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Hochbegabter Pianist, Mozart- und Liszt-Kenner, Eigentümer einer Art-déco-Kirche: Inge Kloepfer macht mit Kit Armstrong bekannt
Einer der Vorzüge dieses Buchs ist zugleich das, was ein wenig bedenklich stimmt: seine locker-flockige Lesbarkeit. Sie zeichnet selbst die kurzen Interviewpassagen mit dem hyperintelligenten Pianisten Kit Armstrong aus, welche die Autorin immer wieder zwischen den Kapiteln einstreut. Man nimmt darin gewissermaßen Armstrongs unerschütterlich sanftes Lächeln wahr, wenn etwa zu lesen ist: "Du weißt ja, dass meine Hühner in meinem frühen Leben eine große Rolle gespielt haben." Oder seine Gegenfrage, wenn es um die Bedeutung des Wissens fürs Menschenglück geht: "Sind wir glücklicher als die Kühe auf der Wiese?"
Wer den 1992 in Los Angeles geborenen Kit Armstrong je im Gespräch erlebt hat, kennt dessen umsichtiges Bemühen, freundlich, knapp und verständlich zu antworten. Immer hat man dabei den Eindruck, dass Armstrong in antrainierter Vereinfachung spricht, in der liebenswerten Absicht, sein Gegenüber nicht mit der wahren Komplexität der Dinge intellektuell zu erschlagen. Denn im Grunde erschlägt die Begegnung mit diesem Höchstbegabten fast jeden Gesprächspartner.
Er sei gar kein Künstler und "kein echter Pianist", behauptet Armstrong gern, so auch in diesem Buch. Die Musik habe er zur Profession gewählt, weil sie ihm leichter falle als die Mathematik; in erster Linie als Naturwissenschaftler sieht er sich gleichwohl. Inge Kloepfers Biographie vollzieht Armstrongs Lebensweg aufmerksam nach, von der aus Taiwan stammenden Mutter über die Einflüsse des Förderers Alfred Brendel und des weniger berühmten, aber als Lehrer wichtigeren Benjamin Kaplan bis zur Gegenwart. Gerade etwas über dreißig, ist Armstrong heute im Konzertleben als Mozart- und Liszt-Spezialist ebenso präsent wie als autodidaktischer Organist. Und nebenher Eigentümer einer aufgelassenen Art-déco-Kirche von hervorragender Akustik, irgendwo im nordöstlichen französischen Niemandsland.
Bei alldem kann man schon ins Staunen kommen, und diesem Staunen gibt Kloepfer sich bereitwillig hin. Bisweilen überstrapaziert sie die an sich einnehmende Laienhaftigkeit ihres Blicks. Im Grunde betrachtet sie Armstrong als Unikum und Unikat, statt einzuordnen und zu ergründen. Mancher Leser wird es durchaus schätzen, wie die Autorin ihn an ihrem eigenen schrittweisen Kenntniserwerb ebenso schrittweise teilhaben lässt, etwa was Fragen der Hirnforschung angeht. Manch anderen, der sich mehr Straffung und Resümee wünschte, wird diese erzählerische Unbefangenheit gelegentlich zu zügigem Weiterblättern verlocken.
Ähnliches gilt für den Stil, der im gehobenen Boulevardton und nicht frei von Worthülsen daherkommt. Diese Niedrigschwelligkeit schließt einerseits Menschen mit geringer musikalischer Vorbildung nicht aus, wird andererseits schlecht gelaunte Leser möglicherweise verbissen lächeln lassen, wenn sie auf Armstrongs Beantwortung der Frage stoßen, was er an Menschen nicht möge: "Geschwätzigkeit".
Das Etikett "Wunderkind" hängt dem Porträtierten, der mit neun Monaten zu sprechen und zu rechnen und mit fünf Jahren zu komponieren begann, ebenso unabschüttelbar an wie Brendels Satz, Armstrong sei "die größte musikalische Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin". Ob es daher das von Armstrong vehement abgelehnte W-Wort wirklich noch im Titel der Biographie gebraucht hätte, sei dahingestellt. Das eigentliche Armstrong-Wunder besteht ja gerade darin, dass uns die Aufführung eines klaviertechnischen Hexenwerks wie Liszts "Transzendentale Etüden" durch diesen musizierenden Naturwissenschaftler gerade nicht als lebloses Perfektionsspektakel erscheint, sondern mirakulös beseelt.
Warum wir Hörer nun überhaupt derartige Beseelung empfinden (oder eben nicht) - auch dieser Frage geht Armstrong seit einigen Jahren in einem eigenen Forschungsprojekt zu und mit Künstlicher Intelligenz in Taipeh nach. Davon handelt das letzte Kapitel dieses Buchs, das von verständlicher Überforderung und immer spürbarer, aber durchaus auch mal kritischer Zuneigung geprägt ist. Nicht zuletzt der Witz, der in Armstrongs ausgiebigen O-Tönen zum Vorschein kommt, versöhnt mit den gelegentlichen Längen und Plattitüden der Erzählung. Etwa Armstrongs abschließendes Statement zu einer ausufernden Diskussion über die Frage der Ausführung von Vorschlägen in Bachs Ouvertüre nach französischer Art: "Wissen Sie, die Frage nach dem Vorschlag ist genauso wichtig oder unwichtig wie die Diskussion darüber, ob man eine Toilettenrolle mit dem Anfang des Papiers nach oben oder nach unten auf den Halter schiebt." ALBRECHT SELGE
Inge Kloepfer: "Kit Armstrong". Metamorphosen eines Wunderkinds.
Berlin Verlag, Berlin 2024. 256 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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