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Im Kölner "Tatort" spielt Joe Bausch den Pathologen. Im wirklichen Leben behandelt er als Gefängnisarzt in der JVA Werl Mörder, Diebe, Kinderschänder. Über seinen Alltag dort hat er jetzt ein Buch geschrieben
Joe Bausch steht im Hof der Haftanstalt Werl und wechselt noch kurz ein paar Worte mit der Psychologin. Er sieht genauso aus, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt, groß, kahl, schnauzbärtig, nur der grüne Kittel fehlt. Bausch trägt Jeans, Jackett, dazu sehr spitze schwarze Schuhe. Im Kölner "Tatort" schneidet er als Rechtsmediziner Dr. Roth Leichen von Mordopfern auf, sucht Körper ab nach Spuren für die Ermittlungen des Kölner Kommissaren-Duos Schenk und Ballauf. Auch im wirklichen Leben hat Bausch mit Verbrechen zu tun. Mit Tätern, nicht mit Opfern, jeden Tag. Sie sind seine Patienten: Joe Bausch ist Schauspieler, und er ist Gefängnisarzt in der JVA Werl, seit 25 Jahren behandelt er Mörder, Kinderschänder, Totschläger, Vergewaltiger, Betrüger, Drogendealer, Räuber. Er drückt der Psychologin die Hand zum Abschied. An diesem Ort hat die Geste etwas Tröstliches.
Misstrauen ist im Gefängnis Überlebensstrategie, kein Insasse ist aus Nettigkeit dort, nur wer Distanz hält, geht nicht unter. Aus jeder harmlos scheinenden Situation kann sekundenschnell ein Sturm erwachsen. Bausch musste das erst lernen. Er musste lernen, auf der Hut zu sein, ohne dabei seine Fähigkeit zur Empathie zu verlieren, denn auch ein Gefängnisarzt hat zuzuhören und bestmöglich Hilfe zu leisten, ganz egal, welche Abscheulichkeiten seine Patienten begangen haben. Es ist ein Drahtseilakt. Fragt man Bausch, warum er nun ein Buch geschrieben hat, in dem das alles steht, dann stöhnt er sehr laut auf, macht pfffffff!, sagt mit einer Stimme, die so knarzig wie im Fernsehen klingt: "Herrje, das Buch, war schrecklich am Ende, das Schreiben." Und antwortet dann doch. Wenn er Freunden von seinem Alltag erzählte, sagten sie oft: Schreib das mal auf! Jetzt hat er es getan, und es ist ein großes Glück, das Ergebnis zu lesen.
"Knast" ist ein nüchtern erzähltes Buch mit feinsinnigen Beobachtungen, deren analytische Schärfe es durchaus mit soziologisch motivierten Gefängnisuntersuchungen aufnehmen kann. Es öffnet ein Fenster zu einer Welt mitten unter uns, von deren Existenz wir wissen, von deren Wirklichkeit wir aber keine Ahnung haben. Es gibt Dokumentationen und Fernsehserien über Gefängnisse. Erzählen, wie Menschen leben, die über Jahre eingesperrt sind, können sie jedoch nicht. Die Phantasie reicht nicht aus, um es sich vorzustellen. Wie gelingt es Lebenslänglichen, die kein Ende ihrer Unfreiheit absehen, nicht von der Hoffnungslosigkeit zerfressen zu werden? Wie funktioniert eine Haftanstalt? Es braucht jemanden, der jeden Tag in dieser Welt ein und aus geht, um es zu erklären.
Als Arzt ist Bausch dafür ideal. Möchte man ein Dorf verstehen, fragt man am besten den Landarzt - früher oder später kommt jeder in seine Praxis, er macht Hausbesuche, und da er zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, erzählen ihm die Dorfbewohner auch kleinere und größere Sorgen. Ähnlich verhält es sich im Knast. Bausch praktiziert, wo die Gefangenen leben, gewissermaßen Tür an Tür. Er kennt ihren Alltag, die Zellen, weiß, wo sie zu welcher Uhrzeit anzutreffen sind, was sie essen, wer noch eine Familie hat und warum sie im Gefängnis sind. Und die Häftlinge wissen: Bausch erzählt nichts weiter (im Buch sind die Schicksale verfremdet, die Personen dahinter nicht erkennbar). Die Geschichten seiner Patienten sind Geschichten des Scheiterns. Warum sie zu Verbrechern wurden, ist oft unglücklich, oft ist es erschreckend banal.
Bausch zieht ein Schlüsselbund aus der Jackentasche. Neben dem Arztkoffer ist es sein wichtigstes Utensil. Acht hochgesicherte Türen muss er aufund hinter sich wieder zuschließen, bis er sein Behandlungszimmer erreicht. Er hat die Schlüssel, die jeder Gefangene haben will. "Doc" nennen ihn die Kommissare Ballauf und Schenk im "Tatort" liebevoll, und so rufen ihn auch seine Patienten. Denn wenn Bausch sich sonntags über Leichen beugt, gehen nicht nur in deutschen Wohnzimmern die Fernseher an. Auch in den Zellen wird der Krimi geguckt.
"Hallo Doc" und "Guten Tag, Herr Bausch", tönt es auch jetzt, als wir eine Gruppe Häftlinge passieren, die von einem Justizvollzugsbeamten begleitet den Hof überqueren - im Gefängnis geht kein Insasse einen Weg alleine. Bausch nickt zurück. Nicht sehr freundlich, aber ein wenig freundlich, etwa so, wie man es von Lehrern kennt, die Pausenaufsicht haben und damit rechnen müssen, dass man sie im nächsten Augenblick hinterrücks mit Kreide bombardiert. In Werl geht es um mehr. Etwa 900 Häftlinge zählt die Anstalt. Wer hier eingebuchtet wird, hat Verbrechen im großen Stil begangen und kommt nicht unter mehreren Jahren davon. Die Sehnsucht nach Freiheit bleibt. Bei einem Fluchtversuch 1991 nahmen Häftlinge im Krankentrakt vier Beamte, einen Zahnarzt und dessen Helferin als Geiseln. Als die Situation eskalierte, übergossen sie zwei der Geiseln mit Waschbenzin und zündeten sie an. Hat Bausch Angst, wenn er seine Patienten empfängt? Er schüttelt den Kopf: "Ich pflege ein gesundes Misstrauen."
Sechzig bis achtzig Häftlinge kommen in seine Sprechstunden, die er mehrmals wöchentlich abhält. Sie kommen mit Schnupfen, Rückenleiden, mit allen Beschwerden und Wehwehchen, die es auch draußen gibt. Und viele kommen, obwohl ihnen nichts fehlt. Für die meisten Häftlinge sind die Minuten beim Arzt die einzige körperliche und seelische Zuwendung, die sie bekommen können: "Etwa acht von hundert Häftlingen leiden unter einer Psychose, ein Fünftel klagt über Angststörungen und Panikattacken. Bei gut der Hälfte lassen sich Persönlichkeitsstörungen diagnostizieren." Die Medizinalisierung gefängnisspezifischer Probleme, die eigentlich soziale sind, beschert zusätzlich Patienten. Will ein Häftling lieber in eine Einzelzelle, einen größeren Fernseher oder eigenes Bettzeug haben, und führt er dabei gesundheitliche Argumente an, muss Bausch darüber entscheiden. Soll einem Häftling aus disziplinarischen Gründen die Arbeit entzogen werden, kann er sagen, er sei gesundheitlich nicht in der Lage gewesen, sie richtig auszuführen. Bausch hat zu prüfen, ob das stimmt. Wird ein Gefangener in den Bunker verlegt, weil er jemanden angegriffen hat, untersucht Bausch ihn auf Verletzungen und muss beurteilen, ob er psychisch in der Lage ist, die Isolation zu überstehen. Bei anderen sieht er Spuren von Misshandlungen und muss gegensteuern, wenn jemand am Mobbing der Zellengenossen zu zerbrechen droht.
Bausch beschreibt die Hackordnung unter den Gefangenen und ihre Gewalt. Er schildert, wie Geschäfte gemacht werden, mit Drogen gedealt wird, wie im Knast Prostitution funktioniert. Er legt dar, wie wichtig für die Häftlinge die Besuche ihrer Partnerinnen sind und wie ungeheuerlich schwierig es für diese ist. Und er macht deutlich, wie existentiell die Erfahrung für jeden Neuankömmling ist, wenn das Gefängnistor hinter ihm zufällt. Innerhalb von Stunden ist er nur noch eine Nummer, in Häftlingskluft und ohne persönliche Gegenstände seiner Individualität beraubt. Manche entwickeln eine Depression, die mit Selbstmord endet, den Bausch nicht immer verhindern kann. Jeder einzelne mache ihm zu schaffen, sagt er.
Bausch bleibt konzentriert auf seine Umgebung, während er mit seiner Besucherin spricht. Vor allem dann, wenn er eine Tür aufschließt. Er zeigt nach rechts und links, da der Trakt für die Sicherheitsverwahrten, die das Gericht für so gefährlich hält, dass sie nach Verbüßung ihrer Strafe nicht entlassen werden, dort die Abteilung für Sexualstraftäter, da der Platz, auf dem die Isolationshäftlinge alleine ihre Runden drehen. Wieder geht es durch eine Tür, dann in einen Gang, rechts und links gehen Zellen ab. Und da ist er, jener beißende Geruch nach Männerschweiß, angebranntem Essen, kaltem Zigarettenqualm, von dem Bausch schreibt, das sei der "typische Knastgeruch", er lege sich "wie ein schmieriger Film auf Haut und Haare".
Manche Gefangene entwickelten einen Sauberkeitsfimmel, scheuerten ihre Zelle blitzblank, hätten Panik vor ansteckenden Krankheiten. Andere vernachlässigten sich völlig. In den Gemeinschaftszellen, die man am Wochenende bis zu 23 Stunden nicht verlassen kann, komme es deshalb oft zu Streit. Die Zellen sind Wohn-, Schlaf-, Esszimmer und Toilette in einem. Stellt man sich in die Mitte und streckt die Arme aus, berühren die Hände die Wände. Um aus dem winzigen Fenster zu gucken, braucht man einen Stuhl. Der Ausblick ist grausam. Die Häuser reichen bis an die Gefängnismauer. Die Freiheit ist zum Greifen nah. Joe Bausch, das macht das Buch deutlich, hat seine Freiheit im Knast gefunden. Er wollte ein Arzt sein, der mit seinen Patienten über ihre Krankheiten und über ihr Leben redet. Und er wollte etwas bewegen. Als er nach Werl kam, wurden die Häftlinge noch so behandelt, als sei Krankheit Teil einer wohlverdienten Strafe. Inzwischen gilt die Gesundheit des Häftlings als ihr höchster Rechtsanspruch. Die Körper der Gefangenen erzählen, wie es ihnen geht. Und obwohl sie im Gefängnis der ständigen Überwachung und Disziplinierung unterworfen sind, sind sie für die Gefangenen das beste Mittel, um eigene Interessen durchzusetzen.
Jedem, der sich für die Gesellschaft und ihre unsichtbaren Nischen interessiert oder mit Foucaults "Überwachen und Strafen" im Kopf herumläuft, kann man die Lektüre von "Knast" nur empfehlen. Als Schauspieler hätte Bausch der großen Öffentlichkeit den Vorrang in seinem Leben geben können. Es macht ihn sympathisch, dass er anders entschied. Als Arzt hinter Gittern teilt er in einem gewissen Sinn lieber das Schicksal all jener, die selbstverschuldet hinter Gittern sind: "Im Knast ist alles echt. Hier stehst du nicht mehr auf den Brettern, die die Welt bedeuten, hier stehst du knöcheltief in der Scheiße, bist konfrontiert mit einer Realität, die dir alles abverlangt", sagt Bausch. Seinen Bekanntheitsgrad als "Tatort"-Pathologe nutzt er für sein Engagement für verhaltensauffällige Kinder. Sie sollen aufgefangen werden, bevor ihr Leben unwiderruflich in die falsche Richtung geht. Nicht der Knast ist für ihn das beste Mittel zum Schutz der Allgemeinheit vor Verbrechen, sondern das Bemühen, dass es weniger Verbrecher gibt.
KAREN KRÜGER.
Joe Bausch: "Knast". Ullstein-Buchverlag, 280 Seiten, 19,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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