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Elmar Schenkel erzählt vom Grenzverkehr zwischen Wissenschaft und Literatur
Eine nähere Beschäftigung mit Science-Fiction und verwandten Traditionen führt früher oder später unweigerlich zu der Frage, wo die Grenzen zwischen Wissenschaft und literarischer Imagination verlaufen und ob solche Grenzen überhaupt scharf gezogen werden können. Antworten auf diese Frage bewegen sich üblicherweise zwischen zwei Polen: Eine Perspektive der "longue durée" identifiziert mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft in der Frühen Neuzeit ein weites Feld von Werken, in denen die neuen Erkenntnisse imaginativ er- und verarbeitet wurden, ohne dass manchmal klare Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur gezogen werden können. Andere Autoren bestehen darauf, dass man erst dann von einem grenzübergreifenden Dialog reden kann, wenn klare Grenzen existieren - und dies ist frühestens in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der Fall.
Der Leipziger Literaturwissenschaftler Elmar Schenkel, ausgewiesener Kenner von H.G. Wells, ist dem ersten Lager zuzurechnen. In seinem Buch schildert er in mehr als zwei Dutzend kurzen Episoden, die von der Antike bis in die Gegenwart reichen, Begegnungen zwischen Literatur und Wissenschaft. Die Episoden des ersten Teils des Buches beschreiben, wie biographische Situationen Begegnungen zwischen Wissenschaften und Literatur ermöglichen. Schenkel zeigt am Beispiel Mary Shelleys, wie Literatur es Frauen ermöglichte, in wissenschaftliche Debatten einzugreifen, und wie Descartes, Mendelejew und Kekulé mit erträumter Erkenntnis umzugehen versuchten.
Unter der Überschrift "Raum/Zeit" versammelt Schenkel Episoden, die vorführen, wie Literatur mathematische und physikalische Theorien anschaulich macht und Implikationen ausgestaltet. Das Zusammenspiel von Literatur und Wissenschaften wird am deutlichsten, wo Astronomie, Geologie und Biologie die Grenzen von Raum und Zeit entschieden erweiterten. Damit ermöglichten sie völlig neue Erzählungen: Kepler reiste im Traum zum Mond, H.G. Wells' Zeitreisender besuchte das Jahr 802 701, und Olaf Stapledon entwarf in "Last and First Men" (1930) und "Star Maker" (1937) eine biologische und kosmische Vision, die Milliarden Jahre in die Zukunft reicht.
Der letzte Teil des Buches widmet sich der Technik. Wer sich auf dem Terrain der Untersuchungen über Literatur, Wissenschaft und Science-Fiction schon ein wenig auskennt, wird hier an Auswahl der Themen und Episoden vielleicht etwas mäkeln. So findet beispielsweise die klassische "harte" Science-Fiction, die sich ihrer wissenschaftlichen Genauigkeit rühmt, mit der Ausnahme Jules Vernes kaum Erwähnung. Schenkel erkundet vor allem Literatur, die sich nicht zu nachdrücklich dem Primat der Naturwissenschaft unterwirft. Dies mag den detektivischen Neigungen von Literaturwissenschaftlern entgegenkommen, nach mehr oder weniger deutlichen Einflüssen zu suchen, liefert aber ein etwas schiefes Bild.
Was in einem Buch, das sich ausschließlich auf der Ebene von Ideen und Texten bewegt, nicht zur Sprache kommt, ist, wie die Grenzziehung und der Austausch zwischen Wissenschaft und Literatur von den materiellen Bedingungen der Buch- und Zeitschriftenproduktion - und heute dem Internet - abhängen. Im frühen neunzehnten Jahrhundert erlebte das Verlagswesen in Großbritannien eine erstaunliche Transformation - neue Technologien und Vertriebswege erlaubten die Massenproduktion von billigen Büchern, die eine breite Leserschaft erreichen konnten.
Diese technologische Transformation wurde von einer bemerkenswerten Fluidität verschiedener Textgenres begleitet. Neben literarischen Experimenten wie Mary Shelleys "The Last Man" gehörten Bücher über die Bedeutung und Zukunft der Wissenschaften, über Geologie, Astronomie und Kosmologie zu den einschlägigen Werken, H. G. Wells' "Krieg der Welten" oder Edwin Abbotts "Flatland" stehen in dieser Tradition. Und was heute als Science-Fiction im engeren Sinn verstanden wird, verdankt seinen Erfolg unter anderem einem wirksamen Vertrieb von Zeitschriften in den Vereinigten Staaten im frühen zwanzigsten Jahrhundert und der Entstehung der Fankultur.
Natürlich kann eine Übersichtsdarstellung, wie Schenkel sie vorgelegt hat, unmöglich auf all diese Aspekte eingehen. Dem Autor gelingt es aber vorzüglich, dem Leser die Beschäftigung mit der Thematik schmackhaft zu machen und vielleicht auch dazu anzuregen, die Grenzbereiche zwischen Literatur und Wissenschaften auf eigene Faust - unterstützt von den beigegebenen Literaturhinweisen - zu erkunden.
THOMAS WEBER
Elmar Schenkel:
"Keplers Dämon".
Begegnungen zwischen
Literatur, Traum und
Wissenschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 400 S., geb., 24,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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