Nach vierzehn Jahren Gefängnis wird Leonard March vorzeitig entlassen, weil er bei einem Deal mit dem Staatsanwalt gegen seinen Exboss Salvatore Lombard aussagt. Als die Presse Wind davon bekommt, dass March selbst 28 Auftragsmorde ausgeführt hat, wird die Situation prekär: Verwandte der Opfer bedrohen ihn und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Schergen seines Exbosses Vergeltung üben. Doch bis dahin fügt sich March in sein neues, ödes Dasein als Reinigungskraft, ein alter, einsamer Mann, der auf den Tod wartet. Bis die attraktive Sophie auftaucht, die sich als Ghostwriter für seine Biographie ins Spiel bringt … Mit literarischer Finesse entwirft Zeltserman die brillante Charakterstudie eines Mannes — einst Topkiller der Bostoner Mafia — auf der Suche nach sich selbst.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Bis zum Schluss, bis auf den Schluss eigentlich, findet Burkhard Müller Dave Zeltsermans "Killer" durchweg gelungen und sogar - und das sei selten bei Thrillern - mit tatsächlichem psychologischen Einfühlungsvermögen verfasst. Der achtundzwanzigfache Mörder kommt nach nur vierzehn Jahren Gefängnis frei, weil er seinen Boss verraten hatte, hadert allerdings mit seiner einsamen Existenz vor Gittern, berichtet der Rezensent. Als die Angehörigen seiner Opfer, darunter auch recht einfältige "Dilettanten der Empörung", auf der Bildfläche erscheinen, kommt dann Spannung auf, der Zeltserman leider am Schluss auch die psychologische Integrität seines Ich-Erzählers opfert, wie Müller bedauert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2015DIE KRIMI-KOLUMNE
„Killer“ – ein Thriller
von Dave Zeltserman
Vierzehn Jahre hat Leonard March im Gefängnis gesessen. Vierzehn Jahre, das erscheint lang und ist doch bloß ein Picknick im Verhältnis zu dem, was er getan hat: Im Auftrag des Bostoner Mafia-Bosses Salvatore Lombard hat er 28 Menschen ermordet. Aber die Staatsanwaltschaft hat sich damals auf diesen für March überaus günstigen Deal eingelassen, weil er bereit war, seinen Boss der Justiz ans Messer zu liefern.
Das Leben in der neuen Freiheit ist erwartbar hart. Als Reinigungskraft im Nachtschichtdienst muss der einstige Edelgangster sich nun mit dem Existenzminimum begnügen; die alten Freunde hat er verraten, seine Familie sich von ihm losgesagt. Er ist sehr einsam. Schon dass ihn die kreideweiß geschminkte Kellnerin eines Diners als Stammkunden akzeptiert, mit dem sie in ruhigen Augenblicken ein bisschen plaudert, nachdem er die miserablen Pfannkuchen verzehrt hat, empfindet er als Trost.
So bekommt der Leser zunächst ein Buch vom Kampf eines zähen alten Außenseiters um seine Selbstachtung und Selbstbehauptung serviert. Das wäre schon an sich interessant, denn Zeltserman stattet seinen Protagonisten, der in der Ich-Form erzählt, mit genau der richtigen Mischung von Stolz, Kraft und Müdigkeit aus. Doch nimmt das Buch allmählich Fahrt noch in eine andere Richtung auf. Das Element der Spannung, auf das schon ganz verzichtet zu werden schien, beginnt sich einzuschleichen. Da draußen gibt es viele Leute, die es nicht ohne Grund erbittert, dass March damals so billig davonkam. Den ersten der Angehörigen seiner Opfer, einen Dilettanten der Empörung, der ihn in seiner Stammkneipe konfrontiert, putzt er herunter nach Strich und Faden, indem er ihm den wahren schuftigen Charakter seines ermordeten Vaters vor Augen führt. So leicht lassen sich nicht alle abfertigen; ganz offenbar ist da noch mehr im Busch. Und ob March der faszinierenden, dreißig Jahre jüngeren Sophie trauen darf, mit der sich ein Buchprojekt, vielleicht sogar eine Liebesgeschichte abzeichnet, das bleibt doch sehr die Frage . . .
Die Story ist originell und sehr wirksam gebaut. Von der sozialen Fallstudie gleitet sie sacht hinüber in den Thriller, den sie am Anfang verleugnet. Sie beweist dabei, für einen Thriller eher untypisch, erhebliches psychologisches Einfühlungsvermögen, nicht zuletzt bei der Darstellung des Ehrenkodex, der es dem Killer seelisch ermöglicht, zu tun, was er zu tun hat – und über den er sich im Drang der Geschäfte zu seiner Qual dennoch hinwegsetzen muss.
Doch genau hier, im Psychologischen, leistet sich Zeltserman zum Schluss den entscheidenden Bruch. Man kann ja diejenigen literarischen Genres, die von der Spannung leben, niemals so rezensieren, wie es eigentlich nötig wäre; denn das ginge bloß, wenn man ihr Geheimnis preisgibt, sie für den künftigen Leser also zerstört. Darum sei nur so viel gesagt, dass March sich spät einer Selbsttäuschung bewusst wird, was erzähltechnisch mit der Ich-Perspektive schwer vereinbar ist. Doch sieht der Leser ein, dass sich das Buch kaum anders hätte beenden lassen, wenn es nicht verläppern will, und findet sich ausreichend entschädigt durch das Vergnügen, das es ihm bis dahin bereitet hat.
BURKHARD MÜLLER
Dave Zeltserman: Killer. Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2015. 264 Seiten, 14,80 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Killer“ – ein Thriller
von Dave Zeltserman
Vierzehn Jahre hat Leonard March im Gefängnis gesessen. Vierzehn Jahre, das erscheint lang und ist doch bloß ein Picknick im Verhältnis zu dem, was er getan hat: Im Auftrag des Bostoner Mafia-Bosses Salvatore Lombard hat er 28 Menschen ermordet. Aber die Staatsanwaltschaft hat sich damals auf diesen für March überaus günstigen Deal eingelassen, weil er bereit war, seinen Boss der Justiz ans Messer zu liefern.
Das Leben in der neuen Freiheit ist erwartbar hart. Als Reinigungskraft im Nachtschichtdienst muss der einstige Edelgangster sich nun mit dem Existenzminimum begnügen; die alten Freunde hat er verraten, seine Familie sich von ihm losgesagt. Er ist sehr einsam. Schon dass ihn die kreideweiß geschminkte Kellnerin eines Diners als Stammkunden akzeptiert, mit dem sie in ruhigen Augenblicken ein bisschen plaudert, nachdem er die miserablen Pfannkuchen verzehrt hat, empfindet er als Trost.
So bekommt der Leser zunächst ein Buch vom Kampf eines zähen alten Außenseiters um seine Selbstachtung und Selbstbehauptung serviert. Das wäre schon an sich interessant, denn Zeltserman stattet seinen Protagonisten, der in der Ich-Form erzählt, mit genau der richtigen Mischung von Stolz, Kraft und Müdigkeit aus. Doch nimmt das Buch allmählich Fahrt noch in eine andere Richtung auf. Das Element der Spannung, auf das schon ganz verzichtet zu werden schien, beginnt sich einzuschleichen. Da draußen gibt es viele Leute, die es nicht ohne Grund erbittert, dass March damals so billig davonkam. Den ersten der Angehörigen seiner Opfer, einen Dilettanten der Empörung, der ihn in seiner Stammkneipe konfrontiert, putzt er herunter nach Strich und Faden, indem er ihm den wahren schuftigen Charakter seines ermordeten Vaters vor Augen führt. So leicht lassen sich nicht alle abfertigen; ganz offenbar ist da noch mehr im Busch. Und ob March der faszinierenden, dreißig Jahre jüngeren Sophie trauen darf, mit der sich ein Buchprojekt, vielleicht sogar eine Liebesgeschichte abzeichnet, das bleibt doch sehr die Frage . . .
Die Story ist originell und sehr wirksam gebaut. Von der sozialen Fallstudie gleitet sie sacht hinüber in den Thriller, den sie am Anfang verleugnet. Sie beweist dabei, für einen Thriller eher untypisch, erhebliches psychologisches Einfühlungsvermögen, nicht zuletzt bei der Darstellung des Ehrenkodex, der es dem Killer seelisch ermöglicht, zu tun, was er zu tun hat – und über den er sich im Drang der Geschäfte zu seiner Qual dennoch hinwegsetzen muss.
Doch genau hier, im Psychologischen, leistet sich Zeltserman zum Schluss den entscheidenden Bruch. Man kann ja diejenigen literarischen Genres, die von der Spannung leben, niemals so rezensieren, wie es eigentlich nötig wäre; denn das ginge bloß, wenn man ihr Geheimnis preisgibt, sie für den künftigen Leser also zerstört. Darum sei nur so viel gesagt, dass March sich spät einer Selbsttäuschung bewusst wird, was erzähltechnisch mit der Ich-Perspektive schwer vereinbar ist. Doch sieht der Leser ein, dass sich das Buch kaum anders hätte beenden lassen, wenn es nicht verläppern will, und findet sich ausreichend entschädigt durch das Vergnügen, das es ihm bis dahin bereitet hat.
BURKHARD MÜLLER
Dave Zeltserman: Killer. Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2015. 264 Seiten, 14,80 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2015Von der Schwierigkeit, einen Killer zu resozialisieren
Auswüchse eines kaputten Systems: Warum es sich lohnt, den amerikanischen Autor Dave Zeltserman zu lesen
Die meisten Krimi-Autoren suchen ein Erfolgsrezept, das beim Leser ankommt, um es dann, wenn die Übung gelingt, nie mehr zu variieren. Dieser Technik folgen so gut wie alle Weltbestseller, und wer es auf einem lokalen Markt geschafft hat, muss im Regelfall auch zufrieden sein. Wer es allerdings nicht nur kommerziell, sondern auch literarisch schaffen will, produziert am Markt vorbei; und wer obendrein jedes Mal ein anderes, neues Buch schreiben will, kann sich gleich als Nischenbewohner einrichten.
Man hat den Eindruck, dass den Amerikaner Dave Zeltserman solche Überlegungen nicht kümmern. In Deutschland ist er weithin unbekannt, drei seiner nunmehr vierzehn Bücher sind in zwei Berliner Verlagen übersetzt worden. Zwei bei Pulpmaster, eines bei Suhrkamp. Bei letzterem erschien vor vier Jahren "28 Minuten" (im Original treffender "Outsourced"), ein unvergessliches Kabinettstück über vier arbeitslose, weil entsorgte Computerspezialisten, die den perfekten Bankraub planen. Der soll sie in achtundzwanzig Minuten zu reichen Männern machen, ein Plan, der auch mit Rache am System zu tun hat.
Zeltserman, 1959 in Boston geboren, war in einem früheren Leben selbst Software-Entwickler, verlegte sich dann aber Anfang der nuller Jahre aufs Schreiben und hat sich nach nunmehr vierzehn Büchern als feste Größe im Noir-Genre behauptet: Er wird gerne in die direkte Traditionslinie von Jim Thompson gestellt, auch wenn er von dieser mehr und mehr abweicht. In "Paria" (2013) geht es um einen auf der Haft entlassenen Schwerverbrecher, der mit seiner bürgerlichen Umwelt nicht zurechtkommt. Deshalb steuert dieser Kyle Nevin sogleich zurück in jenes Berufsfeld, das er am besten kennt, die organisierte Unterwelt des südlichen Bostons. Einen so üblen Burschen würde man nicht mit einem Buchvertrag in Verbindung bringen, aber sein Erfinder spendiert ihm voller Selbstironie genau dies - sowie die Fähigkeit, seine Memoiren besser zu schreiben, als sie der dafür engagierte Creative-Writing-Typ hinbekommen hätte. So kommt Kyle in die Mühlen der Bewusstseinsindustrie, die ihm alsbald ein Plagiatsbein stellt, für das er sich mit den Mitteln seiner Welt rächt.
Auch die jüngste Veröffentlichung Zeltsermans, "Killer", variiert dieses Schema und hat erneut einen aus der Haft entlassenen Soziopathen zum Protagonisten. Der Killer Leonard March kommt nach vierzehn Jahren frei, weil er seinen früheren Auftraggeber, den Mafia-Boss Lombard, ans Messer geliefert hat. Dafür gibt es vom Gericht Schulderlass für alle seine achtundzwanzig - Zeltsermann scheint diese Zahl zu lieben - Auftragsmorde. So setzt der Roman als Studie einer Resozialisierung ein, und man ist als Leser nicht allzu optimistisch gestimmt, dass die Übung gelingen wird.
Selbst wenn March sich als moralisch integre Persönlichkeit präsentiert, die eine zweite Chance verdient hat. Als Putzkraft schnürt er nächtens allein durch ein Bürogebäude, argwöhnisch beäugt vom Portier, von einem anonymen Anrufer und einem sensationsgeilen Journalisten verfolgt, angeglotzt und angefeindet tagsüber, wenn er sich in einen Diner traut, obendrein beschattet von Polizei und Mafia. Und dann taucht eine unwiderstehlich attraktive, energiegeladene und für ihn, den Anfangsechziger, viel zu junge Frau auf, die sich ihm als Ghostwriterin für seine Version der Geschichte andient.
Ähnliche Versuchsanordnung wie in "Paria", unterschiedliche Ausführung. Im Präsens rekapituliert Leonard March als Ich-Erzähler, wie es dazu kam, dass er in den siebziger Jahren Killer wurde. Er hat noch immer keine Schuldgefühle, weil die Opfer keine Waisenknaben waren. Aber er beschönigt auch nicht, wie er durch sein vor der Familie verborgenes Doppelleben deren Existenz ruinierte.
Für seine Kinder gibt es kein Zurück zu ihrem Vater, da ist nur Hass und dumpfe Seelenvernichtung; davon erzählt er in den "Gegenwart"-Kapiteln im Präteritum. Die Vergangenheit lebt, die Gegenwart ist schon so gut wie abgeschlossen, auch wenn er zwei Drogensüchtige von einem Überfall auf einen Laden abhält und dadurch seinen Willen, ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, dokumentiert.
Aber so, wie diese Gesellschaft gestrickt ist, lautet die Botschaft des Autors, hält sie selbst diesen Einsatz für taktisches Geplänkel, für einen unglaubwürdigen Trick. Menschlichen Kredit hat hier niemand mehr. Und Zeltserman erteilt noch einer gängigen Floskel der Gegenwart eine harsche Absage - das dumme Gerede, man müsse sich "neu erfinden", kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, es braucht schon ein soziales Umfeld, das diesen Schachzug zulässt.
P.S.: Ein aufregendes Buch von Dave Zeltserman wartet noch immer auf seine Übersetzung: Vor fünf Jahren legte er mit "The Caretaker of Lorne Field" einen Abstecher ins Horror-Genre vor. Auch dort ist die Geschichte so vermeintlich simpel wie möglich: Ein Mann schneidet und bewacht tagaus, tagein, Jahr um Jahr ein Feld mit fleischfressenden Pflanzen, weil er einen Vertrag erfüllt, der seine Familie seit einer Prophezeiung vor dreihundert Jahren an diese Aufgabe bindet.
Die "Aukowies" genannten Tierpflanzen würden alles Leben auf der Erde in kürzester Zeit vernichten. Aber die Gemeinde sieht keinen Sinn mehr darin, den Hüter zu zahlen, die Söhne verweigern die Nachfolge für diese vermeintlich in die Jahre gekommene Aufgabe. Wie glaubwürdig ist eine Drohung, die Erde würde untergehen, nur weil ein Feldhüter ausfällt? Zeltserman beantwortet die Frage mit archaischer Wucht und wahrem Schrecken. Man sollte sich ihm ausliefern, selbst wenn man kein Anhänger des Genres ist.
HANNES HINTERMEIER
Dave Zeltserman: "Killer". Roman.
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master Verlag, Berlin 2015. 272 S., br., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auswüchse eines kaputten Systems: Warum es sich lohnt, den amerikanischen Autor Dave Zeltserman zu lesen
Die meisten Krimi-Autoren suchen ein Erfolgsrezept, das beim Leser ankommt, um es dann, wenn die Übung gelingt, nie mehr zu variieren. Dieser Technik folgen so gut wie alle Weltbestseller, und wer es auf einem lokalen Markt geschafft hat, muss im Regelfall auch zufrieden sein. Wer es allerdings nicht nur kommerziell, sondern auch literarisch schaffen will, produziert am Markt vorbei; und wer obendrein jedes Mal ein anderes, neues Buch schreiben will, kann sich gleich als Nischenbewohner einrichten.
Man hat den Eindruck, dass den Amerikaner Dave Zeltserman solche Überlegungen nicht kümmern. In Deutschland ist er weithin unbekannt, drei seiner nunmehr vierzehn Bücher sind in zwei Berliner Verlagen übersetzt worden. Zwei bei Pulpmaster, eines bei Suhrkamp. Bei letzterem erschien vor vier Jahren "28 Minuten" (im Original treffender "Outsourced"), ein unvergessliches Kabinettstück über vier arbeitslose, weil entsorgte Computerspezialisten, die den perfekten Bankraub planen. Der soll sie in achtundzwanzig Minuten zu reichen Männern machen, ein Plan, der auch mit Rache am System zu tun hat.
Zeltserman, 1959 in Boston geboren, war in einem früheren Leben selbst Software-Entwickler, verlegte sich dann aber Anfang der nuller Jahre aufs Schreiben und hat sich nach nunmehr vierzehn Büchern als feste Größe im Noir-Genre behauptet: Er wird gerne in die direkte Traditionslinie von Jim Thompson gestellt, auch wenn er von dieser mehr und mehr abweicht. In "Paria" (2013) geht es um einen auf der Haft entlassenen Schwerverbrecher, der mit seiner bürgerlichen Umwelt nicht zurechtkommt. Deshalb steuert dieser Kyle Nevin sogleich zurück in jenes Berufsfeld, das er am besten kennt, die organisierte Unterwelt des südlichen Bostons. Einen so üblen Burschen würde man nicht mit einem Buchvertrag in Verbindung bringen, aber sein Erfinder spendiert ihm voller Selbstironie genau dies - sowie die Fähigkeit, seine Memoiren besser zu schreiben, als sie der dafür engagierte Creative-Writing-Typ hinbekommen hätte. So kommt Kyle in die Mühlen der Bewusstseinsindustrie, die ihm alsbald ein Plagiatsbein stellt, für das er sich mit den Mitteln seiner Welt rächt.
Auch die jüngste Veröffentlichung Zeltsermans, "Killer", variiert dieses Schema und hat erneut einen aus der Haft entlassenen Soziopathen zum Protagonisten. Der Killer Leonard March kommt nach vierzehn Jahren frei, weil er seinen früheren Auftraggeber, den Mafia-Boss Lombard, ans Messer geliefert hat. Dafür gibt es vom Gericht Schulderlass für alle seine achtundzwanzig - Zeltsermann scheint diese Zahl zu lieben - Auftragsmorde. So setzt der Roman als Studie einer Resozialisierung ein, und man ist als Leser nicht allzu optimistisch gestimmt, dass die Übung gelingen wird.
Selbst wenn March sich als moralisch integre Persönlichkeit präsentiert, die eine zweite Chance verdient hat. Als Putzkraft schnürt er nächtens allein durch ein Bürogebäude, argwöhnisch beäugt vom Portier, von einem anonymen Anrufer und einem sensationsgeilen Journalisten verfolgt, angeglotzt und angefeindet tagsüber, wenn er sich in einen Diner traut, obendrein beschattet von Polizei und Mafia. Und dann taucht eine unwiderstehlich attraktive, energiegeladene und für ihn, den Anfangsechziger, viel zu junge Frau auf, die sich ihm als Ghostwriterin für seine Version der Geschichte andient.
Ähnliche Versuchsanordnung wie in "Paria", unterschiedliche Ausführung. Im Präsens rekapituliert Leonard March als Ich-Erzähler, wie es dazu kam, dass er in den siebziger Jahren Killer wurde. Er hat noch immer keine Schuldgefühle, weil die Opfer keine Waisenknaben waren. Aber er beschönigt auch nicht, wie er durch sein vor der Familie verborgenes Doppelleben deren Existenz ruinierte.
Für seine Kinder gibt es kein Zurück zu ihrem Vater, da ist nur Hass und dumpfe Seelenvernichtung; davon erzählt er in den "Gegenwart"-Kapiteln im Präteritum. Die Vergangenheit lebt, die Gegenwart ist schon so gut wie abgeschlossen, auch wenn er zwei Drogensüchtige von einem Überfall auf einen Laden abhält und dadurch seinen Willen, ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, dokumentiert.
Aber so, wie diese Gesellschaft gestrickt ist, lautet die Botschaft des Autors, hält sie selbst diesen Einsatz für taktisches Geplänkel, für einen unglaubwürdigen Trick. Menschlichen Kredit hat hier niemand mehr. Und Zeltserman erteilt noch einer gängigen Floskel der Gegenwart eine harsche Absage - das dumme Gerede, man müsse sich "neu erfinden", kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, es braucht schon ein soziales Umfeld, das diesen Schachzug zulässt.
P.S.: Ein aufregendes Buch von Dave Zeltserman wartet noch immer auf seine Übersetzung: Vor fünf Jahren legte er mit "The Caretaker of Lorne Field" einen Abstecher ins Horror-Genre vor. Auch dort ist die Geschichte so vermeintlich simpel wie möglich: Ein Mann schneidet und bewacht tagaus, tagein, Jahr um Jahr ein Feld mit fleischfressenden Pflanzen, weil er einen Vertrag erfüllt, der seine Familie seit einer Prophezeiung vor dreihundert Jahren an diese Aufgabe bindet.
Die "Aukowies" genannten Tierpflanzen würden alles Leben auf der Erde in kürzester Zeit vernichten. Aber die Gemeinde sieht keinen Sinn mehr darin, den Hüter zu zahlen, die Söhne verweigern die Nachfolge für diese vermeintlich in die Jahre gekommene Aufgabe. Wie glaubwürdig ist eine Drohung, die Erde würde untergehen, nur weil ein Feldhüter ausfällt? Zeltserman beantwortet die Frage mit archaischer Wucht und wahrem Schrecken. Man sollte sich ihm ausliefern, selbst wenn man kein Anhänger des Genres ist.
HANNES HINTERMEIER
Dave Zeltserman: "Killer". Roman.
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master Verlag, Berlin 2015. 272 S., br., 14,90 [Euro].
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