin Schley ein gutes Buch geschrieben. Der junge, schon mit mehreren Prosawerken hervorgetretene Autor hinterfragt den Nimbus des deutschen Schriftstellers, der in England lebte, während der neunziger Jahre einen meteorischen Aufstieg erfuhr und 2001 früh verstarb. Titel und Untertitel der Studie deuten bereits die Skepsis an, mit der hier einem Anspruch begegnet wird: "Kataloge der Wahrheit" ironisiert ein angebliches Wissen, mit dem Sebald aufgetreten sei, und "Inszenierung von Autorschaft" stellt ihn unter Verdacht, sich eine zweifelhafte Rolle angemaßt zu haben.
Schley rückt Sebalds Kunst in die Nähe der Künstlichkeit, und gut ist sein Buch, weil er diese "Inszenierung" mit beachtlichem Sprachvermögen und bedenkenswerten Argumenten vorführt. 1999, als Sebald schon berühmt war, erschien "Luftkrieg und Literatur", seine Anklage gegen Deutschlands Schriftsteller, die auf das Trauma der Zerstörung ihres Landes nie adäquat reagiert hätten. Der Band enthielt auch eine Polemik gegen Alfred Andersch. Sebald warf ihm vor, seine unter Hitler kompromittierte Biographie literarisch reingewaschen zu haben, und Schley geht den Hintergründen dieser Polemik eindrucksvoll nach.
Nicht nur die Deutschen, sondern auch ein jüdisches Opfer der Nationalsozialisten wie Jean Améry, den Sebald als Autor sehr schätzte, hatten in Andersch einen vorbildlichen Aufklärer gesehen. Indem Sebald ihn diskreditierte, machte er ihm diese Position streitig, setzte sich selbst an seine Stelle, und dies, so Schleys These, tat er nicht nur mit Andersch, sondern auch mit vielen anderen deutschen Schriftstellern der Vor- und Nachkriegszeit. Alle beraubte er ihrer Deutungshoheit über Deutschlands Geschichte, um sie schließlich zu beerben.
Die Belege, die Schley in seiner umfangreichen Studie ausbreitet, entnimmt er Sebalds literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die seinem Prosawerk vorausgegangen sind und es begleiteten: den oft sehr harten Verrissen von Sternheim, Döblin und Broch, von Grass, Jurek Becker und vielen anderen. Er stellte große Namen der deutschen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert vor ein Gericht, in dem er der Ankläger war und dem er mit seinen Katalogen der Wahrheit zugleich vorsaß.
In jahrzehntelanger Vorarbeit, sagt Schley, habe Sebald die literarische Bühne bereinigt, um sie schließlich selbst zu betreten: Dies, etwas zugespitzt, ist die These von der Inszenierung seiner Autorschaft. In der Studie geht Schley dabei umsichtig und teilweise sehr überzeugend vor - er zeigt zum Beispiel, dass Sebalds Verrisse seiner Konkurrenten nicht nur hart, sondern oft unhaltbar sind -, doch der Kernbestand seiner These ist die Beschreibung einer Eroberung.
Was ist davon zu halten? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. In Deutschland stieß Sebald schon früh auf Widerspruch, um "Luftkrieg und Literatur" entbrannte eine Kontroverse, und Schleys Studie fasst dieses negative Sentiment jetzt zusammen, gibt ihm ein theoretisches Rüstzeug. Neben Lesern, die Sebald irritiert, gibt es freilich nicht wenige, die von seinem Werk tief beeindruckt sind (unter ihnen der Verfasser dieser Zeilen), und deshalb sei hier auch auf die Schwachpunkte der These hingewiesen.
Zu den übergreifenden Themen der Studie gehört neben der "Inszenierung" die Rede von der "Holocaustliteratur". Ihr, so Schley, wollte Sebald sich einschreiben, und in allem - seiner richterlichen Anmaßung, seiner jüdischen Spurensuche, dem melancholischen Ton seiner Sprache - habe er das Ziel verfolgt. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch und wirft methodische sowie hermeneutische Fragen auf.
Sebalds Verortung in der Holocaustliteratur wurde in Amerika erfunden. Seinen internationalen Durchbruch erfuhr er 1996 mit der englischen Übersetzung des Romans "Die Ausgewanderten", aus Werbegründen wurde das Buch unter dem Label des Holocaust vermarktet, und der Erfolg wirkte auf die deutsche Rezeption zurück. Für Schleys These ist das heikel: Sie beschreibt Sebalds Inszenierung vor deutschen Konkurrenten, seinen ersten Erfolg aber hatte er auf einer anderen Bühne gefeiert, die seine von Schley konstruierte Strategie gar nicht im Auge gehabt haben konnte.
Auf Sebalds Prosawerk trifft das Label des Holocaust kaum zu. In "Die Ausgewanderten" sind nur zwei der vier Protagonisten Hitlers Opfer. Der Lehrer Paul Bereyter ist sich dessen lange nicht bewusst; auf seiner Leinwand versucht der Maler Max Aurach, eine nicht mehr fassbare Erinnerung daran festzuhalten; und auch in Sebalds letztem Roman wird Jacques Austerlitz den "Holocaust" nur als eine nie zu vollendende Suche nach untergegangenen Welten erfahren.
Alle repräsentieren sie ein "Judentum" auf der Schwundstufe: Bereyter wurde von Hitler dazu gezwungen, Aurach weiß es nur noch aus den Memoiren seiner ermordeten Mutter, Austerlitz musste seine Rettung mit der Zwangstaufe bezahlen. Ohne sich seinen Figuren anzuverwandeln, wie Schley es an vielen Stellen suggeriert, hört der Erzähler ihrer Geschichte zu und weist sich vor ihnen dabei unumwunden als ein Deutscher aus.
Das ist auch gut so. Fridolin Schley scheint anzunehmen, Hitlers Zerstörung der Welt sei ein jüdisches Erbe, und der Autor wolle es sich durch seine Inszenierung aneignen. Es ist aber viel einfacher: Hitler und seine Folgen sind nicht nur ein jüdisches, sondern auch - und viel mehr - ein deutsches Erbe. Wer W. G. Sebald adäquat lesen will, muss sich dieses Erbes bewusst sein.
JAKOB HESSING
Fridolin Schley: "Kataloge der Wahrheit". Zur Inszenierung von Autorschaft bei W. G. Sebald.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 525 S., geb., 54,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Buch für Menschen, die W. G. Sebald nicht mögen, stellt uns Jakob Hessing vor. Hessing selbst gehört allerdings nicht zu diesem Personenkreis, und das macht die Studie von Fridolin Schley erst interessant für ihn, gilt es doch, den eigenen Standpunkt eventuell zu hinterfragen. Hessing hört sich die Thesen des Autors geduldig an, lauscht dem Vorwurf, Sebald habe literarische Gegner gezielt abserviert, indem er ihnen Inkompetenz in Bezug auf die Deutung deutscher Geschichte vorwarf, um sodann an ihre Stelle zu treten. Wie Schley seine Thesen untermauert, findet der Rezensent eindrucksvoll und durchaus überzeugend, ebenso dessen Erörterung von Sebalds literarischen Verrissen, deren Unhaltbarkeit der Autor ihm in einigen Fällen nachzuweisen vermag. Schwach hingegen findet er Schley, wenn er versucht, Sebalds Einschreibung in die "Holocaustliteratur" nachzuweisen. Eine Strategie, die Hessing nicht glaubhaft findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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