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Träumen, Schreiben: Mit "Kleiner kaukasischer Divan" liegen Adolf Endlers Georgien-Texte in einer Neuausgabe vor. Der ostdeutsche Lyriker erweist sich darin als Reiseschriftsteller von Gnaden.
Als die ostdeutschen Lyriker Adolf Endler und Rainer Kirsch 1969 in die Sowjetrepublik Georgien reisten, hatten sie einen Auftrag zu erfüllen. Gemeinsam übertrugen sie Gedichte georgischer Lyriker nach Interlinearübersetzungen und brachten sie 1971 unter dem Titel "Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten" heraus - das Buch gehört heute auf dem Antiquariatsmarkt zu den gefragteren Lyriksammlungen jener Zeit.
Ein anderes Ergebnis dieser zweieinhalbmonatigen Reise erschien fünf Jahre später: Endlers Buch "Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen". Der in den Titel gehobene Zwiespalt und das Tastende des Versuchs sind kein Zufall: Der kritische, wache Endler begibt sich in seinem weit ausgreifenden Text besonders im ersten Teil oftmals in eine Art Zwischenreich, angesiedelt in der Mitte zwischen Realität und Traum, ausgreifend mal in die eine, mal in die andere Richtung, wenn sich ihm etwa in Kutaisi, der alten kolchischen Königsstadt, in der - der Argonautensage zufolge - Jason auf die Königstochter Medea traf und mit ihrer Hilfe das Goldene Vlies eroberte, die mythische Überlieferung über das Gesehene und Gehörte schiebt.
Bedrängt und beglückt von der Erinnerung an Texte von Euripides ebenso wie vom 1937 ermordeten Tizian Tabidse, verschmilzt hier für den deutschen Reisenden die Literatur mit der Landschaft und ihren Siedlungen und Städten, den Klöstern und uralten Straßen: "Sehnsucht beim Einschlafen, das riesige flache Land zu bewandern. Drei Tage würdest du wandern und vier und fünf, es würde wärmer werden, brütende Schwüle, heiß" - und sofort gleiten die Gedanken zu den Aufzeichnungen des russischen Dichters Konstantin Paustowski, "der zu Beginn der dreißiger Jahre die Umgestaltung dieser Gebiete erlebte" und das Klima mit dem der "Sträflingsinsel" Neukaledonien verglich.
Ein Drittes kommt hier hinzu: Die Reise führt nicht nur nach Kutaisi oder in die Hauptstadt Tiflis, ans Meer oder in die Berge, sie führt auch in die Vergangenheit - die des Autors wie diejenige, die Deutschland und Georgien miteinander teilen. Oft genug ist das eine militärische; Endler erinnert an deutsche Soldaten, die zum Kaukasus vorrückten, an georgische, die in der Sowjetarmee dienten und im Kampf gegen die Wehrmacht starben, aber auch an jene Soldaten, die als Georgier an der Seite der Deutschen kämpften und etwa in den Bataillonen "Königin Tamara" oder "Schota Rustaweli" dienten, benannt nach der Herrscherin der goldenen Epoche Georgiens und nach dem Dichter des Nationalepos.
Doch Endler erinnert auch an die vielen Deutschen, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert nach Georgien reisten und sich mit der Sprache und Kultur des Landes auseinandersetzten - "Eben dachte man noch, daß man zu den allerersten gehört, die über Georgien schreiben, nun fragt man sich: Wer hat eigentlich nicht über dieses Land geschrieben?", notiert er nach einer offenbar ernüchternden Erfahrung in einer Bibliothek in Tiflis. Diese Beschäftigung mit den Vorgängern, die Endler abbildet, ist keine dröge Pflichtübung, wie überhaupt nichts an diesem klugen, sprunghaften Buch dröge ist, kein Verweis auf die Schultern, seien es die von Riesen oder die von mäßig talentierten Forschern, auf denen Endler nun steht. Stattdessen pflegt der Autor das Stil- und Erkenntnismittel der Assoziation, eine Beobachtung geht in die andere über oder wird zur Reminiszenz, bis das Bewusstsein des Erzählers schlagartig in die erlebte Gegenwart zurückkehrt. Nur das Grunderlebnis irritierender Fremdheit wird regelmäßig auch Endlers Vorgängern attestiert, und wo sie es nicht teilen, da liegt die Gefahr der Naivität nahe, die allzu leicht vor den Unterschieden der Kulturen die Augen zukneift, um den Transfer etwa im Bereich der Übersetzungen zu erleichtern und so Entscheidendes einbüßen.
Endler, dessen Werk seit mehr als zehn Jahren bei Wallstein verlegt wird, ist 2009 gestorben. Nun erscheinen seine Georgien-Texte gesammelt und überarbeitet in dem Band "Kleiner kaukasischer Divan", an dessen Manuskriptfassung der Autor nach Auskunft der Herausgeberin Brigitte Schreier-Endler noch mitgewirkt und diese autorisiert hat. Eigentlich hat man es also mit drei Büchern zu tun: mit dem - wiederum zweigeteilten - Reisebericht, den Nachdichtungen und noch einem Essay zur georgischen Literatur. Hinzu kommt ein bislang ungedruckter Essay zum Fall des umstrittenen Autors Grigol Robakidse. Der einstige Mentor der heute legendären Autorengruppe "Die blauen Hörner" (F.A.Z. vom 28. April) war einige Zeit nach dem Untergang des unabhängigen Staates Georgien Richtung Deutschland geflohen, wo er dann im Nationalsozialismus Elogen auf Hitler und Mussolini verfasste. Offenbar wurde Endler von Georgiern aufgefordert, dem diskreditierten Autor Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, und tatsächlich scheint sich der deutsche Reisende gründlich mit Robakidse auseinandergesetzt zu haben, ohne von seiner kritischen Haltung abzurücken.
Nicht einmal fünfzig Seiten nehmen allerdings die Nachdichtungen von Autoren wie Dawit Guramischwili, Iosseb Grischaschwili oder Paolo Iaschwili ein, um derentwillen Endler und Kirsch doch ins Land gekommen waren und die in dem mehr als dreihundert Seiten umfassenden Band "Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten" enthalten sind - das frühere Buch wird also mit dieser Auswahlausgabe keineswegs obsolet.
In der "Editorischen Notiz" zu diesem Band heißt es, "einige wenige sachliche Irrtümer" Endlers seien korrigiert worden (wobei die Herausgeber nicht jeden Irrtum ausgemerzt haben). Tatsächlich sind inzwischen, vor allem dank des kommenden Auftritts Georgiens als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018, so viele Klassiker und zeitgenössische Autoren Georgiens neu ins Deutsche übetragen worden, wie es sich Endler wohl nicht hätte träumen lassen. Darunter sind viele der Schriftsteller, auf die er sich beruft, aber auch der von ihm so kritisch betrachtete Robakidse - dank der Ausgabe von "Magische Quellen" im Wuppertaler Arco-Verlag können sich deutsche Leser nun einen Eindruck von wenigstens einem Teil der Prosa Robakidses machen.
In diesem Sinn stellt Endlers Buch eine interessante Zwischenbilanz dar, weil es eine Rezeption dokumentiert, deren Grundlage heute eine andere geworden ist. Vor allem aber erweist sich Endler als Reiseschriftsteller von Gnaden, der sich mit der von ihm so mühelos belebten Landschaft unter die Besten einreiht, die je Georgien besucht und darüber geschrieben haben.
TILMAN SPRECKELSEN
Adolf Endler: "Kleiner kaukasischer Divan". Von Georgien erzählen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 276 S., geb., 22,- [Euro].
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