Lía glaubt nicht mehr an Gott. Nicht, seit ihre siebzehnjährige Schwester grausam ermordet wurde. In ihrer streng religiösen Familie fühlt sie sich völlig allein gelassen, und bald bricht sie den Kontakt zu ihr gänzlich ab. Dreißig Jahre vergehen ohne den geringsten Hinweis auf den Mörder, dreißig Jahre, die tiefe Gräben in der Familie hinterlassen. Erst eine unerwartete Begegnung wirbelt die Vergangenheit wieder auf und entfesselt einen Sturm, der alle mit sich reißt. Claudia Piñeiro ergründet ein erschütterndes Familiengeheimnis, hinter dem ein Netz von religiösem Fanatismus, kirchlichem Machtanspruch und Repressionen sichtbar wird.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude liest Claudia Piñeiros Roman als Plädoyer gegen religiösen Fanatismus und Selbstgerechtigkeit. Die Handlung spielt in Argentinien, wo die Protagonistin Lía vom Glauben abfällt, als sie ihre jüngere Schwester beerdigen muss, die Opfer eines grausamen Mordes wurde. Dreißig Jahre vergehen, ohne, dass der Mörder gefunden wird. Die Geschichte wird aus sieben unterschiedlichen Perspektiven erzählt, so Staude, fünf Familienmitglieder kommen zu Wort, sowie die beste Freundin der Toten und der Forensiker, der den Fall behandelt. Immer wieder prangert Piñeiro die Heuchelei und Macht der Kirche an, so die Rezensentin. Obwohl der Mord in der Vergangenheit angesiedelt ist, sieht Staude einen hohen Aktualitätsbezug zu religiösem Fanatismus zum Beispiel in den USA sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2023Ein Gegenangebot zum religiösen Fanatismus
Claudia Piñeiro kennt die Macht des Matriarchats
Als Anwohner die siebzehnjährige Ana Sarda zerstückelt und verkohlt auf einem Gelände finden, das in ihrem unscheinbaren Vorort von Buenos Aires als Müllkippe benutzt wird, sieht es so aus, als hätte ein Vergewaltiger versucht, seine Spuren zu verwischen. Der Fall wird im Sinne der Rücksichtnahme auf die Familie schnell abgeschlossen. Nur die beste Freundin des Opfers hält dagegen, doch wegen ihres Gedächtnisschwunds in Folge einer Kopfverletzung gilt sie nicht als verlässliche Zeugin: "Ana starb in meinen Armen. Es ist nicht möglich, einen Toten zu töten. Niemand stirbt zweimal."
"Kathedralen" erscheint in der kommenden Woche endlich auch hierzulande. Das 2021 mit dem Premio Dashiell Hammett für den besten spanischsprachigen Krimi ausgezeichnete Werk der argentinischen Autorin und Frauenrechtlerin Claudia Piñeiro ("Elena weiß Bescheid") nimmt es mit einer Form von Extremismus auf, der sich inmitten der Gesellschaft gut hinter einer Fassade der Normalität und der uneigennützigen Fürsorge verbirgt.
Dafür setzt die Autorin gut dreißig Jahre nach Anas Tod an. Ein tiefer Graben entzweit längst ihre Familie; nicht so sehr vom Unglücksfall selbst herrührend als von der Mittleren der drei Sarda-Schwestern, Lía, die an Anas Grab freimütig erklärt, sie glaube nun nicht mehr an Gott. Das ist die größere Tragödie für die Familie, ein erzkatholisches Matriarchat, das in seinem Machtbewusstsein dem patriarchalen Äquivalent auf der institutionellen Ebene in nichts nachsteht.
Claudia Piñeiro umzirkelt das Mysterium um Anas Tod in konzentrischen Kreisen: Da ist die ungläubige Tochter, die inzwischen eine Buchhandlung im galicischen Santiago de Compostela führt und bis auf einen Briefwechsel mit ihrem Vater jeglichen Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Der Vater, der als Einziger noch immer versucht die Wahrheit herauszufinden. Ein Ermittler, vor dreißig Jahren frisch von der Polizeischule, der die offizielle Theorie zu Anas Tod anzweifelt. Bemerkenswert schließlich die Aufzeichnungen von Marcela, der besten Freundin des Opfers, der es ohne ihre Notizen unmöglich ist, sich an irgendwelche Geschehnisse nach ihrem Unfall zu erinnern.
Die Autorin nimmt nicht einfach nur die Perspektiven dieser Figuren ein, sie macht sich deren Schwächen zu eigen, lässt sie ihren Sprachgebrauch und ihren Tonfall modellieren. Die Lücken in Marcelas Gedächtnis machen ihren Text löchrig, dann repetitiv, sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten schmerzlich bewusst. Die Agonie eines traumatisierten, obsessiven Gehirns, dem nichts anderes bleibt als wieder und wieder das Zentrum seiner Erschütterung zu umkreisen. Jeden Tag aufs Neue hört Marcela zum ersten Mal von Anas Martyrium. Ausgerechnet für sie ist das Naturgesetz - "Niemand stirbt zweimal" - außer Kraft gesetzt.
"Kathedralen" ist nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Raymond Carver benannt, in der ein Mann daran scheitert, einem Blinden eine Kathedrale zu beschreiben. Stattdessen zeichnen die beiden gemeinsam, mit übereinander gelegten Händen, und finden über den Umweg der Kunst zu einer Verständigung. Den Trost dieser Geste übersetzt Piñeiro in einen versöhnlichen Gedanken, in das Gegenangebot zum religiösen Fanatismus, der die Familie Sarda vergiftet: Jeder erschafft sich seine eigene Kathedrale aus was auch immer ihm heilig ist.
Für sie selbst scheint das in erster Linie für die Wut zu gelten, die sie als Schriftstellerin antreibt, die offenbar wird in der psychischen und körperlichen Gewalt an Frauen, die sie mit nüchterner Bitterkeit schildert. Nicht zum Selbstzweck, nicht als Knalleffekt, sondern als notwendiges Übel, weil sie nun einmal existiert und deswegen benannt werden muss. Und nicht zuletzt auch wegen ihrer befreienden Wirkung: "Meine Schwester war ermordet worden, zuerst hatte man versucht sie zu verbrennen, dann hatte man ihren Körper zerstückelt und wie Müll abgeladen - was sollte mir da noch Schlimmes passieren, nur, weil ich zu glauben aufhörte?" KATRIN DOERKSEN
Claudia Piñeiro: "Kathedralen". Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2023.
320 S., geb., 24.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claudia Piñeiro kennt die Macht des Matriarchats
Als Anwohner die siebzehnjährige Ana Sarda zerstückelt und verkohlt auf einem Gelände finden, das in ihrem unscheinbaren Vorort von Buenos Aires als Müllkippe benutzt wird, sieht es so aus, als hätte ein Vergewaltiger versucht, seine Spuren zu verwischen. Der Fall wird im Sinne der Rücksichtnahme auf die Familie schnell abgeschlossen. Nur die beste Freundin des Opfers hält dagegen, doch wegen ihres Gedächtnisschwunds in Folge einer Kopfverletzung gilt sie nicht als verlässliche Zeugin: "Ana starb in meinen Armen. Es ist nicht möglich, einen Toten zu töten. Niemand stirbt zweimal."
"Kathedralen" erscheint in der kommenden Woche endlich auch hierzulande. Das 2021 mit dem Premio Dashiell Hammett für den besten spanischsprachigen Krimi ausgezeichnete Werk der argentinischen Autorin und Frauenrechtlerin Claudia Piñeiro ("Elena weiß Bescheid") nimmt es mit einer Form von Extremismus auf, der sich inmitten der Gesellschaft gut hinter einer Fassade der Normalität und der uneigennützigen Fürsorge verbirgt.
Dafür setzt die Autorin gut dreißig Jahre nach Anas Tod an. Ein tiefer Graben entzweit längst ihre Familie; nicht so sehr vom Unglücksfall selbst herrührend als von der Mittleren der drei Sarda-Schwestern, Lía, die an Anas Grab freimütig erklärt, sie glaube nun nicht mehr an Gott. Das ist die größere Tragödie für die Familie, ein erzkatholisches Matriarchat, das in seinem Machtbewusstsein dem patriarchalen Äquivalent auf der institutionellen Ebene in nichts nachsteht.
Claudia Piñeiro umzirkelt das Mysterium um Anas Tod in konzentrischen Kreisen: Da ist die ungläubige Tochter, die inzwischen eine Buchhandlung im galicischen Santiago de Compostela führt und bis auf einen Briefwechsel mit ihrem Vater jeglichen Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Der Vater, der als Einziger noch immer versucht die Wahrheit herauszufinden. Ein Ermittler, vor dreißig Jahren frisch von der Polizeischule, der die offizielle Theorie zu Anas Tod anzweifelt. Bemerkenswert schließlich die Aufzeichnungen von Marcela, der besten Freundin des Opfers, der es ohne ihre Notizen unmöglich ist, sich an irgendwelche Geschehnisse nach ihrem Unfall zu erinnern.
Die Autorin nimmt nicht einfach nur die Perspektiven dieser Figuren ein, sie macht sich deren Schwächen zu eigen, lässt sie ihren Sprachgebrauch und ihren Tonfall modellieren. Die Lücken in Marcelas Gedächtnis machen ihren Text löchrig, dann repetitiv, sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten schmerzlich bewusst. Die Agonie eines traumatisierten, obsessiven Gehirns, dem nichts anderes bleibt als wieder und wieder das Zentrum seiner Erschütterung zu umkreisen. Jeden Tag aufs Neue hört Marcela zum ersten Mal von Anas Martyrium. Ausgerechnet für sie ist das Naturgesetz - "Niemand stirbt zweimal" - außer Kraft gesetzt.
"Kathedralen" ist nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Raymond Carver benannt, in der ein Mann daran scheitert, einem Blinden eine Kathedrale zu beschreiben. Stattdessen zeichnen die beiden gemeinsam, mit übereinander gelegten Händen, und finden über den Umweg der Kunst zu einer Verständigung. Den Trost dieser Geste übersetzt Piñeiro in einen versöhnlichen Gedanken, in das Gegenangebot zum religiösen Fanatismus, der die Familie Sarda vergiftet: Jeder erschafft sich seine eigene Kathedrale aus was auch immer ihm heilig ist.
Für sie selbst scheint das in erster Linie für die Wut zu gelten, die sie als Schriftstellerin antreibt, die offenbar wird in der psychischen und körperlichen Gewalt an Frauen, die sie mit nüchterner Bitterkeit schildert. Nicht zum Selbstzweck, nicht als Knalleffekt, sondern als notwendiges Übel, weil sie nun einmal existiert und deswegen benannt werden muss. Und nicht zuletzt auch wegen ihrer befreienden Wirkung: "Meine Schwester war ermordet worden, zuerst hatte man versucht sie zu verbrennen, dann hatte man ihren Körper zerstückelt und wie Müll abgeladen - was sollte mir da noch Schlimmes passieren, nur, weil ich zu glauben aufhörte?" KATRIN DOERKSEN
Claudia Piñeiro: "Kathedralen". Roman.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, Zürich 2023.
320 S., geb., 24.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Literatur wie diese ist religionskritisch und gesellschaftskritisch, ein klares Aufzeigen der Strukturen, die Frauen Tag für Tag auf der ganzen Welt das Leben kosten. Claudia Piñeiro nutzt ihre Stimme, um auf die Problematik aufmerksam zu machen - und auch auf die Rolle des Katholizismus. Das allein macht dieses Buch lesenswert und wichtig.« Mareike Fallwickl