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Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
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Die Radikalisierung der Mitte als Gefahr
Am 7. Dezember 2022 wurde in einer gemeinsamen Operation von Bundes- und Länderpolizei, BKA und Bundesanwaltschaft eine Verschwörung aufgedeckt, mit der gewaltsam eine rechtsautoritäre Diktatur errichtet werden sollte. In der Öffentlichkeit war das Erstaunen über die Zusammensetzung der Putschtruppe ebenso groß wie das Entsetzen über deren Pläne. Neben einem Prinzen, der in Frankfurt Immobiliengeschäfte betrieb, fanden sich im Kreis der Verschwörer eine Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete, ehemalige Offiziere, ein Angehöriger des Kommandos Spezialkräfte, ein früherer Polizeihauptkommissar, ein Pilot, ein Anwalt, ein Starkoch, ein Tenorsänger, ein Unternehmer und eine Ärztin. Alles Personen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.
Für den Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar dürften die Staatsstreichpläne keine Überraschung gewesen sein. In seinen Standardwerken hat Kraushaar Wurzeln und Geschichte des Linksextremismus überzeugend dargestellt. In seinem jüngsten Buch widmet sich Kraushaar auf 450 Seiten teils im Stil einer Streitschrift der aus seiner Sicht weitaus größeren Gefahr für die Demokratie in Deutschland. "Dieser Feind steht rechts!" - Kraushaar nimmt diesen berühmten Satz des damaligen Reichskanzlers Joseph Wirth nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 100 Jahre später als aktuellen Weck- und Warnruf. Politische Morde seien für eine Demokratie "Warnsignale ersten Ranges". Die Ermordung des Kasseler CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Neonazi ziele in die gleiche Richtung wie die Absichten der Mörder Rathenaus: den "revolutionären Umsturz und die Macht im Staate".
Kraushaar liefert mehr als nur einen Rückblick auf die "Schwachstellen der Demokratie". Akribisch belegt wird die personelle, aber auch rechtskonservative Kontinuität zur NS-Zeit in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Belastet durch "einstige Funktionseliten des NS-Regimes" waren wichtige neue staatliche Institutionen wie Bundesverfassungsgericht, Auswärtiges Amt, Verfassungsschutz, BKA oder Bundesministerien.
In seiner Gegenwartsanalyse schreibt Kraushaar, bedroht werde der Rechtsstaat nicht einfach von Extremisten, sondern durch eine Protestbewegung, die aus der Mitte der Gesellschaft hervorgegangen sei. Wie die "Montagsspaziergänge" von Pegida und die Corona-Demos der "Querdenker", die einhergingen mit Formen neuer Gewaltbereitschaft. Als weitere "Akteurskohorten" der radikalen Rechten definiert Kraushaar Parteien wie besonders die AfD. Hinzu kommen laut Kraushaar terroristische Einzeltäter, Kleingruppen und Netzwerke sowie bestimmte staatliche Sicherheitsinstitutionen wie Polizei und Militär. Das entscheidende Integrationsmoment der Rechten sei ein "tiefsitzender Ethnozentrismus", Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Die Flüchtlingskrise 2015 und die Corona-Pandemie seit 2020 waren danach die Katalysatoren. Das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure sei nur durch die "Radikalisierung der Mitte" zu verstehen. Als "Musterbeispiel" sieht Kraushaar die Radikalisierungsdynamik innerhalb der AfD. Von einer europaskeptischen Partei enttäuschter CDU-Mitglieder habe sich die AfD schrittweise in eine rechtspopulistische bis rechtsradikale Gesinnungstruppe verwandelt. Um die Gefahr von rechts wirksam zu bekämpfen und einzudämmen, beruft sich Kraushaar auf den SPD-Politiker Carlo Schmid, einen der Väter des Grundgesetzes. Die von Schmid als Appell geforderte Intoleranz gegenüber den Verfassungsfeinden müsse als Verfassungsgebot Bestätigung finden. In einem Geleitwort lobt der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum das Werk. Baum ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "Kraushaar lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Situationen des Rechtsextremismus in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die nicht vergessen werden dürfen." THOMAS HOLL
Wolfgang Kraushaar: Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 450 S., 28,- Euro.
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