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Die Odyssee der Kinder: Henryk Grynbergs dokumentarische Holocaust-Erzählung "Kinder Zions"
Beinahe anheimelnd und doch ein wenig unheimlich beginnt dieses Buch, weil es das Subjektivierende der Literatur und das Entsubjektivierende ihrer dokumentarischen Spielart auf eine so simple wie überzeugende Weise zusammenzwingt. Statt von einer bedeutsamen Figur und ihrem Schicksal zu erzählen, lässt der Pole Henryk Grynberg in seiner "dokumentarischen Erzählung" mit dem Titel "Kinder Zions" gleich viele von den ihren berichten. Die Schicksale gleichen sich im allermeisten und unterscheiden sich in wenigem. Bei diesem wenigen allerdings - und darin liegt das Unheimliche - handelt es sich um nicht weniger als um Leben oder Tod.
"Es ging uns nicht schlecht", lautet die Überschrift des ersten Kapitels, und sämtliche, durchweg kurzen Absätze auf den ersten drei Seiten beginnen mit denselben zwei Worten: "Mein Vater war Viehhändler", "Mein Vater hatte eine Molkerei", "Mein Vater war Besitzer einer Mühle", "Mein Vater war Forstverwalter", "Mein Vater war Schuster". Der rhythmische Singsang endet mit dem Ereignis, das alles ändert: "Mein Vater war Buchhalter, verstand sich auf Politik und sah voraus, dass es Krieg mit den Deutschen geben würde." Damit bricht die Litanei ab.
Am 1. September 1939 beginnt die hektische Flucht vieler Polen, vor allem der Juden unter ihnen, vor den deutschen Truppen gen Osten zu den Sowjets. Allerdings ist die neue Grenze zwischen den beiden Mächten, die in einem Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts die Aufteilung Polens vereinbart haben, nicht präzis fixiert. Die Truppen ziehen sich hier zurück und rücken dort vor, sodass nicht wenige, die vor den Deutschen geflohen sind, ihnen kurz darauf erneut gegenüberstehen und gedemütigt, verletzt, gefoltert, getötet werden.
Die Absätze sind nun länger, die Sätze unterscheiden sich stärker - das Erzählte jedoch nicht. Die Väter sterben, die Mütter sterben, die Kinder sterben, alle durcheinander und selten allein. Kaum jemand kann sich verabschieden, die Toten werden oft an unbekanntem Ort verscharrt, und wer gestern noch zu trauern hatte, ist den Betrauerten heute schon nachgefolgt. Die Gräuel nehmen kein Ende.
Wer in die Sowjetunion geflohen ist, ist keineswegs in Sicherheit. Die Kommunisten sehen in den jüdischen Polen Klassenfeinde und Staatenlose, die die sowjetische Staatsbürgerschaft annehmen sollen. Den Mittellosen wird jeder Handel untersagt. 1940 deportiert die Sowjetunion 80.000 Juden (manchen Schätzungen zufolge sind es 220.000) unter grauenhaften Umständen, wie nutzloses Vieh in Güterwaggons, nach Sibirien. Dort vegetierten die Zwangsarbeiter in Erdhöhlen. Die Lebensmittelrationen, die nur erhält, wer arbeitet, verlangsamen das Verhungern nur. Dazu kommen Kälte, Typhus und Ruhr. Die Variationen des bitteren Elends sind vielfältig, das Ende ist stets monoton.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941, erläutern Ewa Czerwiakowski und Lothar Quinkenstein im instruktiven Nachwort, sucht Stalin nach Alliierten und erlässt eine Amnestie für die aus Polen stammenden Zwangsarbeiter und Gulag-Häftlinge. In "Kinder Zions" taucht dieser Umschwung wie ein Deus ex Machina auf. Denn die Erzähler können vom politischen Hintergrund der Amnestie nichts wissen, die die Lagerkommandanten zudem nicht selten zu verheimlichen suchen. Hartnäckig protestieren die Halbtoten, bis man sie laufen lässt. Geld für die Eisenbahn oder Fuhrwerke haben sie nicht, manche erzählen von 300 Kilometern, die sie zu Fuß zurücklegen, von der Aufnahme in Waisenhäusern oder russische Familien.
Als sich bereits Ende 1942 die polnisch-sowjetischen Beziehungen verschlechtern, werden 116.000 Polen aus der Sowjetunion über Iran in die britischen Mandatsgebiete in Palästina evakuiert. Unter ihnen befinden sich 6000 bis 7000 Juden, auch 871 jüdische Kinder. Nach der Ankunft in Palästina 1943 werden einige der "Kinder aus Teheran" von einer Kommission der polnischen Exilregierung in London befragt. Bis heute erkennt Israel sie nicht als Opfer des Holocaust an.
Die Odyssee der Kinder dürfte den meisten hierzulande unbekannt sein. Auch Henryk Grynberg griff erst 1994, mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen, auf die protokollierten Berichte der "Kinder aus Teheran" zurück. 71 Menschen im Alter zwischen 11 und 18 Jahren lässt er in "Kinder Zions", dem eindrucksvollen dritten Band der "Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur", zu Wort kommen. Das Nachwort schweigt darüber, ob und wie er die Protokolle bearbeitet hat. Die Übersetzung von Rowitha Matwin-Buschmann ist schon einmal, 1995, bei Reclam Leipzig erschienen und seit Langem vergriffen.
Grynberg, 1936 in Warschau geboren, hat mit seiner Mutter die deutsche Besatzung in Verstecken überlebt. 1967 reiste er, der damals Schauspieler war, mit einer jiddischen Theatergruppe in die USA und kehrte nicht in die Volksrepublik zurück. Die Übersetzungen seiner Romane und Erzählungen ins Deutsche sind in mehreren Verlagen erschienen, weshalb Grynberg wahrscheinlich weniger bekannt wurde als die Schriftstellerin Hanna Krall, mit der er studiert hat und die wie er als Chronist des Holocaust gilt.
So oft in "Kinder Zions" von Vater, Mutter und Geschwistern die Rede ist - der Gedanke, dass es sich bei dem Kollektiverzähler des Buches nicht nur wegen seines Titels um Minderjährige handeln müsste, stellt sich nicht ein. Denn fortwährend ist in einem gesammelten, sachlichen Ton von furchtbaren Gräueln die Rede. Jegliche kindliche Naivität, jeder jugendlicher Überschwang fehlen. Auch Erleichterung und Hoffnung sind selten und klingen abgeklärt: Es war, "als kehrten wir ins Leben zurück". Oder: "Es ist schwer zu beschreiben, wie wir uns freuten, als wir von der Amnestie erfuhren." Einmal jedoch klingt es angesichts der Todesgegenwart fast kindlich: "Als die Nachricht von der Freilassung der polnischen Staatsbürger (aus den Zwangsarbeitslagern im Nordosten der Sowjetunion) kam, beschlossen wir, in wärmere Gegenden zu fahren, weil wir keine warme Kleidung hatten." JÖRG PLATH
Henryk Grynberg: "Kinder Zions". Dokumentarische Erzählung.
Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur, Band 3. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. Nachwort von Eva Czerwiakowski und Lothar Quinkenstein. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 192 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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