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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Regina Nössler nutzt das Potential der Pandemie
Manchmal malt Isabel kleinformatige Ölbilder von achtlos in Ecken geworfenem Müll oder Löwenzahn, der sich störrisch durch die Risse im Asphalt emporwindet. Motive, die man nicht häufig in Öl festgehalten sieht, Miniaturen aus dem städtischen Alltag, deren Besonderheit sich nur denjenigen offenbart, die den Blick dafür überhaupt erübrigen wollen. In den mild verschrobenen Vorlieben ihrer Figur spiegelt sich unmittelbar die besondere Beobachtungsgabe Regina Nösslers, die für ihre Geschichten so unwahrscheinliche Protagonistinnen wie Isabel Keppler erdenkt: eine Frau mittleren Alters, oft ein bisschen übellaunig, die ihr Leben unauffällig zwischen einer Souterrainwohnung in der Kreuzberger Katzbachstraße und wechselnden Gelegenheitsjobs führt, weil dieser Modus ihr möglichst große Unabhängigkeit gewährt.
Beim Titel "Kellerassel" drängt sich zunächst die schmähliche Bedeutung des Wortes auf: die des in dunklen Ecken harrenden Krabbeltiers, prädestiniert für ein schnelles Ende, zertreten unter irgendeinem Schuh. Aber direkt darauf folgt schon die Assoziation der "fly on the wall", an der sich die grundlegenden Philosophien des Dokumentarfilms scheiden: Sollte der Filmemacher möglichst unsichtbar beobachten oder gestaltend in Situationen eingreifen? Die Frage stellt sich auch Isabel, wenn sie, stets auf genügend innere Distanz bedacht, die Leben einer Handvoll weiterer Figuren streift.
Da wäre der Unternehmer Baumann, den Isabel mit nur einem Hauch von schlechtem Gewissen erpresst, weil er vor Jahrzehnten mit dem Mord an einer Jugendlichen davongekommen ist: Nössler erzählt davon ausführlich in "Katzbach", "Kellerassel" funktioniert aber auch ohne Kenntnis des Vorgängers. Jetzt rückt er Isabel auf die Pelle, lauert ihr regelmäßig auf und steht nachts drohend über ihr Kellerfenster gebeugt.
Abgelenkt wird sie von ihrem Geheimnis bei den kostspieligen Dinners, zu denen sie ihr Freund Joachim einlädt, eine Art platonischer Sugar Daddy, dem neuerdings die Abwesenheit seiner ihn meidenden Tochter auf die Stimmung drückt. Vorerst erzählt sie ihm lieber nicht, dass sie diese Tochter inzwischen zufällig bei ihrem aktuellen Job im Impfzentrum kennengelernt hat. Dort wanzt sich unterdessen ein merkwürdiger Kollege an Isabel heran, versucht unbeholfen Gespräche in Gang zu bringen.
"Kellerassel" spielt im Corona-Sommer 2021, das Thermometer knackt schon im Mai erstmals die 30-Grad-Marke, und Isabels schattige Souterrainwohnung erweist sich als unerwarteter Segen gegenüber den luxussanierten Dachgeschossen. Regina Nössler lässt das erzählerische Potential, das die Hochphase der Covid-Pandemie Krimiautoren bietet, nicht ungenutzt liegen. Erstens: leere Straßen, weit und breit keine Zeugen in Sicht. Generell ist Nösslers Erzählweise von Leerstellen geprägt, von Cliffhangern und Zeitsprüngen, falschen Fährten. Häufig nutzt die Autorin nur Personalpronomen statt die Namen ihrer Figuren, verweigert so entscheidende Informationen, hält Situationen im Schwebezustand. Umso beeindruckender, dass es ihr gelingt, in "Kellerassel" trotzdem alle Handlungsstränge zu einem Erzähluniversum zu knüpfen, in dem jedes noch so kleine Detail Bedeutung hat, in dem am Ende nicht auch nur ein Faden lose hängen bleibt.
Die zweite Eigenheit der Pandemie, die "Kellerassel" prägt, ist die gesellschaftliche Vereinzelungs- und Verrohungstendenz. In rasenden Schritten entwickelt sich etwa Isabels Kollege aus dem Impfzentrum zur immer größeren Gefahr für sich und andere, und dass niemand seine immer pathologischere Züge annehmenden Verhaltensweisen als dringenden Fall für psychologische Hilfe erkennt, erscheint einem fast genauso ungeheuerlich wie die Verbrechen, derer er sich letztlich schuldig machen wird.
Denken wir uns die Pandemie also als Brennglas, unter dem alle Probleme überdeutlich zutage treten, für die wir auch schon vorher keine befriedigende Lösung finden konnten, dann materialisiert sich neben dem zur Beleidigung taugenden Insekt und der "fly on the wall" noch ein drittes Bild vor dem geistigen Auge: jenes der Autorin, die zielgenau eine Lupe auf ihre Erzählwelt richtet, immer kurz davor, mit dem gebündelten Lichtstrahl die winzigen Beinchen der Asseln zu versengen. KATRIN DOERKSEN
Regina Nössler: "Kellerassel".
Thriller.
Konkursbuch Verlag, Tübingen 2023.
340 S., br., 12,90 Euro.
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