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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gegen die nagende Angst, das Leben zu versäumen, hilft eins garantiert: Ilona Hartmanns zweiter Roman „Klarkommen“.
Jungsein kann sich anfühlen, als müsse man leben bis zum Umfallen, das Beste aus jedem Tag auswringen und wunderbare Erinnerungen sammeln. Wenn das nicht klappt, kommt es einem vor, als wäre kostbare Zeit verschwendet. Gerade wenn das Internet, Filme, Bücher einem vorspielen, das Leben aller anderen wäre spannender als das eigene.
Die namenlose Ich-Erzählerin des Romans „Klarkommen“ lebt bis zu ihrem Schulabschluss in einem kleinen namenlosen Dorf – in dem gibt es zwei Brunnen, zwei Bäcker, eine Waschanlage, eine Handvoll Gaststätten und zu viele Friseure. „Die Gegend sah aus, als hätte Gott oder sonst wer den Rest der Welt hier abgestellt.“ Nach dem Abitur möchte die Erzählerin alles anders machen als in ihrer Kindheit dort, all das erleben, was im Mikrokosmos der immer gleichen Reihenhausfassaden nicht möglich war. Deshalb zieht sie zum Studium mit ihren besten Freunden Mounia und Leon in die Großstadt – auch die ist hier namenlos. Soll zeigen: die Kluft zwischen Provinz und Metropole gibt es überall.
Die Autorin dieses Buches, Ilona Hartmann, ist selbst in Backnang aufgewachsen, einem kleinen Ort in Baden-Württemberg, hat in Leipzig studiert und lebt jetzt in Berlin. Sie ist mittlerweile 34 Jahre alt. Womöglich ist die Teenie-Angst auch an ihr inzwischen vorübergezogen, das Leben könnte nach dem 30. Geburtstag schlagartig vorbei sein. Immerhin war ihr Debüt „Land in Sicht“ von 2020 bereits ein Bestseller, sie schreibt als freie Autorin für große Medien, über 76 000 Leute folgen ihr auf Instagram und noch einige auf X. Mit witzigen Gedanken und Alltagsbeobachtungen („ein langer tag als bürosirene geht zu ende“) erarbeitet sie sich da ein Publikum auch für ihre Bücher. Ihren zweiten Roman fasst sie auf X in verschiedenen Varianten zusammen, zum Beispiel so: „klarkommen spinnt ein dichtes netz aus ereignissen die irgendwie geiler hätten laufen können“.
Die große Stadt hat für Ilona Hartmanns Protagonistin tausend Türen, und jede davon möchte sie öffnen. In Wirklichkeit ist dahinter aber alles weniger bilderbuchhaft als in ihren Vorstellungen. Eine Liste der dreißig Dinge, die die Heldin unbedingt erleben möchte, wird zu einer Bucketlist, die sie träumerisch führt und nie wirklich abhakt. Die maximale Anarchie ihres Post-Abitur-Lebens besteht darin, mehrere Brotaufstriche gleichzeitig aufzureißen, beinahe hedonistisch – anstatt sorgsam einen nach dem anderen zu verbrauchen. Die Kapitel des Romans sind zum Teil nicht länger als ein Satz, selten mehr als ein paar Seiten, und binden Augenblicke des Lebens der drei Freunde aneinander. Sie lesen sich schnell und bleiben doch im Gedächtnis. Ilona Hartmann schreibt präzise über die Ernüchterung des Alltäglichen: „Uns war zu jedem Zeitpunkt schmerzlich klar, dass wir nicht wild genug, nicht jung genug, nicht wütend genug, nicht intensiv genug, nicht verschwenderisch genug unsere Zeit verschwendeten.“ Mit Ilona Hartmanns Roman ist die Zeit, wenn überhaupt, auf die denkbar amüsanteste Art verschwendet.
Ihre Erzählerin muss allerdings feststellen, dass alle anderen es besser hinbekommen, das Leben auszukosten, als sie. Leon, ihr bester Kinderfreund und Schwarm wird zum Hipster mit gewollt schräger Frisur. Er findet einen Job, der sein Sozialleben ankurbelt und hängt in den richtigen Cliquen ab. Mounia, die beste Freundin, nimmt ihr Studium ernst, ihre Verunsicherung scheint verhältnismäßig. Nur die Ich-Erzählerin pflegt als neue Freizeitbeschäftigung allein, mitternachts im Supermarkt nach verschiedenen Energy-Drinks zu suchen und darauf zu hoffen, dass endlich irgendwas passiert: „Alles in der neuen Stadt fiel mir schwer. Ausgehen, drinbleiben, hineinfinden, mitmachen, loslassen, ausatmen“.
Manche Sätze von Ilona Hartmann möchte man sich sofort herausschreiben, so sehr kitzeln sie in der Magengrube an einem bekannten Gefühl. Die wenigsten haben doch die Fähigkeit, Gelegenheiten entspannt zu verpassen. Stattdessen hetzen viele Menschen einem perfekten Moment hinterher, den es doch nicht gibt. Zum Beispiel, weil die Heldin am Morgen vor der Party des Semesters schweißgebadet aufwacht: ausgerechnet jetzt eine Grippe. Eine Nacht, die unter Stroboskoplicht verbracht werden sollte, endet desillusionierend an einem Würstelstand, bevor sie richtig begonnen hat. Zurück bleibt die Angst, das wahre Leben zu versäumen.
All diese scheinbar alltäglichen Erfahrungen werden bei Ilona Hartmann zur wunderbar zartbitteren Erzählung. Zum Schluss fragt man sich einen Augenblick lang: Was ist eigentlich in diesem Buch passiert? Gar nicht mal so viel. Es sind Momentaufnahmen des Erwachsenwerdens und widersprüchliche Gefühle, die dieser Roman festhält, mit seiner Heldin, die möglichst viele Fehler machen will, aber dabei alles richtig. Zu lesen, wie normal das unglamouröse Leben ist, lässt einen etwas schwermütig zurück. Damit aber fühlt man sich nicht mehr allein.
EMILY WEBER
Ilona Hartmann:
Klarkommen. Roman. Ullstein, Berlin 2024.
192 Seiten, 22 Euro.
Das Erwachsensein hat sich die Heldin der Schriftstellerin Ilona Hartmann, geboren 1990 in Backnang, glamouröser vorgestellt.
Foto: M. Gambarini / Imago / Funke Foto Services
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