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Balanceakt in der NS-Zeit: Tobias Engelsing beschreibt das Leben seines Vaters, der Propagandafilme produzierte und Freundschaften mit Widerständlern pflegte
In den Jahren des Nationalsozialismus war das deutsche Kino strikt staatlich gelenkt und von Propagandaminister Goebbels abwärts auch durch und durch hierarchisiert. Ein Herstellungsgruppenleiter war dabei als Rädchen im Betrieb gerade wichtig genug, um ein relativ gutes Leben auch noch in den Jahren der Kriegswirtschaft führen zu können. Er war aber auch gerade unwichtig genug, um nach 1945 in der Entnazifizierung nicht mit ganz großem persönlichen Rechtfertigungsbedarf konfrontiert zu werden. Der Jurist Herbert Engelsing war von 1937 bis 1945 Herstellungsgruppenleiter bei der Tobis-Film in Berlin. Er war dort auch mit Propagandafilmen betraut, allerdings nicht mit den zentralen Schandtaten des NS-Kinos, sondern zum Beispiel mit dem antibritischen Irlanddrama "Der Fuchs von Glenarvon".
Dass nun eine umfangreiche Biographie über ihn erschienen ist, hat mit seiner Rolle im NS-Kino aber nur bedingt zu tun. Es ist sein eigener Sohn, der die Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. "Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand": Der Untertitel deutet an, dass Engelsing mehr war als nur ein geschmeidiger Manager im lange Zeit hochproduktiven faschistischen deutschen Provinz-Hollywood. Tatsächlich bestanden persönliche Freundschaften zu Menschen, die in der "Roten Kapelle" aktiv gegen die NS-Herrschaft kämpften, vor allem zu Harro Schulze-Boysen und dessen Frau Libertas.
Herbert Engelsing stand diesen Netzwerken sehr nahe, und als sie aufflogen, hatten auch er und seine nach den Rassengesetzen halbjüdische Frau Inge Grund zur Besorgnis. Die Gestapo ließ sie aber letztlich in Ruhe, und so konnte Engelsing die Tätigkeit seiner Herstellungsgruppe zunehmend dafür nutzen, seine Familie und schließlich sich selbst nach Süddeutschland in Sicherheit zu bringen. In Konstanz kehrte er nach 1945 in seinen ersten Beruf als Anwalt zurück und wurde 1960 spät noch einmal Vater. Der Name seines Sohnes, Tobias, hatte mit der Tobis nichts zu tun, wie mancher vielleicht hätte denken mögen, sondern spielte nach der Familienmythologie auf einen Mann im biblischen Buch Tobit an, "der seinen alten kranken Vater heilt".
Tobias Engelsing konnte seinen Vater kaum persönlich kennenlernen, denn der starb 1962. Der Name, mit dem sich ein Genesungswunder verband, war in diesem Sinn unwirksam geblieben. Nun hat der Sohn seinem Vater auf eine andere Weise das Leben zwar nicht gerettet, aber bewahrt, indem er es mit seinem Buch nämlich als "sowohl exemplarisch wie besonders" erweist. Das ist zwar in dieser Formulierung ein Gemeinplatz, wird aber doch durch die Erzählung immer wieder konkret.
Herbert Engelsing war Jahrgang 1904, er stammte aus dem Rheinland. Und so geht es im ersten Abschnitt um die Werdejahre eines jungen Juristen aus einer Apothekerfamilie, die gründerzeitlichen Wohlstand mit konservativer Haltung zu verbinden versuchte. Diese Jahre sind gut dokumentiert, sodass Tobias Engelsing nur selten auf die familiäre Einfühlung als eine Art Zusatzquelle setzen muss. Als Jurist musste sich Herbert Engelsing von den ersten Tagen nach der Machtergreifung 1933 an zum Nationalsozialismus verhalten. Er wählte eine pragmatische Vorgehensweise, trat sogar in die Partei ein und erwirkte eine Sondergenehmigung für seine Ehe. An der Hochzeit nahmen so unterschiedliche Gäste wie die Schauspielerstars Paula Wessely und Attila Hörbiger und der Staatsrechtler Theodor Eschenburg mit Gattin Erika teil. Das gemeinsame Haus von Herbert und Inge im Grunewald wurde bald zu einem Treffpunkt für Menschen, die gegen Hitlers Krieg waren. Trotzdem schaffte es Engelsing, dass auf seine Karriere in der gleichgeschalteten Filmwirtschaft kein Makel fiel.
Diesen Balanceakt arbeitet Tobias Engelsing ganz gut heraus. Filmhistorisch ist das Buch nicht allzu aufschlussreich, dazu waren die Titel, mit denen der Herstellungsgruppenleiter befasst war, zumeist einfach zu durchschnittlich - sieht man von zwei Regie-Arbeiten von Willi Forst ab und von "Der Tiger von Eschnapur" (1938), der ein Riesenerfolg wurde. In erster Linie verstand Herbert Engelsing sich wohl immer als verantwortungsvoller Familienvater, der eine Produktion in Konstanz nutzte, um Frau und Kinder aus Berlin wegzuschicken. Nach dem Krieg drängte er sie sogar, "Hungerdeutschland" zu verlassen und nach Amerika zu gehen, wo die Eltern von Inge Fuß gefasst hatten. Dieser Abschnitt ist mindestens so spannend wie die Passagen über die NS-Jahre, denn Herbert Engelsing wurde in diesen Jahren ein engagierter Anwalt in Konstanz, musste sich zugleich mit dem entstehenden Bundesnachrichtendienst herumschlagen, der ihm wegen der "Roten Kapelle" kommunistische Agententätigkeit unterzuschieben versuchte. In dieser Zeit zerbrach die Ehe, er fand aber mit einer dreißig Jahre jüngeren Sekretärin noch einmal ein kurzes Glück, dem sich nun in später Folge dieses Buch verdankt.
Es zählt zu den Errungenschaften einer neueren Geschichtswissenschaft, dass Biographien nicht mehr nur über große Häupter geschrieben werden. Herbert Engelsing war aber auch nicht unbedingt das, was man einen entscheidenden Funktionär nennen würde. "Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet" ist ein Grenzfall zwischen privater und allgemeiner Geschichte, fällt insgesamt aber doch so aufschlussreich aus, dass man die Lektüre für Interessierte an der Alltagsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland ohne Weiteres empfehlen kann. BERT REBHANDL
Tobias Engelsing: "Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet". Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand.
Propyläen Verlag, Berlin 2022. 448 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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