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Provokativ: Kleine politische Schriften Alexis de Tocquevilles
Vielleicht war das Bemerkenswerteste, was sich am 12. September 1848 in Paris zutrug, ein Raunen. Es kam auf im Palais Bourbon, die verfassunggebende Versammlung diskutierte die Frage, ob es ein "Recht auf Arbeit" geben solle, und Alexis de Tocqueville sprach über Demokratie, Sozialstaat und Sozialismus. Er zitierte ein großes Plädoyer für individuelle Freiheit: "Meiden Sie die alte Manie, alles regeln zu wollen, geben Sie der Freiheit der einzelnen das zurück, was ihr unrechtmäßig weggenommen wurde." Als er verriet, daß dieses Plädoyer ausgerechnet aus einer Rede Robespierres stammte, kam Unruhe auf. Und als Tocqueville hinzufügte, daß die Demokratie nur in einem "einzigen Land der Welt" wirklich "lebendig, aktiv und triumphierend" auftrete, nämlich "in Amerika", da eben gab es ein "Raunen" im Saal.
Tocqueville nahm seine Zeitgenossen in eine geistige Zange, deren Backen aus den Jakobinern einerseits, den Amerikanern andererseits bestanden: Das war im besten Sinne unverschämt. Seinen raunenden Zuhörern erging es wie Lebemännern, denen plötzlich die Barhocker unterm Gesäß wegrutschen. "Fünfzig Jahre" sei der "Einfluß" der Revolution, mit der Frankreich "ruckartig" die alten Bande zerrissen habe, in "fast allen Nationen Europas" vorherrschend gewesen. Dieses Privileg sah Tocqueville verspielt, das "Europa, das uns anschaut", lasse den Blick inzwischen weiterschweifen. Daß schon Tocqueville seinen Landsleuten den Verlust der Mitte quittierte, hindert sie nicht daran, ihn noch heute zu beklagen. Die Repräsentanten der Grande Nation wurden von ihm gewogen und zu leicht befunden - in einer Stunde, in der "wir uns", wie er wußte, "auf einen Vulkan betten". Hinter dem Raunen seiner Zuhörer, denen Tocqueville die Krise der Demokratie vorhielt, verbarg sich eine Verunsicherung, von der er selbst auch nicht frei war.
Da wir den "Vulkan" bis heute nicht verlassen haben, hat Tocqueville, der "einen festen und gelassenen Blick auf die Zukunft moderner Gesellschaften richten" wollte, auch uns im Auge. Man kennt ihn, der sich als "Liberalen einer neuen Art" charakterisierte, von seinen Büchern "Der alte Staat und die Revolution" und "Über die Demokratie in Amerika"; dieses Bild wird nun ergänzt durch eine Ausgabe der "Kleinen politischen Schriften", eine Fundgrube mit diversen Erstübersetzungen, die neben der erwähnten Rede auch Beiträge zur Kolonisierung Algeriens, zur Demokratie in der Schweiz und zur Massenarmut enthält.
Was aber hat Tocqueville geritten, als er Robespierre und Amerika gegen seine Zeitgenossen ins Feld führte? Der Sympathie mit der "blutigen Diktatur" der Jakobiner ist er unverdächtig, und doch gewinnt er deren Rhetorik eine Haltung ab, die er auch in Amerika findet und feiert. Hier wie dort entdeckt er eine Verteidigung des "Politischen" schlechthin, ein Beharren darauf, daß die moderne Gesellschaft nicht nur ein Handelsplatz oder eine Erlebnismaschine ist, sondern ein Projekt bürgerlicher Selbstbestimmung. Ebendieses Projekt sieht er zum Erliegen kommen, als er sich 1848 in Frankreich umschaut. "Sehen Sie nicht", fragt er, daß die Interessen der Arbeiter "statt politisch sozial geworden sind?" Und ist es nicht ein "großer Frevel" der Regierenden, die Willensbildung dem Lobbyismus zu überlassen und "bei den Menschen einzig die Saite des Privatinteresses anzuschlagen"? Den Mächtigen wie den Ohnmächtigen lastet Tocqueville dasselbe Vergehen an: das Vergessen des Politischen.
Um der Demokratie willen wendet Tocqueville sich gegen die Einschränkung des Wahlrechts und gegen die von Napoleon III. angestrebte Konzentration der Macht. Aktueller und brisanter sind seine Überlegungen zur sozialen Frage. Sie ergeben sich aus seinem Interesse für die kulturellen Lebensformen und historischen Umstände, die den "Geist der Regierung" prägen. Diese Umstände sind im Umbruch. Tocqueville, der Freund der Politik, wird zum Zeugen der industriellen Revolution, die ihn nachhaltig irritiert. Davon zeugt die "Denkschrift über den Pauperismus" von 1835, der bekannteste Text in diesem Band, der von den amerikanischen Konservativen als Munition bei ihrem Kampf gegen den Sozialstaat verwendet worden ist. Die dickste Ladung, die sich darin findet, lautet: "Jede Maßnahme, welche die gesetzliche Wohltätigkeit auf eine beständige Grundlage gründet und ihr eine administrative Form gibt, erzeugt eine untätige und faule Schicht, die auf Kosten der gewerbetreibenden und arbeitenden Schichten lebt."
Tocquevilles Kritik ist scharf, aber auch ein wenig ratlos. Er beschreibt den Mißbrauch von Hilfsangeboten und die Hochzüchtung von Bedürfnissen im Zuge wachsenden Wohlstands, aber auch die gesteigerten Risiken in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft, in der die wirtschaftliche Basis eines "englischen Herstellers" gefährdet ist, wenn "ein Inder" seine Konsumgewohnheiten ändert. Da die Menschen in der Moderne gar nicht mehr in der Lage sind, das Überleben im Notfall auf eigene Faust zu sichern, wird die Nothilfe zur gemeinschaftlichen Aufgabe. Tocqueville bevorzugt die private Wohltätigkeit gegenüber der öffentlichen und erkennt doch, daß sie "unzureichend und kraftlos" ist. So bleibt ihm nur die vage Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität, die alle in Lohn und Brot bringt.
Tocqueville mildert die scharfen Töne aus seiner früheren "Denkschrift", als er 1848 nochmals auf die soziale Frage zurückkommt. Er meint nun die "staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen" doch auf die politischen Ideale der "Französischen Revolution" zurückführen zu können. Immerhin ist das Elend auch deshalb zu bekämpfen, weil es die Bürger daran hindert, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen. So hält Tocqueville den "Wunsch, die Wohlfahrt in die Politik einzuführen" doch für "verehrungswürdig". "Ist das etwa Sozialismus?" fragt er, und als ihm manche Zuhörer entgegenhalten: "Ja! Ja! Nichts anderes!" antwortet er: "Nein! Nein! Nein, das ist nicht Sozialismus." Daß Tocqueville damit der Begründung des Sozialstaats aus dem Geist der Freiheit auf der Spur war, ist ihm im Sperrfeuer der Worthülsen damals allerdings entgangen.
In seinem Aufsatz über die Schweiz, der von scharfer Kritik geprägt ist, bemerkt Tocqueville: "Ist die Bühne auch klein, hat das Schauspiel doch Größe." Entsprechendes kann man über das Schauspiel sagen, das von diesen kleinen Schriften inszeniert wird. Erleichtert wird der Zugang zu ihnen auch durch die souveräne Einleitung Harald Bluhms; seine Querverweise zu Tocquevilles Buch "Über die Demokratie in Amerika", das derzeit leider nur in einer schrecklich gekürzten Reclam-Ausgabe lieferbar ist, sind treffsicher. Zu begrüßen ist, daß in den Fußnoten auf die Angabe biographischer Details zu Hinz, Kunz und Napoleon verzichtet worden ist. Die Frage der Kommentierung ist immer zweischneidig: Weniger ist meistens mehr, doch hier vermißt man hin und wieder ein klärendes Wort, zumal Tocquevilles Schriften tief in zeitgenössische Debatten verstrickt sind.
Hier ein Beispiel: Tocqueville erwähnt einen Sozialisten, der gefordert habe, "die körperlichen Bedürfnisse des Menschen wieder anzuerkennen", und einen anderen, demzufolge "das Ziel des Sozialismus und auch der Februarrevolution" darin bestehe, "uneingeschränkten Konsum zu ermöglichen". Der Leser würde es doch verdienen zu erfahren, daß es die Saint-Simonisten sind, die von den "körperlichen Bedürfnissen" oder - wie es im Original viel eindrucksvoller heißt - von der "Rehabilitierung des Fleisches" sprechen, und daß es sich beim Fürsprecher "uneingeschränkten Konsums" um Proudhon handelt. (Dieser spricht nicht, wie Tocqueville zitiert, von einer "consommation illimitée", sondern, extremer noch, von einer "onsommation insatiable".)
Höchst provokativ ist die Verschiebung der Fronten, die sich aus dieser Konsumkritik Tocquevilles ergibt. Denn wenn er den französischen Sozialisten vorwirft, daß sie die Freiheit in einem System zur Befriedigung "materieller Leidenschaften" zugrunde gehen lassen, so stößt er auf einen neuen "Despotismus" auch an ganz anderer Stelle, nämlich in dem von ihm geliebten Amerika. Selten ist eine Sorge mitreißender geschildert worden. Er erblicke dort, so schreibt er, "eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber. Was die Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er fühlt sie nicht, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, daß er kein Vaterland mehr hat. Über diesen Menschen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, deren Genüsse zu sichern."
So stößt man plötzlich auf eine unheimliche Verwandtschaft zwischen Konsumgesellschaft und Sozialismus - eine Einsicht, die die aktuelle Debatte um den sozialen Zusammenhalt moderner Gesellschaften befruchten kann. Auch sie ist ein Beitrag zu der "neuen politischen Wissenschaft", die Tocqueville für die "neue Welt", die er entstehen sah, gefordert hat.
DIETER THOMÄ
Alexis de Tocqueville: "Kleine politische Schriften". Herausgegeben von Harald Bluhm unter Mitarbeit von Skadi Krause. Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2006. 223 S., geb., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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