Vom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Mit unwiderstehlicher Kraft erzählt Stefanie de Velasco in ihrem zweiten Roman von einer unbekannten Welt und dem Emanzipationsprozess einer jungen Frau, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt. Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen, um im vom Mauerfall geprägten Osten zu missionieren, vermisst Esther ihre Freundin Sulamith schmerzlich. Mit Sulamith hat sie seit der Kindheit in der Siedlung am Rhein alles geteilt: die Fresspakete bei den Sommerkongressen, die Predigtdienstschule, erste große Gefühle und Geheimnisse. Doch Sulamith zweifelt zunehmend an dem Glaubenssystem, in dem die beiden Freundinnen aufgewachsen sind, was in den Tagen vor Esthers Umzug zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Während Esther noch herauszufinden versucht, was mit Sulamith geschehen ist, stößt sie auf einen Teil ihrer Familiengeschichte, der bislang stets vor ihr geheim gehalten wurde.
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buecher-magazin.de„Mitten in der Nacht haben sie mich geweckt und ins Auto gepackt. Ich habe geschrien, aber es hat nichts geholfen.“ Kurz nach der Wende ziehen Esthers Eltern in ein ostdeutsches Dorf. Sie sollen dort einen Königreichssaal bauen, aber sie sind auch auf der Flucht. Das hat mit Sulamith zu tun und damit, dass sie nicht mehr da ist. In Rückblenden erfahren wir von
Esthers und Sulamiths Aufwachsen als Zeuginnen Jehovas, von ihrer Freundschaft, von Sulamiths Zweifeln und ihrer Liebe zu einem Jungen „aus der Welt“. Dieses Buch ist sehr, sehr gut. Und jetzt zähle ich einfach stumpf auf, warum. 1. Das Erzähltempo. Es ist nahezu unmöglich, dieses Buch wegzulegen, bevor es zu Ende ist. 2. Diese Sätze. Die Ich-Erzählerin verwendet eine Sprache, die (wie sie selbst) keine Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Und darin dann immer wieder diese Sätze. „Halte dich fern von den Jungen aus Benzin. Von den hohen Eichen und den Weiden am Fluss.“ 3. Fundiertes Wissen. Stefanie de Velasco ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und verließ sie mit 15. Sie hat es an keiner Stelle nötig, auf Klischees zurückzugreifen. 4. Die Autorin rechnet nicht ab, sie versöhnt auch nicht. Sie erzählt einfach. 5. Notwendigkeit. Weißer, deutscher, christlicher religiöser Fundamentalismus findet sonst erstaunlich wenig Beachtung.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
Esthers und Sulamiths Aufwachsen als Zeuginnen Jehovas, von ihrer Freundschaft, von Sulamiths Zweifeln und ihrer Liebe zu einem Jungen „aus der Welt“. Dieses Buch ist sehr, sehr gut. Und jetzt zähle ich einfach stumpf auf, warum. 1. Das Erzähltempo. Es ist nahezu unmöglich, dieses Buch wegzulegen, bevor es zu Ende ist. 2. Diese Sätze. Die Ich-Erzählerin verwendet eine Sprache, die (wie sie selbst) keine Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Und darin dann immer wieder diese Sätze. „Halte dich fern von den Jungen aus Benzin. Von den hohen Eichen und den Weiden am Fluss.“ 3. Fundiertes Wissen. Stefanie de Velasco ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen und verließ sie mit 15. Sie hat es an keiner Stelle nötig, auf Klischees zurückzugreifen. 4. Die Autorin rechnet nicht ab, sie versöhnt auch nicht. Sie erzählt einfach. 5. Notwendigkeit. Weißer, deutscher, christlicher religiöser Fundamentalismus findet sonst erstaunlich wenig Beachtung.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Cornelia Geissler hat nur wenig an dem neuen Roman von Stefanie de Velasco auszusetzen. Der Geschichte um die 15jährige Esther, die mit ihren Eltern nach der Wende vom Westen in den Osten zurückzieht, wo ihre Eltern eine Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aufbauen, liest die Kritikerin interessiert, vor allem mit Blick auf die Emanzipation des jungen Mädchens, das sich weder im Osten noch in der Religionsgemeinschaft dazugehörig fühlt. Auch die Konflikte zwischen Esther und ihrer Freundin Sulamith, ebenfalls durch ihre Mutter bei den Zeugen Jehovas, erscheinen Geissler "differenziert" und plastisch beschrieben. Dass die Autorin noch ein "dunkles Geheimnis" in ihren Roman einbaut, findet die Kritikerin indes überflüssig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2020Jehovah will es nicht
In "Kein Teil der Welt" erzählt Stefanie de Velasco vom Aufwachsen in einer Sekte
Die Apokalypse ist nah. Die Erde wird von Satan beherrscht, der sich allerdings darauf gefasst machen muss, demnächst in der Endschlacht von Harmagedon vernichtend geschlagen zu werden. Danach mögen für die Auserwählten paradiesische Zustände anbrechen und die Lämmer mit den Löwen kuscheln. Immerhin wird den Ungläubigen von den Zeugen Jehovas nicht die ewige Höllenpein angedroht, sondern bloß die völlige Annihilation.
Wie es sich anfühlt, in einer Sektierer-Welt zwischen Anstand und Apokalypse aufzuwachsen, vermittelt der zweite Roman der 1978 geborenen Schriftstellerin Stefanie de Velasco so eindringlich, dass es auch einem "Weltmenschen" - so werden alle bezeichnet, die nicht zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehören - unter die Haut geht. Denn hinter deren zufriedenen Fassaden tun sich Abgründe auf; sie sind den Einflüssen der Dämonen preisgegeben.
So bekommt es Esther Joellenbeck, die sechzehnjährige Ich-Erzählerin, von ihren Eltern eingetrichtert. Kontakt mit Weltmenschen wird jedenfalls möglichst vermieden, etwa indem man deren Feste wie Weihnachten, Silvester und Geburtstag nicht mitfeiert.
Der Roman spielt kurz nach dem Mauerfall. Gerade ist Esthers Familie vom Rheinland in den "nahen Osten" gezogen, womit ein fiktives Provinzkaff namens Peterswalde in der ehemaligen DDR gemeint ist. Die Eltern kommen ursprünglich von dort. Jetzt geht es darum, in der atheistischen Steppe, wo der Zusammenbruch des alten Systems viel Orientierungslosigkeit hinterlassen hat, missionarische Pionierarbeit zu leisten und den ersten Königreichssaal aufzubauen. Es ist eine bisher nicht erzählte Variante des Nachwenderomans.
In schneidender Kälte stehen die Brüder und Schwestern mit dem "Wachturm" vor dem neuen Supermarkt oder gehen mit ihrer Botschaft von Haus zu Haus, wo sie oft nicht willkommen sind. Verachtung, Spott, Hass - aber Esthers Mutter scheint den Widerwillen geradezu zu genießen. Sie ist eine hartgesottene Missionarin, die bereits auf mehreren Kontinenten Menschen gefischt hat. Regelmäßig wechseln die Kapitel über das neue Leben in Peterswalde mit Rückblenden in die Zeit vor dem Umzug, in denen die Geschichte einer Widerspenstigen erzählt wird. Esthers Kindheitsfreundin Sulamith macht sich früh eigene Gedanken, die in der Wachturm-Welt nicht vorgesehen sind. Es ist eine Qual für sie, wenn sie der Biologielehrerin beim Thema Evolution Paroli bieten und an die Mitschüler das "Schöpfungsbuch" verteilen soll. Am Ende dieser beklemmenden Szene flieht Sulamith beschämt auf die Schultoilette, wo sie die Seiten des Buchs ins Klo stopft.
Dann aber scheint der verheißene Tag von Harmagedon gekommen. Es beginnt mit Lichterscheinungen am Himmel; darauf folgt ein schweres Gewitter mit sintflutartigem Regen. "Es geht los", entscheidet Esthers Vater, und die Gemeinde versammelt sich mit den lange vorbereiteten "Harmagedon-Beuteln" für die Kinder (darin ein Gesangbuch und eine Überlebensration Süßigkeiten) im Königreichssaal. Kurz darauf wackeln die Wände, und die Dachziegel fallen klatschend zu Boden. Ein Erdbeben, wie in der Bibel angekündigt! Bald verzieht sich der Sturm jedoch; es war eines der leichten Beben, wie sie in der Rhein-Region vorkommen können. Die fabelhaft geschilderte Komödie dieses Fehlalarms bestärkt Sulamith in ihrem Widerwillen. Wie einengend die Doktrin der Zeugen ist, erlebt sie aber erst wirklich, als sie sich in einen "Weltjungen" verliebt. Die Freundlichkeit unter den Brüdern und Schwestern weicht sauren Mienen: "Jehovah will es nicht!" Sulamiths labile Mutter rastet völlig aus.
Literarisch hat das Verhaltenskorsett der Sekte den Effekt, dass eine eigentlich gewöhnliche Liebesgeschichte wie in den Dramen vergangener Jahrhunderte zur tragischen Passion wird. Später, in Peterswalde, bekommt Esther durch die Erinnerung an ihre tote Freundin selbst die Kraft, sich gegen die Zwänge der Gemeinschaft aufzulehnen.
So schlicht die Sprache des Romans ist, sein Aufbau zeigt die gewachsene Erzählkunst der Autorin seit ihrem durchwachsenen Debüt "Tigermilch". Zur geschickten Dramaturgie gehört es, dass die zunehmend kritische Perspektive auf die Zeugen Jehovas, wie sie sich mit der Emanzipation Esthers verbindet, kontrastiert wird durch die Darstellung einer anderen jungen Frau, die sich zur Sekte hinwendet: Cola, die eigentlich Marie heißt, lebt mit ihrem Trinker-Vater auf einer heruntergekommenen Biberpelz-Farm in Peterswalde; sie ist eine verlorene Seele, die die Rettungsleine, die ihr die Zeugen hinhalten, ergreift. Gierig schlürft sie beim Bibelstudium die Verheißungen auf - eine Tochter ganz nach dem Herzen von Esthers Mutter. Am Ende hat sie mit Esther die Rollen getauscht. Sie trägt ihre knielangen Kleider und blickt kritisch auf die "Abtrünnige": "Du bist so verwöhnt ...Wie du deine Mutter anschaust, als wäre sie ein Monster und du ein entführtes Grafenkind."
Diese Gegenläufigkeit macht das Buch literarisch stärker, als es eine bloße Aussteigergeschichte wäre. Und es gibt weitere Passagen, in denen die Zeugen Jehovas durchaus Anerkennung finden, etwa wenn die alte, herzkranke Schwester Wolf, die anfangs nur als komische Figur erscheint, von der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Esthers Großmutter kam damals als Kommunistin ins Lager und wurde dort von den Zeugen bekehrt, beeindruckt von deren Zusammenhalt und Unbeirrbarkeit. Als "Himmelskomiker" wurden sie von der SS verhöhnt, die sich einen Spaß daraus machte, ihnen Blutwurst in die Häftlingssuppe zu schneiden, so dass sie wegen des Bluttabus nichts davon essen durften. Auch Schwester Wolf war in Haft: "Wir hatten Jehova, er war immer bei uns. Diese SS, das waren doch auch nur verlorene Schafe, in den Fängen Satans."
Historisch hat die 1870 gegründete Sekte ihre dunkle biblizistische Vorstellungswelt vom Endkampf satanischer und göttlicher Kräfte in dem Moment entwickelt, als sich die Amtskirchen davon entfernten. Heute hat die Offenbarung des Johannes, die finale apokalyptische Vision des Neuen Testaments, für die meisten Christen geringe Bedeutung. Für die Zeugen Jehovas dagegen ist sie das zentrale biblische Buch, weil sie daraus ihre Endzeit-Berechnung beziehen. Zwar behaupten sie, die Bibel "wörtlich" zu nehmen, interpretieren deren Texte aber oft im dilettantischen Freistil, wenn sie etwa das siebenköpfige Tier der Hure Babylon umstandslos auf die Organisation der Vereinten Nationen beziehen. Auch die UN - ein Werkzeug Satans.
Evangelikale Strömungen haben weltweit starken Zulauf. Und manche Jugendliche wachsen hierzulande in Elternhäusern auf, die den Koran so fundamentalistisch verstehen wie die Zeugen Jehovas die Bibel. Von daher behandelt dieser Roman über das Leben im Korsett des Glaubens ein wichtiges Thema, und er tut es auf fesselnde, formal gelungene Weise. Wo zuvor die Religion war, ist bei Esther am Ende nur noch eine "Leere", die sie "mit Hoffnungen und Träumen ausfüllen kann". Ob das Leben als geächtete "Abtrünnige" nicht auch Albträume bereithält - diese Frage bleibt offen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Stefanie de Velasco: "Kein Teil der Welt". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 434 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In "Kein Teil der Welt" erzählt Stefanie de Velasco vom Aufwachsen in einer Sekte
Die Apokalypse ist nah. Die Erde wird von Satan beherrscht, der sich allerdings darauf gefasst machen muss, demnächst in der Endschlacht von Harmagedon vernichtend geschlagen zu werden. Danach mögen für die Auserwählten paradiesische Zustände anbrechen und die Lämmer mit den Löwen kuscheln. Immerhin wird den Ungläubigen von den Zeugen Jehovas nicht die ewige Höllenpein angedroht, sondern bloß die völlige Annihilation.
Wie es sich anfühlt, in einer Sektierer-Welt zwischen Anstand und Apokalypse aufzuwachsen, vermittelt der zweite Roman der 1978 geborenen Schriftstellerin Stefanie de Velasco so eindringlich, dass es auch einem "Weltmenschen" - so werden alle bezeichnet, die nicht zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehören - unter die Haut geht. Denn hinter deren zufriedenen Fassaden tun sich Abgründe auf; sie sind den Einflüssen der Dämonen preisgegeben.
So bekommt es Esther Joellenbeck, die sechzehnjährige Ich-Erzählerin, von ihren Eltern eingetrichtert. Kontakt mit Weltmenschen wird jedenfalls möglichst vermieden, etwa indem man deren Feste wie Weihnachten, Silvester und Geburtstag nicht mitfeiert.
Der Roman spielt kurz nach dem Mauerfall. Gerade ist Esthers Familie vom Rheinland in den "nahen Osten" gezogen, womit ein fiktives Provinzkaff namens Peterswalde in der ehemaligen DDR gemeint ist. Die Eltern kommen ursprünglich von dort. Jetzt geht es darum, in der atheistischen Steppe, wo der Zusammenbruch des alten Systems viel Orientierungslosigkeit hinterlassen hat, missionarische Pionierarbeit zu leisten und den ersten Königreichssaal aufzubauen. Es ist eine bisher nicht erzählte Variante des Nachwenderomans.
In schneidender Kälte stehen die Brüder und Schwestern mit dem "Wachturm" vor dem neuen Supermarkt oder gehen mit ihrer Botschaft von Haus zu Haus, wo sie oft nicht willkommen sind. Verachtung, Spott, Hass - aber Esthers Mutter scheint den Widerwillen geradezu zu genießen. Sie ist eine hartgesottene Missionarin, die bereits auf mehreren Kontinenten Menschen gefischt hat. Regelmäßig wechseln die Kapitel über das neue Leben in Peterswalde mit Rückblenden in die Zeit vor dem Umzug, in denen die Geschichte einer Widerspenstigen erzählt wird. Esthers Kindheitsfreundin Sulamith macht sich früh eigene Gedanken, die in der Wachturm-Welt nicht vorgesehen sind. Es ist eine Qual für sie, wenn sie der Biologielehrerin beim Thema Evolution Paroli bieten und an die Mitschüler das "Schöpfungsbuch" verteilen soll. Am Ende dieser beklemmenden Szene flieht Sulamith beschämt auf die Schultoilette, wo sie die Seiten des Buchs ins Klo stopft.
Dann aber scheint der verheißene Tag von Harmagedon gekommen. Es beginnt mit Lichterscheinungen am Himmel; darauf folgt ein schweres Gewitter mit sintflutartigem Regen. "Es geht los", entscheidet Esthers Vater, und die Gemeinde versammelt sich mit den lange vorbereiteten "Harmagedon-Beuteln" für die Kinder (darin ein Gesangbuch und eine Überlebensration Süßigkeiten) im Königreichssaal. Kurz darauf wackeln die Wände, und die Dachziegel fallen klatschend zu Boden. Ein Erdbeben, wie in der Bibel angekündigt! Bald verzieht sich der Sturm jedoch; es war eines der leichten Beben, wie sie in der Rhein-Region vorkommen können. Die fabelhaft geschilderte Komödie dieses Fehlalarms bestärkt Sulamith in ihrem Widerwillen. Wie einengend die Doktrin der Zeugen ist, erlebt sie aber erst wirklich, als sie sich in einen "Weltjungen" verliebt. Die Freundlichkeit unter den Brüdern und Schwestern weicht sauren Mienen: "Jehovah will es nicht!" Sulamiths labile Mutter rastet völlig aus.
Literarisch hat das Verhaltenskorsett der Sekte den Effekt, dass eine eigentlich gewöhnliche Liebesgeschichte wie in den Dramen vergangener Jahrhunderte zur tragischen Passion wird. Später, in Peterswalde, bekommt Esther durch die Erinnerung an ihre tote Freundin selbst die Kraft, sich gegen die Zwänge der Gemeinschaft aufzulehnen.
So schlicht die Sprache des Romans ist, sein Aufbau zeigt die gewachsene Erzählkunst der Autorin seit ihrem durchwachsenen Debüt "Tigermilch". Zur geschickten Dramaturgie gehört es, dass die zunehmend kritische Perspektive auf die Zeugen Jehovas, wie sie sich mit der Emanzipation Esthers verbindet, kontrastiert wird durch die Darstellung einer anderen jungen Frau, die sich zur Sekte hinwendet: Cola, die eigentlich Marie heißt, lebt mit ihrem Trinker-Vater auf einer heruntergekommenen Biberpelz-Farm in Peterswalde; sie ist eine verlorene Seele, die die Rettungsleine, die ihr die Zeugen hinhalten, ergreift. Gierig schlürft sie beim Bibelstudium die Verheißungen auf - eine Tochter ganz nach dem Herzen von Esthers Mutter. Am Ende hat sie mit Esther die Rollen getauscht. Sie trägt ihre knielangen Kleider und blickt kritisch auf die "Abtrünnige": "Du bist so verwöhnt ...Wie du deine Mutter anschaust, als wäre sie ein Monster und du ein entführtes Grafenkind."
Diese Gegenläufigkeit macht das Buch literarisch stärker, als es eine bloße Aussteigergeschichte wäre. Und es gibt weitere Passagen, in denen die Zeugen Jehovas durchaus Anerkennung finden, etwa wenn die alte, herzkranke Schwester Wolf, die anfangs nur als komische Figur erscheint, von der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Esthers Großmutter kam damals als Kommunistin ins Lager und wurde dort von den Zeugen bekehrt, beeindruckt von deren Zusammenhalt und Unbeirrbarkeit. Als "Himmelskomiker" wurden sie von der SS verhöhnt, die sich einen Spaß daraus machte, ihnen Blutwurst in die Häftlingssuppe zu schneiden, so dass sie wegen des Bluttabus nichts davon essen durften. Auch Schwester Wolf war in Haft: "Wir hatten Jehova, er war immer bei uns. Diese SS, das waren doch auch nur verlorene Schafe, in den Fängen Satans."
Historisch hat die 1870 gegründete Sekte ihre dunkle biblizistische Vorstellungswelt vom Endkampf satanischer und göttlicher Kräfte in dem Moment entwickelt, als sich die Amtskirchen davon entfernten. Heute hat die Offenbarung des Johannes, die finale apokalyptische Vision des Neuen Testaments, für die meisten Christen geringe Bedeutung. Für die Zeugen Jehovas dagegen ist sie das zentrale biblische Buch, weil sie daraus ihre Endzeit-Berechnung beziehen. Zwar behaupten sie, die Bibel "wörtlich" zu nehmen, interpretieren deren Texte aber oft im dilettantischen Freistil, wenn sie etwa das siebenköpfige Tier der Hure Babylon umstandslos auf die Organisation der Vereinten Nationen beziehen. Auch die UN - ein Werkzeug Satans.
Evangelikale Strömungen haben weltweit starken Zulauf. Und manche Jugendliche wachsen hierzulande in Elternhäusern auf, die den Koran so fundamentalistisch verstehen wie die Zeugen Jehovas die Bibel. Von daher behandelt dieser Roman über das Leben im Korsett des Glaubens ein wichtiges Thema, und er tut es auf fesselnde, formal gelungene Weise. Wo zuvor die Religion war, ist bei Esther am Ende nur noch eine "Leere", die sie "mit Hoffnungen und Träumen ausfüllen kann". Ob das Leben als geächtete "Abtrünnige" nicht auch Albträume bereithält - diese Frage bleibt offen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Stefanie de Velasco: "Kein Teil der Welt". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 434 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Sie schildert die Gemütszustände ihrer Protagonistin so glaubhaft und präzise, wie es wohl nur jemand kann, der eine solche Situation selbst miterlebt hat.« Isabelle Bach Deutschlandfunk 20191113
»Ein faszinierender Roman.« Aachener Zeitung 20201116