Für die einen ist er Amerikas Metternich, für die anderen ein Zyniker und Kriegsverbrecher. Greg Grandin zeigt in seinem fesselnden Buch, dass Henry Kissinger vor allem eines ist: der einflussreichste Architekt des imperialen, militaristischen und weit nach rechts abgedrifteten Amerika von heute. Wer die Krise der Weltmacht USA verstehen will, der muss Kissinger verstehen - und Grandins Buch lesen. Es ist Kissinger, so argumentiert Greg Grandin, der eine militarisierte Version des amerikanischen Exzeptionalismus eingeführt hat, die bis heute einseitig den imperialen Stil der amerikanischen Außenpolitik bestimmt. Mit seinem Glauben, dass die Realität dem amerikanischen Machtwillen unterworfen werden kann, dass die Intuition des großen Staatsmanns für eine erfolgreiche Außenpolitik wichtiger ist als die genaue Kenntnis der Fakten und dass Fehler in der Vergangenheit kühnes Handeln in der Zukunft nicht beeinträchtigen dürfen, hat Kissinger den Aufstieg der Neokonservativen maßgeblich ermöglicht. Sein Erbe ist es, das die USA in die desaströsen Interventionen in Afghanistan und Irak hineinmanövriert und zu ihrem dramatischen Ansehensverlust in der Welt geführt hat.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Michael Hesse lobt Greg Grandins Kissinger-Biografie für ihre präzise Sezierung von Kissingers politischen Schandtaten. Als das Böse schlechthin erscheint der Mann hier, skrupellos und verlogen. Wenn der Autor Kissingers Verantwortung für einige der brutalsten Militäroperationen in der Geschichte der USA herausarbeitet, schaudert Hesse. Wie der Historiker Grandin den Friedensnobelpreisträger Kissinger zum Schurken degradiert, indem er seine illegalen Methoden und fragwürdigen Ziele offenlegt, findet der Rezensent meisterlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2016Harvard-Professor mit Speisekarte
Greg Grandin geht mit dem Staatsmann Henry Kissinger scharf ins Gericht
Kambodscha war der Sündenfall. Am 24. Februar 1969, vier Wochen nach der Amtseinführung Richard Nixons als 37. Präsident der Vereinigten Staaten, begann Henry Kissinger mit der Planung der geheimen "Operation Menu". Dahinter verbarg sich die massive Bombardierung Kambodschas mit B-52-Bombern, ein "illegaler, verdeckter Krieg gegen ein neutrales Land" und eine der "brutalsten Militäroperationen in der Geschichte" Amerikas - schreibt der an der New York University lehrende Historiker Greg Grandin. Ihm geht es nicht, wie manchem anderen vor ihm, um die Entlarvung Kissingers als eines Paranoikers oder Psychopathen. Grandin sucht nach Antworten auf die Frage, warum und wie es dahin kommen konnte, dass ein Einzelner die Weichen hin zu dem "alles durchdringenden Überwachungs- und Terrorbekämpfungsstaat" stellen konnte, "in dem wir heute leben".
Nur eine "übergroße Gestalt" kann einen solchen "Schatten" werfen. Grandins Kissinger ist ein umtriebiger und zielstrebiger, machtbewusster und machtbesessener, und in seinen aktiven politischen Jahren zwischen Wutausbrüchen, Eifersuchtsanfällen und Depressionen schwankender - kurzum: schwer fassbarer Mann. Für die Verfertigung dieses Bildes hat Grandin vieles gesichtet, was von und über Henry Kissinger geschrieben worden ist, hat mit Zeitzeugen gesprochen und ist in die Archive gestiegen. Mit wem er gesprochen und was er gesehen hat, muss man den Anmerkungen entnehmen, und das ist eine ziemlich mühsame Angelegenheit. Denn aus unerfindlichen Gründen sind diese teils als End-, teils als ellenlange Fußnoten plaziert, so dass der Leser ständig an drei Stellen des Buches unterwegs ist und zwangsläufig auf etliche Redundanzen stößt. Dabei geraten die Stärken dieser Arbeit aus dem Blick. Denn Grandin hat ein in weiten Partien spannendes, faktengesättigtes Buch vorgelegt, das gerade in den ersten Kapiteln auch ein originelles biographisches Porträt ist. Mit zunehmender Neugier folgt man dem ehrgeizigen jungen Henry Kissinger, der 1938 als Fünfzehnjähriger auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Amerika gekommen war, beim rasanten Aufbau seiner Karriere.
Eigentlich waren es zwei. Das Fundament für die erste Karriere, die akademische, hatte er 1950 mit einer vierhundertseitigen, nicht veröffentlichten Arbeit über Spengler, Toynbee und Kant ("The Meaning of History") gelegt, mit der er sein Bachelor-Studium in Harvard abschloss. Grandin hat sie ausgegraben und benutzt sie als Schlüssel für das Verständnis der zweiten, der politischen, der eigentlichen Karriere des Henry Kissinger.
Diese wiederum verdankte der ambitionierte Harvard-Professor einem Netzwerk, das er während der fünfziger und sechziger Jahre geknüpft hatte. Es war Kissinger auch von Nutzen, als er sich und der Welt, ganz im Sinne Oswald Spenglers, beweisen wollte, "dass gewisse mit Vorstellungskraft begabte Individuen die innere Bewegung der Geschichte erfassen und zu ihrem Vorteil manipulieren" können. Sagt sein Biograph. Also hielt er sich alle Optionen offen, setzte, als es so weit war, in letzter Minute auf den eigentlich verachteten Republikaner Nixon und begann seine politische Karriere mit einer Intrige: Mit Hilfe geheimer Informationen, die Kissinger in Paris beschafft hatte, gelang es Nixons Leuten, die Friedensgespräche über Vietnam zu sabotieren und damit die Position des demokratischen Gegenkandidaten Hubert Humphrey, der auf diese gesetzt hatte, empfindlich zu schwächen. Am 5. November 1968 gewann Nixon die Wahl, drei Wochen später bot er Kissinger offiziell das Amt des Nationalen Sicherheitsberaters an, das dieser sogleich in eine persönliche Machtzentrale umwandelte.
Von hier aus steuerte und verlängerte er vor allem den Krieg in Vietnam - die Interventionen in Kambodscha, dann auch in Laos eingeschlossen. Weil aber vieles von dem, was Kissinger - von 1973 bis 1977 zugleich als Außenminister - plante und umsetzen ließ, illegal war, entwickelte sich im Biotop des Weißen Hauses eine "Bunkermentalität". Sie mündete bald in nicht minder illegale Abhör-, Einbruchs- und anderen Aktivitäten, machte den "Zerfall des innenpolitischen Konsenses" unumkehrbar - und ließ den Verursacher dieses Prozesses zum Zauberlehrling werden.
Denn die "sehr realen Grenzen der Handlungsmacht der Vereinigten Staaten im Gefolge ihrer Vertreibung aus Indochina" führten dazu, "dass die US-Regierung zunehmend auf geheime Aktivitäten setzte". So plausibel diese Analyse ist, so abwegig sind die Schlussfolgerungen: Folgt man Grandin, gab es keine Verschwörung und keinen Putsch, keinen Bürgerkrieg und kein Attentat, keinen Folterbefehl und keinen politischen Mord, für die Henry Kissinger bis zum Ende seiner Amtszeit nicht wenigstens indirekt die Verantwortung trug. Dass dessen großen Leistungen, wie die Neuordnung der Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion und zur Volksrepublik China, in diesem Szenario zu Fußnoten verkommen, ist konsequent.
Und weil Grandins Kissinger alles zuzutrauen ist, müssen er beziehungsweise der "Kissingerismus" auch direkt oder indirekt für die Legitimation sämtlicher Kriege verantwortlich zeichnen, die Amerika seit 1977 geführt hat, die Golfkriege der beiden Bushs und den Drohnenkrieg Obamas eingeschlossen. Das ist grotesk. Grandins Kissinger ist kein Staatsmann. Er ist ein Popanz.
GREGOR SCHÖLLGEN
Greg Grandin: Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe. C. H. Beck Verlag, München 2016. 296 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Greg Grandin geht mit dem Staatsmann Henry Kissinger scharf ins Gericht
Kambodscha war der Sündenfall. Am 24. Februar 1969, vier Wochen nach der Amtseinführung Richard Nixons als 37. Präsident der Vereinigten Staaten, begann Henry Kissinger mit der Planung der geheimen "Operation Menu". Dahinter verbarg sich die massive Bombardierung Kambodschas mit B-52-Bombern, ein "illegaler, verdeckter Krieg gegen ein neutrales Land" und eine der "brutalsten Militäroperationen in der Geschichte" Amerikas - schreibt der an der New York University lehrende Historiker Greg Grandin. Ihm geht es nicht, wie manchem anderen vor ihm, um die Entlarvung Kissingers als eines Paranoikers oder Psychopathen. Grandin sucht nach Antworten auf die Frage, warum und wie es dahin kommen konnte, dass ein Einzelner die Weichen hin zu dem "alles durchdringenden Überwachungs- und Terrorbekämpfungsstaat" stellen konnte, "in dem wir heute leben".
Nur eine "übergroße Gestalt" kann einen solchen "Schatten" werfen. Grandins Kissinger ist ein umtriebiger und zielstrebiger, machtbewusster und machtbesessener, und in seinen aktiven politischen Jahren zwischen Wutausbrüchen, Eifersuchtsanfällen und Depressionen schwankender - kurzum: schwer fassbarer Mann. Für die Verfertigung dieses Bildes hat Grandin vieles gesichtet, was von und über Henry Kissinger geschrieben worden ist, hat mit Zeitzeugen gesprochen und ist in die Archive gestiegen. Mit wem er gesprochen und was er gesehen hat, muss man den Anmerkungen entnehmen, und das ist eine ziemlich mühsame Angelegenheit. Denn aus unerfindlichen Gründen sind diese teils als End-, teils als ellenlange Fußnoten plaziert, so dass der Leser ständig an drei Stellen des Buches unterwegs ist und zwangsläufig auf etliche Redundanzen stößt. Dabei geraten die Stärken dieser Arbeit aus dem Blick. Denn Grandin hat ein in weiten Partien spannendes, faktengesättigtes Buch vorgelegt, das gerade in den ersten Kapiteln auch ein originelles biographisches Porträt ist. Mit zunehmender Neugier folgt man dem ehrgeizigen jungen Henry Kissinger, der 1938 als Fünfzehnjähriger auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Amerika gekommen war, beim rasanten Aufbau seiner Karriere.
Eigentlich waren es zwei. Das Fundament für die erste Karriere, die akademische, hatte er 1950 mit einer vierhundertseitigen, nicht veröffentlichten Arbeit über Spengler, Toynbee und Kant ("The Meaning of History") gelegt, mit der er sein Bachelor-Studium in Harvard abschloss. Grandin hat sie ausgegraben und benutzt sie als Schlüssel für das Verständnis der zweiten, der politischen, der eigentlichen Karriere des Henry Kissinger.
Diese wiederum verdankte der ambitionierte Harvard-Professor einem Netzwerk, das er während der fünfziger und sechziger Jahre geknüpft hatte. Es war Kissinger auch von Nutzen, als er sich und der Welt, ganz im Sinne Oswald Spenglers, beweisen wollte, "dass gewisse mit Vorstellungskraft begabte Individuen die innere Bewegung der Geschichte erfassen und zu ihrem Vorteil manipulieren" können. Sagt sein Biograph. Also hielt er sich alle Optionen offen, setzte, als es so weit war, in letzter Minute auf den eigentlich verachteten Republikaner Nixon und begann seine politische Karriere mit einer Intrige: Mit Hilfe geheimer Informationen, die Kissinger in Paris beschafft hatte, gelang es Nixons Leuten, die Friedensgespräche über Vietnam zu sabotieren und damit die Position des demokratischen Gegenkandidaten Hubert Humphrey, der auf diese gesetzt hatte, empfindlich zu schwächen. Am 5. November 1968 gewann Nixon die Wahl, drei Wochen später bot er Kissinger offiziell das Amt des Nationalen Sicherheitsberaters an, das dieser sogleich in eine persönliche Machtzentrale umwandelte.
Von hier aus steuerte und verlängerte er vor allem den Krieg in Vietnam - die Interventionen in Kambodscha, dann auch in Laos eingeschlossen. Weil aber vieles von dem, was Kissinger - von 1973 bis 1977 zugleich als Außenminister - plante und umsetzen ließ, illegal war, entwickelte sich im Biotop des Weißen Hauses eine "Bunkermentalität". Sie mündete bald in nicht minder illegale Abhör-, Einbruchs- und anderen Aktivitäten, machte den "Zerfall des innenpolitischen Konsenses" unumkehrbar - und ließ den Verursacher dieses Prozesses zum Zauberlehrling werden.
Denn die "sehr realen Grenzen der Handlungsmacht der Vereinigten Staaten im Gefolge ihrer Vertreibung aus Indochina" führten dazu, "dass die US-Regierung zunehmend auf geheime Aktivitäten setzte". So plausibel diese Analyse ist, so abwegig sind die Schlussfolgerungen: Folgt man Grandin, gab es keine Verschwörung und keinen Putsch, keinen Bürgerkrieg und kein Attentat, keinen Folterbefehl und keinen politischen Mord, für die Henry Kissinger bis zum Ende seiner Amtszeit nicht wenigstens indirekt die Verantwortung trug. Dass dessen großen Leistungen, wie die Neuordnung der Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion und zur Volksrepublik China, in diesem Szenario zu Fußnoten verkommen, ist konsequent.
Und weil Grandins Kissinger alles zuzutrauen ist, müssen er beziehungsweise der "Kissingerismus" auch direkt oder indirekt für die Legitimation sämtlicher Kriege verantwortlich zeichnen, die Amerika seit 1977 geführt hat, die Golfkriege der beiden Bushs und den Drohnenkrieg Obamas eingeschlossen. Das ist grotesk. Grandins Kissinger ist kein Staatsmann. Er ist ein Popanz.
GREGOR SCHÖLLGEN
Greg Grandin: Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe. C. H. Beck Verlag, München 2016. 296 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"'Kissingers langer Schatten' gehört in die lange Reihe der sogenannten Killinger-Bücher, also jener Abrechnung, die Kissinger für fast jede Scheußlichkeit amerikanischer Politik bis heute verantwortlich macht. Grandin macht das allerdings ziemlich gut".
Martin Doerry, Der Spiegel, 30. April 2016
"Kluge Analyse."
Hörzu, 1. April 2016
Martin Doerry, Der Spiegel, 30. April 2016
"Kluge Analyse."
Hörzu, 1. April 2016