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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mathias Mayer über Shakespeares "King Lear" und den erschaffenen Zuschauer
An Weihnachten 1606 durfte sich Jakob I., König von Schottland und seit 1603 auch von England und Irland, den ersten Zuschauer des "tragischen Dramas King Lear" von Shakespeare nennen. Die Spekulation sei erlaubt, was er von dieser Tragödie gehalten haben mag; amused dürfte er nicht gewesen sein. Ihm, der das schottische Andreaskreuz mit dem englischen Georgskreuz zum Union Jack überlagern ließ und "Großbritannien" zu einem politischen und nicht mehr nur geographischen Begriff erklärte - ihm wurde von seinem namhaftesten Bühnendichter die Tragödie eines Herrschers zugemutet, der gleich zu Anfang der Handlung sein Reich aufteilt. Den Löwinnenanteil soll diejenige Tochter erhalten, die ihn am meisten liebt und dies durch ihre Wortkunst belegen kann.
Goneril brilliert rhetorisch und wird entsprechend belohnt. Regan erweist sich gleichfalls als sprachgewandt und erhält ihren Teil. Cordelia jedoch, Lears Lieblingstochter, versagt sich billiger Rhetorik, geht entsprechend leer aus, sieht sich enterbt und nur schwach durch eine Trostpreisheirat mit dem König von Frankreich entschädigt. Dieses deutliche Anzeichen von Lears später offen ausbrechender Wahnhaftigkeit, die zunächst abstößt, aber am Ende die Empathie des Publikums hervorruft, als Lear den Leichnam seiner ehedem verstoßenen Cordelia betrauert, verbindet sich mit Kritik an bloßer Rhetorik und entsprechender Sprachskepsis.
Shakespeare überantwortet sie dem Zuschauer, den er zudem als Figur "erschafft", wie Mathias Mayer in seiner meisterlichen Studie über "King Lear" überzeugend zeigt. Damit erklärt er auch schlüssig, weshalb Brecht sich so intensiv mit dem Stück beschäftigte, das bereits Grundzüge des epischen Theaters, aber auch der Leitmotivtechnik Richard Wagners und Thomas Manns aufweist. Der Akt- und Szenenstruktur entsprechend, handelt Mayer in fünf Kapiteln diesen Weg zur Empathie ab, wobei die einzelnen Stationen einer Ästhetik der Täuschungen ebenso gelten wie Facetten des Wahnsinns als "Maske der Wahrheit".
Mayer gelingt das Seltene: Philologisch exakt, dicht argumentierend und dabei stilistisch ansprechend seine Fülle an (neuen) Einsichten und Gewichtungen der Motive zu vermitteln. Das ist keine Kleinigkeit angesichts eines Dramas, das neben "Hamlet" zu den meistbesprochenen Werken Shakespeares gehört.
Ob sich durch die Art, wie Shakespeare in diesem Drama vorgeht, eine regelrechte "Tragödie des Zuschauers" ableiten lässt, bleibt eine offene Frage der Deutung, begründbar freilich, wenn wir Mathias Mayer darin folgen, dass wir in Lear eine Figur erkennen, die sich selbst zu beobachten lernt und damit zum Zuschauer ihrer selbst wird. Und Mayer zeigt, wie Shakespeare durch Spruchweisheiten im Stile von Lears an Cordelia gerichtetes Wort "Nothing will come of nothing" die Verbindung zum Vorwissen des Zuschauers unmittelbar herstellt. RÜDIGER GÖRNER
Mathias Mayer: "King Lear - Die Tragödie des Zuschauers". Ästhetik und Ethik der Empathie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 184 S., geb., 20,- Euro.
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