Über fast hundert Jahre lang beschreibt Khalifa die Entwicklung Syriens, indem er die Geschichten mehrerer Familien erzählt. Der Christ Hanna wächst am Ufer des Euphrat in einer muslimischen Familie auf, gemeinsam mit deren Sohn Zakaria. In die Tochter Suad mit den schönen langen Wimpern verliebt er sich. Doch Hanna und Zakaria sehnen sich nach einem freien Leben, das der gläubigen Muslimin Suad nicht gefällt. Mit ihren besten Freunden, dem Juden Azar und dem Christ William, ziehen Hanna und Zakaria nach Aleppo und errichten ein Freudenhaus, zu dem nur auserwählte Persönlichkeiten Zugang haben. Dort befinden sie sich auch an dem Tag im Jahr 1907, als der Fluss aus den Ufern tritt. Viele ihrer Familienmitglieder ertrinken in den Fluten. Es ist eine Zeit, in der Christen und Muslime noch nebeneinander auf dem Dorffriedhof begraben werden. Aber mit der Hochwasserkatastrophe setzen Veränderungen ein, die nicht nur das Leben der vier Freunde betreffen, sondern das ganze Land erfassen. Rückblenden und Erinnerungen brechen die chronologische Erzählweise auf, die Geschichten verzweigen sich. Hier ist ein großer Erzähler am Werk, der den Bilderreichtum der arabischen Sprache gekonnt mit Reflexionen über Leben und Tod verbindet und an die bedeutende kulturelle Vergangenheit Syriens erinnert, die heute so weit weg scheint.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2022Destruktive Turbulenzen
Wenn die Träume in Flammen aufgehen: Khaled Khalifa erzählt in seinem Roman "Keiner betete an ihren Gräbern" die jüngere Geschichte Aleppos.
Manches belletristische Werk kann, auch wenn es nicht unbedingt in der Absicht des Autors liegt, angesichts der Zeitläufte erstaunliche Brisanz gewinnen. So auch der jüngste, ursprünglich 2019 erschienene Roman des syrischen Schriftstellers Khaled Khalifa, "Keiner betete an ihren Gräbern", der eine vergessene Ära in der Geschichte Aleppos heraufbeschwört und jetzt in vorzüglicher Übersetzung durch Larissa Bender auf Deutsch vorliegt. Die einst pulsierende multiethnische und multikulturelle Stadt, im syrischen Bürgerkrieg vor allem auch durch russische Bomben zu großen Teilen in Schutt und Asche gelegt, ist zum Schreckenssymbol einer unbändigen Zerstörungswut geworden, die sich nun in der Ukraine entlädt: Sucht man heute im Internet nach Aleppo, landet man schnell bei Mariupol.
Die traditionsreiche syrische Stadt und ihre Umgebung hatten neben Blütephasen schon im neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts turbulente und destruktive Zeiten erlebt. Khalifa lässt sie wieder aufleben, indem er sein Werk um mehrere dramatische Geschehnisse - rein erfundene, wie er in Interviews mit arabischen Zeitungen betont hat - komponiert, die jeweils als Ausgangspunkt der verschiedenen, sich zeitlich voneinander absetzenden Romanabschnitte dienen. Im Kern geht es in dieser sich durch Vor- und Rückwärtsbewegungen in der Zeit - hauptsächlich zwischen 1881 und 1951 - entfaltenden Erzählung um die Lebens- und Liebesgeschichten von etwa einem halben Dutzend Personen, deren Verwandten und Nachkommen. Die Erzählstränge verweben sich so häufig, wie sie sich lösen, etliche Nebenfiguren betreten nur kurz die Bühne, um dann meist ganz zu verschwinden.
Der Roman beginnt mit einer Überschwemmung im Jahr 1907, bei welcher der Euphrat über die Ufer tritt und das unweit von Aleppo gelegene Dorf Hosch Hanna verwüstet. Zwei der Protagonisten, die zum Zeitpunkt des Unglücks anderswo unterwegs sind, verlieren ihre Liebsten. Der syrische Christ und Spross einer Familie von Großgrundbesitzern Hanna Gregorus, nach dem der Ort benannt ist, muss den Tod seiner Frau und seines Sohnes beklagen. Seinem besten Freund, dem arabischen Muslim Zakaria Bayazidi, nimmt der Fluss den Sohn, während die kurdischstämmige Ehefrau Schaha knapp überlebt. Die einzige weitere überlebende Person ist die Christin Nassar Marjana, Tochter des Landverwalters von Hanna Gregorus - sie wird erst im späteren Verlauf der Handlung eine Rolle spielen. Die Katastrophe, deren Auswirkungen auf die Betroffenen der allwissende Erzähler, dessen Perspektive fast der ganze Roman einnimmt, über weite Strecken schildert, steht für eine Zäsur. Nach der Flut sind Hanna, Zakaria und Schaha nicht mehr dieselben; Schaha wird bald daran zugrunde gehen.
Der nächste, in das Jahr 1881 zurückblendende große Erzählabschnitt macht den Leser mit der Kindheit und Jugend der Hauptfiguren vertraut. Hanna, als Einziger einem Massaker osmanischer Offiziere an seiner Familie entronnen, wird von Zakarias Vater, einem Buchhalter, aufgenommen. Die beiden Jungen und Zakarias Schwester Suad verbindet bald eine enge Freundschaft mit dem jüdischen Jugendlichen Aza Istanbuli und seinem christlichen Gefährten William Issa. Bis auf Letzteren, dessen Leben wegen einer unerlaubten Liebe zu einem muslimischen Mädchen früh tragisch endet, bestimmen die anderen den Großteil der Romanhandlung. Eindrucksvoll gelingt es dem Autor Khalifa, die Lebenswege dieser Figuren in ihren verschiedenen Phasen vor dem jeweiligen Zeithintergrund miteinander zu verflechten. Allerdings werden die gesellschaftspolitischen Umstände der osmanischen Ära und der anschließenden französischen Mandatszeit sowie des Übergangs zur Unabhängigkeit Syriens kaum beleuchtet. Entsprechend begegnen auch keine klar konturierten Figuren, die diese Herrschaftssysteme verkörpern.
Liebe und Religion sind in dem Roman hingegen weit präsentere Mächte. Hanna, der sein Erbe als Großgrundbesitzer antritt, und Zakaria, der sich als Pferdezüchter einen Namen macht, sind für ihre Lasterhaftigkeit berüchtigt. Dieser frönen sie, obwohl mittlerweile Familienväter, in einer eigens dafür gebauten Zitadelle, wo sie sich mit Freudenmädchen vergnügen. Ihr freizügiger Lebenswandel, der auch als Sinnbild für die streng patriarchale und von Korruption durchdrungene osmanische Welt gelesen werden kann, endet mit dem Untergang des Osmanenreichs. Ein Jahrzehnt nach der Flut kommt es in der Region Aleppo abermals zu einer Katastrophe, diesmal sind es Hungersnot und Epidemie. Der einstige Lüstling Hanna entdeckt sich nun neu als Christ und lässt in seinem Heimatdorf ein Kloster bauen. Fromm wird Hanna jedoch, dessen Besitz sich die syrisch-katholische Kirche wiederholt zu bemächtigen versucht, nicht. Das hält die inzwischen über das Kloster herrschende Marjana - letztes noch lebendes Opfer des Hochwassers - nicht davon ab, ihn zu einem Heiligen erklären zu wollen. Ihr religiöser Eifer und ihre Aufdringlichkeit plagen Hanna bis zuletzt nicht weniger als seine unerfüllte Liebe zu Suad, die nie wirklich darüber hinweggekommen ist, dass sie nicht Mann und Frau geworden sind. Besonders anhand ihrer Figur vermag es Khalifa, die Zeitenwende von der osmanischen zur kolonialen Epoche wie auch den Widerstand gegen die Folgen dieses Wandels zu veranschaulichen: Als die emanzipierte Suad in Aleppo eine Modenschau organisiert, machen muslimische Eiferer das Unterfangen mit einem Brandanschlag zunichte. Dieselben Gewalttäter werden später auch Hannas und Zakarias Lustzitadelle samt der darin lebenden alternden Prostituierten in Flammen aufgehen lassen.
Es mag an der Vielzahl der Romanfiguren liegen, an den häufigen biographischen Brüchen und auch an der großen Zeitspanne, die Khalifa abzudecken versucht, dass die psychologische Ausgestaltung der Hauptprotagonisten nicht immer ganz gelingt. Als buntes Panorama der untergegangenen vielschichtigen Gesellschaft Aleppos beeindruckt dieser lesenswerte Roman aber allemal. JOSEPH CROITORU
Khaled Khalifa:
"Keiner betete an ihren Gräbern". Roman.
Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 544 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die Träume in Flammen aufgehen: Khaled Khalifa erzählt in seinem Roman "Keiner betete an ihren Gräbern" die jüngere Geschichte Aleppos.
Manches belletristische Werk kann, auch wenn es nicht unbedingt in der Absicht des Autors liegt, angesichts der Zeitläufte erstaunliche Brisanz gewinnen. So auch der jüngste, ursprünglich 2019 erschienene Roman des syrischen Schriftstellers Khaled Khalifa, "Keiner betete an ihren Gräbern", der eine vergessene Ära in der Geschichte Aleppos heraufbeschwört und jetzt in vorzüglicher Übersetzung durch Larissa Bender auf Deutsch vorliegt. Die einst pulsierende multiethnische und multikulturelle Stadt, im syrischen Bürgerkrieg vor allem auch durch russische Bomben zu großen Teilen in Schutt und Asche gelegt, ist zum Schreckenssymbol einer unbändigen Zerstörungswut geworden, die sich nun in der Ukraine entlädt: Sucht man heute im Internet nach Aleppo, landet man schnell bei Mariupol.
Die traditionsreiche syrische Stadt und ihre Umgebung hatten neben Blütephasen schon im neunzehnten und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts turbulente und destruktive Zeiten erlebt. Khalifa lässt sie wieder aufleben, indem er sein Werk um mehrere dramatische Geschehnisse - rein erfundene, wie er in Interviews mit arabischen Zeitungen betont hat - komponiert, die jeweils als Ausgangspunkt der verschiedenen, sich zeitlich voneinander absetzenden Romanabschnitte dienen. Im Kern geht es in dieser sich durch Vor- und Rückwärtsbewegungen in der Zeit - hauptsächlich zwischen 1881 und 1951 - entfaltenden Erzählung um die Lebens- und Liebesgeschichten von etwa einem halben Dutzend Personen, deren Verwandten und Nachkommen. Die Erzählstränge verweben sich so häufig, wie sie sich lösen, etliche Nebenfiguren betreten nur kurz die Bühne, um dann meist ganz zu verschwinden.
Der Roman beginnt mit einer Überschwemmung im Jahr 1907, bei welcher der Euphrat über die Ufer tritt und das unweit von Aleppo gelegene Dorf Hosch Hanna verwüstet. Zwei der Protagonisten, die zum Zeitpunkt des Unglücks anderswo unterwegs sind, verlieren ihre Liebsten. Der syrische Christ und Spross einer Familie von Großgrundbesitzern Hanna Gregorus, nach dem der Ort benannt ist, muss den Tod seiner Frau und seines Sohnes beklagen. Seinem besten Freund, dem arabischen Muslim Zakaria Bayazidi, nimmt der Fluss den Sohn, während die kurdischstämmige Ehefrau Schaha knapp überlebt. Die einzige weitere überlebende Person ist die Christin Nassar Marjana, Tochter des Landverwalters von Hanna Gregorus - sie wird erst im späteren Verlauf der Handlung eine Rolle spielen. Die Katastrophe, deren Auswirkungen auf die Betroffenen der allwissende Erzähler, dessen Perspektive fast der ganze Roman einnimmt, über weite Strecken schildert, steht für eine Zäsur. Nach der Flut sind Hanna, Zakaria und Schaha nicht mehr dieselben; Schaha wird bald daran zugrunde gehen.
Der nächste, in das Jahr 1881 zurückblendende große Erzählabschnitt macht den Leser mit der Kindheit und Jugend der Hauptfiguren vertraut. Hanna, als Einziger einem Massaker osmanischer Offiziere an seiner Familie entronnen, wird von Zakarias Vater, einem Buchhalter, aufgenommen. Die beiden Jungen und Zakarias Schwester Suad verbindet bald eine enge Freundschaft mit dem jüdischen Jugendlichen Aza Istanbuli und seinem christlichen Gefährten William Issa. Bis auf Letzteren, dessen Leben wegen einer unerlaubten Liebe zu einem muslimischen Mädchen früh tragisch endet, bestimmen die anderen den Großteil der Romanhandlung. Eindrucksvoll gelingt es dem Autor Khalifa, die Lebenswege dieser Figuren in ihren verschiedenen Phasen vor dem jeweiligen Zeithintergrund miteinander zu verflechten. Allerdings werden die gesellschaftspolitischen Umstände der osmanischen Ära und der anschließenden französischen Mandatszeit sowie des Übergangs zur Unabhängigkeit Syriens kaum beleuchtet. Entsprechend begegnen auch keine klar konturierten Figuren, die diese Herrschaftssysteme verkörpern.
Liebe und Religion sind in dem Roman hingegen weit präsentere Mächte. Hanna, der sein Erbe als Großgrundbesitzer antritt, und Zakaria, der sich als Pferdezüchter einen Namen macht, sind für ihre Lasterhaftigkeit berüchtigt. Dieser frönen sie, obwohl mittlerweile Familienväter, in einer eigens dafür gebauten Zitadelle, wo sie sich mit Freudenmädchen vergnügen. Ihr freizügiger Lebenswandel, der auch als Sinnbild für die streng patriarchale und von Korruption durchdrungene osmanische Welt gelesen werden kann, endet mit dem Untergang des Osmanenreichs. Ein Jahrzehnt nach der Flut kommt es in der Region Aleppo abermals zu einer Katastrophe, diesmal sind es Hungersnot und Epidemie. Der einstige Lüstling Hanna entdeckt sich nun neu als Christ und lässt in seinem Heimatdorf ein Kloster bauen. Fromm wird Hanna jedoch, dessen Besitz sich die syrisch-katholische Kirche wiederholt zu bemächtigen versucht, nicht. Das hält die inzwischen über das Kloster herrschende Marjana - letztes noch lebendes Opfer des Hochwassers - nicht davon ab, ihn zu einem Heiligen erklären zu wollen. Ihr religiöser Eifer und ihre Aufdringlichkeit plagen Hanna bis zuletzt nicht weniger als seine unerfüllte Liebe zu Suad, die nie wirklich darüber hinweggekommen ist, dass sie nicht Mann und Frau geworden sind. Besonders anhand ihrer Figur vermag es Khalifa, die Zeitenwende von der osmanischen zur kolonialen Epoche wie auch den Widerstand gegen die Folgen dieses Wandels zu veranschaulichen: Als die emanzipierte Suad in Aleppo eine Modenschau organisiert, machen muslimische Eiferer das Unterfangen mit einem Brandanschlag zunichte. Dieselben Gewalttäter werden später auch Hannas und Zakarias Lustzitadelle samt der darin lebenden alternden Prostituierten in Flammen aufgehen lassen.
Es mag an der Vielzahl der Romanfiguren liegen, an den häufigen biographischen Brüchen und auch an der großen Zeitspanne, die Khalifa abzudecken versucht, dass die psychologische Ausgestaltung der Hauptprotagonisten nicht immer ganz gelingt. Als buntes Panorama der untergegangenen vielschichtigen Gesellschaft Aleppos beeindruckt dieser lesenswerte Roman aber allemal. JOSEPH CROITORU
Khaled Khalifa:
"Keiner betete an ihren Gräbern". Roman.
Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 544 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Stefan Michalzik lobt den neuen Generationenroman von Khaled Khalifa in den höchsten Tönen. "Vortrefflich" etwa nennt er die Verknüpfung des Persönlichen mit dem Gesellschaftlichen - der Familiengeschichte mit der Geschichte Syriens um die Jahrhundertwende. "Beachtlich" sei die Kraft, die Khalifas kühler Erzählstil entwickelt. Und "herausragend" findet Michalzik, wie die Geschichte trotz etlicher Zeitsprünge und einer Vielzahl von Figuren niemals ausfranst, der rote Faden niemals verloren geht. Ein "großes" Buch über eine Zeit, in der die Utopie zu erahnen war - eine Hoffnung auf Freiheit und Gleichberechtigung, die jedoch im Keim erstickt wurde, so der begeisterte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die in sich ruhende epische Wucht des nüchternen Erzähltons Khalifas ist beachtlich. Ein herausragendes Buch. Stefan Michalzik Frankfurter Rundschau 20220701
Rezensent Stefan Michalzik lobt den neuen Generationenroman von Khaled Khalifa in den höchsten Tönen. "Vortrefflich" etwa nennt er die Verknüpfung des Persönlichen mit dem Gesellschaftlichen - der Familiengeschichte mit der Geschichte Syriens um die Jahrhundertwende. "Beachtlich" sei die Kraft, die Khalifas kühler Erzählstil entwickelt. Und "herausragend" findet Michalzik, wie die Geschichte trotz etlicher Zeitsprünge und einer Vielzahl von Figuren niemals ausfranst, der rote Faden niemals verloren geht. Ein "großes" Buch über eine Zeit, in der die Utopie zu erahnen war - eine Hoffnung auf Freiheit und Gleichberechtigung, die jedoch im Keim erstickt wurde, so der begeisterte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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