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Auch die glamouröse Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie konnte die tiefe Krise der klassischen Musik nicht überdecken: Sie ist im Ritual erstarrt, das Repertoire bleibt konventionell, und Konzertbesuche dienen oft nur dem elitären Distinktionsbedürfnis. Unterdessen versuchen die Musikkonzerne mit Entspannungs-CDs für gestresste Manager und der cleanen Inszenierung geigender Schönheiten gegen sinkende Verkäufe anzukämpfen. Dennoch schreitet die Entfremdung der Masse der Menschen von der klassischen Musik immer weiter fort. Angesichts dieses Elends fordert Berthold Seliger einen neuen…mehr

Produktbeschreibung
Auch die glamouröse Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie konnte die tiefe Krise der klassischen Musik nicht überdecken: Sie ist im Ritual erstarrt, das Repertoire bleibt konventionell, und Konzertbesuche dienen oft nur dem elitären Distinktionsbedürfnis. Unterdessen versuchen die Musikkonzerne mit Entspannungs-CDs für gestresste Manager und der cleanen Inszenierung geigender Schönheiten gegen sinkende Verkäufe anzukämpfen. Dennoch schreitet die Entfremdung der Masse der Menschen von der klassischen Musik immer weiter fort. Angesichts dieses Elends fordert Berthold Seliger einen neuen Klassikkampf um die verdrängten Potenziale der Musik. Er wirft einen kenntnisreichen Blick hinter die Kulissen des heutigen Klassikbetriebs und ruft mit Verve in Erinnerung, dass die ernste Musik entgegen der Mutlosigkeit und Verflachung von Mozart über Beethoven bis Eisler und Abbado immer auf die Revolutionierung der Schönheit und damit auch der realen gesellschaftlichen Verhältnisse zielte. Seliger verlangt nichts weniger als die Rettung des rebellischen Glutkerns der Klassik, die nur über ihre breite gesellschaftliche Wiederaneignung gelingen kann und die wie Bildung in der Vergangenheit immer wieder aufs Neue erkämpft werden muss. So ist seine schonungslose Kritik an der gegenwärtigen Misere am Ende eine flammende Liebeserklärung an die Musik.
Autorenporträt
Berthold Seliger, geboren 1960, ist Konzertagent und Autor vertritt unter anderem Künstler wie Patti Smith, The Residents, Television und Tortoise. Seliger publiziert regelmäßig über musik- und kulturpolitische Themen. Zuletzt erschien von ihm 2013 Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht und 2015 I Have A Stream. Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2018

Zu den Waffen, Musikliebhaber
Berthold Seliger versucht in seinem Buch „Klassikkampf“ den Stand der „ernsten“
Musik zu bestimmen und sie gegen den Kommerz zu verteidigen
VON THOMAS STEINFELD
Dass es mit der gesamten sogenannten klassischen Musik bald zu Ende gehen könne, ist eine Sorge, die viele Menschen – und nicht nur Liebhaber – umtreibt. Indizien dafür sind leicht gefunden: das Verschwinden dieses Genres aus dem Rundfunk, sein nahendes Ende in der Musikindustrie, seine Demontage in Gestalt von Kompilationen schöner Melodien und Geigerinnen im Badeanzug. Und dann gibt es noch das vermeintlich bei jedem Konzert erkennbare Altern des Publikums – obwohl die Grauhaarigen kontinuierlich nachzuwachsen scheinen, schon seit Generationen, so dass es mehr Konzerte gibt als je zuvor. Die Lage der Klassik erscheint trotzdem als besonders ernst: Denn man kann die Menschen ja nicht zwingen, einer Musik zu lauschen, die sie mehrheitlich offenbar nicht hören wollen.
So verzweifelt scheint die Situation zu sein, dass Berthold Seliger, Konzertagent in Berlin, in seinem jüngsten Buch zu einem „Klassikkampf“ aufruft. Sein Pamphlet erinnert allerdings an die Reiterstatue des Cid in Burgos, der da, in Bronze gegossen, mit kühner Miene, wehendem Mantel und langem Schwert auf einen imaginären Feind weist, und dahinter steht bloß das Stadttheater. Wer also diese Auseinandersetzung führen soll, zu welchem Zweck, mit welchen Mitteln und gegen welchen Feind, geht aus Seligers Werk kaum hervor. Alle Menschen, denen an einer Zukunft für die klassische Musik gelegen ist? In einem letzten, radikalen Aufbäumen der Kultur wider das Banausentum? Und überhaupt: was soll denn „die Klassik“ sein, für die da gekämpft werden muss – die „Wiener Klassik“ oder die „ernste“ Musik, die von einer bürgerlichen Kultur zur „Klassik“ erklärt wurde und die von der Musik des Mittelalters bis zu Helmut Lachenmann reicht? Und was ist dann mit dem Jazz, mit der längst „klassisch“ gewordenen älteren Popmusik oder dem künstlerisch ambitionierten Rock?
Tatsächlich kommt es Berthold Seliger in seinem „Kampf“ um „Bildung“ auf Unterscheidungen nicht an: Seine Aufmerksamkeit richtet sich zwar vor allem auf die „ernste“ Musik, daneben aber wird mitgenommen, was gerade am Wegesrand steht. Und auch der Feind zeichnet sich offenbar durch Vielgestaltigkeit aus: Er setzt sich zusammen aus einem „elitären“ Bürgertum, das seit Jahrzehnten immer wieder dieselben schönen Melodien hören will, aus einer Musikindustrie, die um jeden Preis etwas verkaufen muss, aus einer „Wirtschaft“ und ihrer „Eventkultur“, aus einer Politik, der man offenbar anhand von Forderungskatalogen („eine andere Eintrittspreisstruktur für klassische Konzerte“!) erklären muss, was sie zu tun habe.
Der Auftraggeber des Angriffs bleibt gleichermaßen im Dunkeln. Irgendwann ist vom „Bildungshunger der Proletarier“ die Rede, dann vom „aufrechten Gang“ der gebildeten Menschen, schließlich vom „selbstbestimmten, selbstbewussten, unabhängigen Künstler“, zu dessen „role model“ Beethoven erklärt wird (wobei dieser nun wahrlich nicht unabhängig von seinen Mäzenen war). Es ist, als ob der finale Triumph einer revolutionären Arbeiterklasse nun nicht mehr in der Fabrik oder auf der Straße, sondern daheim am Klavier oder am Lautsprecher errungen werden sollte. Anders gesagt: Hier schlägt die Stunde der reitenden Toten mit den großen Ohren.
So viel auch in diesem Buch durcheinandergehen mag, so markant ist die Pose, mit der das bildungshungrige Volk zu den Waffen gerufen wird (im Buch wird allen Ernstes die „Marseillaise“ zitiert: „Aux armes, citoyens“). Die Waffen sind allerdings von einer Art, dass Selbstverstümmelung droht. Die Kunst im Allgemeinen und die Musik im Besonderen, behauptet Berthold Seliger, seien „per se fortschrittlich“. Denn sie erweiterten „unsere Welt um neue Ideen und ungekannte Möglichkeiten“. Sie vermittelten „Intensität“, worin immer die Erfahrung „enthalten“ sei, dass „sich alles verändern lässt, nicht zuletzt man selbst“. Und überhaupt: „Es kommt in der Musik nicht auf die Perfektion, sondern auf die Kreativität an.“
Einmal abgesehen davon, dass solche Sprüche die dürftigste Schwundstufe der Frankfurter Schule darstellen – groß ist der Abstand nicht zu den Parolen einer Unterhaltungsmusik, die Berthold Seliger zu seinen Feinden zählt, weil sie ein „Entspannen vom Räderwerk des Kapitalismus“ fördere: „So kann das Leben sein / Wie tausend Sternenfeuer / Ein bisschen Abenteuer / Ein Schuss Risiko / So fühlt sich Leben an“, singt Helene Fischer. „Fortschritt“, „Intensität“, „Erfahrung“, „Kreativität“ – so wirr laufen in diesem Buch die Argumente durcheinander, dass ihr Autor offenbar gar nicht bemerkt, dass die Vokabeln, mit denen er das umstürzlerische Potenzial der „ernsten“ Musik anpreist, allesamt aus dem rhetorischen Repertoire des Feindes stammen. Vielleicht will er die Verkehrung auch gar nicht bemerken, weil sie zu seinem Projekt gehört: einen heruntergekommenen Marxismus in eine Art höherer Unternehmens- und Politikberatung zu verwandeln.
„Fortschritt“ ist, solange man ihn nicht inhaltlich betrachtet, also angeben kann, worin er im Einzelnen besteht, eine ideologische Kategorie. Sie propagiert den Zwang, dass nichts bleiben darf, wie es ist. Fortschritt, auf solche Weise formal gesehen, ist deswegen keine Kategorie der Kritik, wie Berthold Seliger glaubt, ebenso wenig, wie das „Neue“, die „Intensität“ oder die „Kreativität“ stets etwas Gutes ist. War nicht Felix Mendelssohn Bartholdy, kein geringer, aber gewiss kein „innovativer“ Komponist, auch einer der Begründer der historischen Musikpflege und also eines durch und durch konservativen Unterfangens – eines Vorhabens zudem, welches das klassische Repertoire, das bis heute die Konzertsäle beherrscht, überhaupt erst entstehen ließ? Und ist umgekehrt nicht Ludwig van Beethovens programmatische Huldigung an den Fortschritt, nämlich der vierte Satz der Neunten Symphonie („Freude, Freude treibt die Räder / in der großen Weltenuhr“), ein Werk, das mit seinem hämmernden Rhythmus und in seiner Insistenz auf der Tonika für empfindliche Ohren kaum zu ertragen ist? Es fällt schwer zu glauben, dass Beethoven dieses Umschlagen von Jubel in Qual nicht mit Absicht betrieben hätte.
Die musikalische „Klassik“ in einem weiten Sinn, also als „ernste“ Musik begriffen, ist ein abendländisches Phänomen und in ihrer Entstehung an eine relativ kurze Epoche gebunden, die im Mittelalter beginnt und für die einen irgendwann im 20. Jahrhundert endet, für die anderen in der sogenannten Neuen Musik noch fortdauert. Sie fällt, vor allem in ihrer Rezeption, weitgehend mit der bürgerlichen Musikkultur zusammen. Während dieser kurzen Periode wendet sich die Musik allmählich sich selbst zu; sie wird „autonom“, indem sie sich, aus einem radikalen Interesse an ihren eigenen Möglichkeiten heraus, zur Freiheit bildet. Diese „Klassik“ dürfte ein glücklicher, nicht zu wiederholender Augenblick in der Geschichte der Künste gewesen sein. Sie scheint nicht mehr in unsere Zeit zu gehören, aber wir können sie in ihrer Eigenart und Bedeutung erkennen und bewundern.
Gerade deswegen ist nicht das „Neue“ an ihr interessant, sondern allenfalls das zum Alten (oder auch zum „Kanon“) gewordene Neue. Berthold Seliger indessen beruft sich immer wieder darauf, dass gerade die größten Werke der klassischen Musik bei ihren ersten Darbietungen umstritten gewesen seien – ganz so, als hafte ihnen das Neuartige heute noch an. Aber das ist nicht so. Das ehemals Neue ist längst in die Konvention eingegangen und kann den angeblich prinzipiell „fortschrittlichen“ Charakter wahrer Kunst also gerade nicht mehr begründen.
Wer immer etwas für den Erhalt der klassischen Musik im Konzertleben und in der Musikindustrie (darüber hinaus erhält sie sich selbst) tun will, muss hier, an ihrer Geschichtlichkeit ansetzen. Darin liegen ihre Bedeutung und ihre Kraft. Dagegen auf dem unentwegt Neuen und der ewigen „Weiterentwicklung“ zu bestehen, bedeutet: ihre Wahrheit schwächen. Unter dem Diktat des „Fortschritts“ oder der „Entwicklung“, die Seliger überall vermisst, kommt es überhaupt erst zu der Konkurrenz der Innovationen, die einen großen Teil des Musikbetriebs beherrscht.
Sich für oder gegen den Konservativismus Christian Thielemanns entscheiden zu müssen, für oder gegen den russischen Nationalismus Waleri Gergijews, für oder gegen die sexualisierten Inszenierungen Calixto Bieitos– all diese scheinbar elementaren Aufregungen sind Folgen einer permanenten Erregung. Es geht um wenig, und darum wird es existenziell. Hier beginnt die Herrschaft des „events“, deren Ursprung Berthold Seliger im Kommerz vermutet, der er aber selbst Vorschub leistet. Auch der „Klassikkampf“ verdankt seine scheinbare Radikalität der Verbindung von Spektakel und Irrelevanz, die im Musikbetrieb grassiert – und treibt sie auf die Spitze.
Berthold Seliger: Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 496 S., 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
Zugespitzt gesagt: Hier schlägt
die Stunde der reitenden
Toten mit den großen Ohren
Das ehemals Neue ist
längst in die
Konvention eingegangen
Ein letztes radikales Aufbäumen für die Klassik? Die Statue des Cid im Zentrum von Burgos.
Foto: mauritius images/Cro Magnon/Alamy
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2018

Staatliches Tschingderassabum

Kann man mit ernster Musik alle Übel der Welt beheben? Berthold Seliger plädiert dafür, das revolutionäre Potential der Klassik auszuschöpfen. Es riecht nach Klassenkampf.

Berthold Seliger - seines Zeichens Konzertagent im anspruchsvolleren Pop-Segment und Autor über Musik und das Geschäft mit ihr - ruft mit diesem Buch in bester Agitpropmanier dazu auf, die "ernste Musik" aus dem Kerker der Elitenbindung, der marktgängigen Zurichtung und des subventionierten Einerleis zu befreien, in dem sie dem sicheren Tode entgegenschmachtet. Es gelte, sie staatlich zu pflegen, zu fördern und allen Menschen zugänglich zu machen - zugleich mit den Bildungsvoraussetzungen, deren es bedarf, um die entsprechenden Werke verstehen, goutieren und beurteilen zu können. "Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle", so der Untertitel.

Steht in jedem Parteiprogramm? Nicht ganz. Denn "ernste Musik" ist für Seliger nicht einfach identisch mit dem Repertoire der sogenannten Klassik, sondern meint stilunabhängig und Kontinente übergreifend alle Werke, die sich durch "Wahrhaftigkeit, Anspruch und Allgemeinverständlichkeit" auszeichnen. Aber wer verteilt dann die Zensuren? Der Autor jedenfalls glaubt ungebrochen an die objektive Qualität ästhetischer Artefakte.

Aufgrund dieser Qualitäten wohne ihnen ein genuin emanzipatorisches und revolutionäres Potential inne, das es nur freizusetzen gelte, und schon wären so ziemlich alle Übel der Gegenwart behoben. Mit dieser Umdeutung könnte Seliger immerhin auch der Linken die sonst eher verpönte Hochkultur schmackhaft machen. Einmal mehr ist der Kampf für die Klassik also eigentlich ein Klassenkampf. Noch dazu einer, der sich durch staatliche Kultur- und Bildungsausgaben bezahlen lassen will.

Seliger handelt sein Vorhaben in vier heterogenen Kapiteln ab. Da gibt es eine zahlengesättigte Bestandsaufnahme des heutigen Klassikbetriebs, die aber nur die Orchesterlandschaft und Teile des Plattenmarktmarkts in den Blick nimmt. Da gibt es historische Referate zur französischen Revolutionsmusik - für deren massenaufpeitschendes Tschingderassabum sich der Verfechter anspruchsvoller Musik auf geradezu unheimliche Art begeistert -, zur musikalischen Arbeiterbewegung oder zur identitätsstiftenden Rolle der Klassik für das Bürgertum. Da gibt es Konzeptarbeit an E und U, eine rabenschwarze Gesellschaftsdiagnose im Spät-68er-Geist und schließlich gar Beethoven-Exegese.

Auf knapp drei Vierteln der Strecke bringt Seliger auch noch "elf Forderungen" für bildungspolitische Sofortmaßnahmen unter: mehr Musikunterricht, obligatorische Konzert- und Opernbesuche für alle Schüler, andere Preisgestaltung, eine Quote für zeitgenössische Musik. Pflicht, Zwang, Reglementierung von oben. Dieser Mann meint es ernst, und er glaubt an den starken Staat. Schade, dass er auf den naheliegenden Vergleich mit der DDR-Bildungspolitik nicht zu sprechen kommt. Da waren nämlich fast alle seiner Forderungen im Geiste des Klassenkampfes schon einmal umgesetzt. Ob die Folgen in Seligers Sinne waren, hätte man gern gelesen.

Obwohl die Diagnosen und Zahlen seit Jahrzehnten kursieren, ist der Grundimpuls des Buches bedenkenswert. Es lohnt, sich darüber Gedanken zu machen, warum wir Musik hören, was welche Musik mit uns macht, wozu sie uns verhelfen kann. Um dann zu überlegen, inwiefern die Förderung von (welcher) Musik eine gesellschaftliche und öffentliche Aufgabe sein müsste - oder auch nicht. Doch schadet Seliger seinem Anliegen durch zu wenig Sorgfalt und Selbstdisziplin in der Detailarbeit: Im dauerempörten ersten Kapitel beispielsweise folgt Widerspruch auf Widerspruch, weil der Autor sich nicht die Mühe einer genauen Abwägung, Differenzierung und Argumentation macht. So wird etwa behauptet, dass ohnehin alle Orchester dasselbe spielen. Aber Planstellenabbau und Subventionskürzungen findet er auch nicht gut, die enorme Repertoire-Erweiterung auf dem Plattenmarkt und im Internet erwähnt er nicht und führt überdies selbst beständig einen unoriginellen Kern-Kanon im Munde. Auf dem linken Auge ist er blind: Dass das venezolanische Musikerziehungsprogramm für sozial benachteiligte Kinder "El Sistema" neben Licht auch viel Schatten wirft (Geoffrey Baker hat darüber bereits 2014 ausführlich publiziert), blendet er ebenso aus wie den systematischen Zusammenhang zwischen vernachlässigter kultureller Bildung und linker Politik in Deutschland.

Beethoven, der Plebejer! Seligers Bild des Komponisten speist sich vor allem aus Aussagen von Musikern, Musikkritikern und Klassenkämpfern, Adorno ist hier noch die berufenste Quelle. Die jüngere musikwissenschaftliche Forschung zu Beethovens sozialen und politischen Kontexten nimmt er nicht zur Kenntnis. Denn dass Seligers sogenanntes "role model" für den musikalischen Klassenkampf sein "van" lange Zeit für ein "von" hielt, beinahe ausschließlich in der Wiener Aristokratie verkehrte und sein unabhängiges Leben nur dank großzügiger Apanagen einer Gruppe von Adelsfreunden führen konnte, passt leider nicht ins Bild.

Aber der zentrale Einwand scheint folgender: Hängen die hier ausgebreiteten gesellschaftlichen und ökonomischen Fehlentwicklungen wirklich alle unmittelbar mit der Lage der klassischen Musik zusammen? Ist der Musik nicht absurd viel zugemutet, wenn sie als Allheilmittel gegen soziale Ungleichheit, Bildungsmisere und Konsumismus propagiert wird? Wäre da nicht ein systemischer Ansatz der einzig sinnvolle? Aber das Praktische bleibt sowieso weitgehend ausgeblendet: "Wir" - wer immer das ist - werden zwar mit einem "Aux armes, citoyens!" zum Kampf gerufen, aber Ausrüstung und einen Schlachtplan erhalten wir nicht.

Vielleicht reicht es ja, sich der Musik anzuvertrauen. Aber wenn Seliger in seinem abschließenden Beethoven-Kapitel unter der Überschrift "Revolte" vorführen wollte, wie sich in musikalischen Strukturen und kompositorischen Innovationen eine revolutionäre, gesellschaftsverändernde Sprengkraft verwirklichen kann, so scheitert er damit in geradezu dialektischer Art und Weise. Denn er muss selbst zugeben, dass Beethovens Musik wegen all dessen, was sie auszeichnet, von Staatswesen und Ideologien jeglicher Couleur aufs Panier gehoben wurde. Die Werke selbst haben dagegen offenbar keinen Einspruch erhoben.

Die C-Dur-Akkorde am Ende der Fünften, mit deren zum Fremdschämen peinlichen Textierung das Buch schließt, sagen eben nicht unmissverständlich "Aufstand! Revolte! (. . .) Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! (. . .) Gegen Ausbeutung und Rassismus! (. . .) Lasst uns die Welt verändern! Gemeinsam! Solidarisch!". Sie können mit genauso viel oder wenig Recht gehört werden als "Deutschland, Deutschland über alles." Oder auch einfach: "Hört ihr? Es war ein weiter Weg von c-Moll nach C-Dur. Dies ist eine Final-Sinfonie." Ein wenig Ideologiekritik in eigener Sache hätte hier dringend notgetan.

Die wahre Bedeutung "ernster" Musik liegt nicht in klassenkämpferischen Inhalten, die sie transportiert - und in seinen weniger agitierenden Momenten weiß Seliger das auch. Sie liegt in ihr selbst, in der individuellen Resonanz zwischen Musikstück und Hörer, in der Ausbildung von Sensibilität für nicht unmittelbar eingängige Wirkungen. Und ja, sie kann ein wertvoller Teil persönlicher Bildung sein. Natürlich ist es toll, wenn möglichst viele Menschen möglichst früh die Gelegenheit zur Begegnung mit möglichst viel und unterschiedlicher Musik erhalten. Aber das sollte doch lieber nicht von einem unfehlbaren Amt für E-Musik gesteuert sein.

MELANIE WALD-FUHRMANN

Berthold Seliger: "Klassikkampf". Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017.

496 S., br., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Dem bildungspolitischen Trümmerhaufen des Neoliberalismus setzt Seliger ein veritables Programm von Forderungen entgegen.« - Markus Zimmermann, Bund deutscher Orgelbauer Markus Zimmermann BDO Medienrundbrief 20180501