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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Claire Keegan erkundet in "Kleine Dinge wie diese", woher der Mut zum Widerstand kommt
Vier Bücher in zweiundzwanzig Jahren und ein Ruf wie Donnerhall in der angelsächsischen Literaturwelt. Claire Keegan, 1968 im County Wicklow zur Welt gekommen als Tochter einer katholischen Bauernfamilie mit sechs Kindern, macht sich rar, und sie verschwendet keine Worte. Im Alter von siebzehn Jahren zieht sie zum Studium von Literatur und Politik nach New Orleans, dann weiter nach Wales. 1999 ist der erste Band mit Kurzgeschichten fertig, auf "Antarctica" folgt "Walk The Blue Fields" (2008). Den Lebensunterhalt verdient sich Keegan einige Jahre als Lehrerin für kreatives Schreiben in Cambridge, heute lebt sie im Westen Irlands.
Familie ist ein großes Thema bei Claire Keegan. 2010 erschien "Foster" (deutsch "Das dritte Licht", wie auch die Vorgängerbände bei Steidl), fünfundachtzig luftige Druckseiten: die Geschichte eines Mädchens, das von seinem Vater zu einem kinderlosen Ehepaar gebracht wird, weil schon wieder ein Kind unterwegs ist und man so ein hungriges Mäulchen weniger zu stopfen hat. 2021 folgte der lange erwartete Band "Small Things Like These", und wieder kam sogleich die Frage auf, womit man es zu tun habe - einer längeren Erzählung, einer Novelle, einem Roman? Knapp hundertzehn Seiten, und doch ist alles angelegt, was ein großes Buch braucht: Zeitlosigkeit, die Aura von Klassizität, kein Wort zu viel, und doch ausreichend Fett, um, wie Keegan in einem Interview verriet, als gutes Stück Fleisch gelten zu können.
New Ross, eine Kleinstadt im Südosten Irlands anno 1985. Es steht nicht gut um die Insel, hohe Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft auf Talfahrt, die Jugend emigriert einmal mehr. Die Werft hat schon dichtgemacht, die Düngemittelfabrik schlingert, Läden schließen, Häuser bleiben kalt. Inmitten dieser von katholischer Tradition grundierten Misere ein hart arbeitender Kohlen- und Holzhändler namens Bill Furlong. Verheiratet, fünf Töchter, er geht auf die Vierzig zu und ahnt, wie schnell sich sein bescheidener Wohlstand in Luft auflösen könnte. Weihnachten steht vor der Tür, und trotz der Rituale ist die Depression zum Greifen nah. "Es war ein Dezember der Krähen."
Da ist etwas in Furlongs Vergangenheit, das ihn von anderen unterscheidet. Seine Mutter war sechzehn, als sie mit ihm schwanger ging. Ihre Eltern wiesen ihr die Tür, die wohlhabende protestantische Witwe Mrs. Wilson ermöglichte es ihrem Hausmädchen, samt Baby im großen Haus außerhalb der Stadt zu leben. Später kümmerte sich die kinderlose Mrs. Wilson um Bills Ausbildung, half ihm, eine Firma aufzubauen. Wer sein Vater ist, hat er nie herausgefunden.
Als er eine Lieferung Kohle im Schuppen des Klosters über der Stadt ablädt, findet er dort eine verwirrte, verängstigte junge Frau, die Brüste voller Muttermilch. Man habe ihr den Sohn genommen, stößt sie hervor, ob er sie mitnehmen könne, fortbringen von diesem Ort. Die Mutter Oberin spielt die Fürsorgliche, beschwichtigt den verstörten Lieferanten und schickt ihn mit einem fetten Trinkgeld weg. Die Geschichte will ihm aber nicht aus dem Kopf gehen. Es sind Frauen, seine eigene und eine Wirtin, die ihn warnen, sich nicht mit den Ordensschwestern anzulegen, die hätten ihre Finger überall im Spiel.
Die Nonnen, die gefallene Mädchen umerziehen, sie zur Arbeit zwingen, ihnen die Kinder wegnehmen - sie waschen nicht nur Wäsche für die besseren Kreise, sie verkaufen auch Neugeborene ins Ausland, erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand. Die Geschichte der sogenannten Magdalenen-Wäschereien ist ein grausames Kapitel in der Geschichte Irlands, eines, in dem Kirche und Staat Hand in Hand arbeiteten. Zweihundert Jahre existierte dieses Zwangssystem, die letzte Wäscherei schloss erst 1996. Die Forschung schätzt heute die Zahl der missbrauchten jungen Frauen auf dreißigtausend, die der toten Babys auf neuntausend. Offiziell entschuldigt hat sich Irland erst 2013.
Aber Keegan geht es nicht vordergründig um eine Abrechnung mit Kirche und Staat, der Horror der Wäschereien läuft eher im Hintergrund mit. Die Autorin konzentriert sich auf Herz und Hirn ihres Protagonisten. Der fragt sich, wie sinnvoll es ist, "ein ganzes Leben weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen". Anders als die meisten Kinder, die man früher nicht so wichtig nahm wie heute, hat Furlong bei Mrs. Wilson so etwas wie Liebe erlebt. Was ihn zu der Überlegung führt, ob es "einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half". Am Ende wird er eine Entscheidung treffen.
"Kleine Dinge wie diese" ist keine Gutmenschen-Fabel, sondern ein berührendes Lehrstück über Mut, der sich aus Empathie speist. Ein glänzend gearbeitetes Stück Literatur, die Übersetzung von Hans-Christian Oeser trifft Keegans trügerisch einfachen Klang. Vielleicht klappt es diesmal mit dem Booker-Preis für Claire Keegan; auf die Shortlist hat es das Buch geschafft, und am 17. Oktober wissen wir mehr. Es wäre eine vortreffliche Wahl. HANNES HINTERMEIER
Claire Keegan: "Kleine Dinge wie diese". Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen, 2022. 109 S., geb., 18,- Euro.
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