Ikea, Quelle, Aldi – viele westliche Firmen ließen in der DDR produzieren. 250 ostdeutsche Betriebe beschäftigten neben »freien« Arbeitern aber auch Häftlinge, darunter politische Gefangene. Diese verdienten daran kaum – den Profit machten die Westkonzerne sowie SED-Firmen als Zwischenhändler.Möbel, Strumpfhosen, Schreibmaschinen, Fotokameras, Werkzeugkästen und Motorradteile stammten ganz oder teilweise aus Haftanstalten wie Halle oder Hoheneck, Bautzen oder Brandenburg. Das Versandhaus Neckermann etwa bezog Fernseher, der Stahlkonzern Mannesmann Eisenwaren und die Drogeriekette Schlecker Haushaltskerzen, die von Gefangenen gefertigt worden waren. Zumindest der Konzernleitung von Quelle war bekannt, dass Häftlingsarbeiterinnen die von ihr vertriebene Bettwäsche genäht hatten.Die preisgünstige Ware wurde ebenso nach Westeuropa wie in den Nahen Osten verkauft. Industrie und Handel sahen angesichts niedriger Produktionskosten in der DDR über die Arbeitsbedingungen hinweg. Die Bundesregierung wollte in den achtziger Jahren zwar die DDR-Importe von Möbeln und Strumpfhosen drosseln, doch nur zum Schutz der heimischen Wirtschaft. Dabei war längst bekannt, dass Gefangene diese Waren fertigen mussten.Charakteristisch für die Arbeit von politischen Häftlingen in DDR-Gefängnissen war, dass sie zusammen mit Kriminellen arbeiten mussten. Sie hatten mehr als »freie« Beschäftige zu leisten, verdienten aber wesentlich weniger als diese. Vielfach brachten veraltete Maschinen sie dabei in Lebensgefahr oder ruinierten ihre Gesundheit.Tobias Wunschik belegt mit neuen Aktenfunden, wie die Gefangenen ausgebeutet wurden und welche Firmen davon profitierten. Er beschreibt das Geschäft mit der Ware aus den DDR-Haftanstalten als Teil des innerdeutschen Handels.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit diesem Buch wird eine Lücke geschlossen, freut sich Karl Wilhelm Fricke. Dass der Zwangsarbeit in der DDR so lange keine derart umfassende wissenschaftliche Arbeit gewidmet wurde, kann Fricke sich nicht erklären. Umso wichtiger, findet er, wenn der Historiker Tobias Wunschik nun unter einem eher reißerischen Titel eine daten- und faktensatte Untersuchung vorlegt und den Begriff Zwangsarbeit kritisch beleuchtet. Über die Struktur des DDR-Strafvollzugs und den Arbeitsalltag von Häftlingen im SED-Staat erfährt Fricke hier eine Menge und auch darüber, was mit den Erzeugnissen, vom Möbel bis zu Blutplasma, und den Devisen geschah. Dass Häftlingsarbeit in der DDR eine wichtige ökonomische Plangröße war, daran lässt der Band laut Fricke keinen Zweifel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2014Profitquelle des SED-Staates
Häftlingsarbeit und Export
Im Strafvollzug des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates wurden Häftlinge - politische wie kriminelle, Männer wie Frauen und Jugendliche - zur Arbeit gezwungen und unter zumeist menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet. Ohne Skrupel. Das ist Fakt. Indes musste nach dem Sturz Honeckers ein Vierteljahrhundert vergehen, ehe darüber eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung veröffentlicht wurde. Tobias Wunschik, Historiker in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde, hat sie vorgelegt. Ungeachtet des reißerischen Titels stellt "Knastware für den Klassenfeind" eine ungewöhnlich daten- und faktengesättigte Untersuchung dar.
Im Einleitungskapitel setzt sich der Autor unter anderem kritisch mit dem Begriff Zwangsarbeit auseinander, den er wegen seiner historischen Belastung aus der Zeit des NS-Regimes ("Vernichtung durch Arbeit") für die Häftlingsarbeit in der DDR nicht gelten lassen will. Stattdessen spricht er im Kontext des DDR-Strafvollzugs von "erzwungener Arbeit" - eine Terminologie, die sich selbst in der Fachpublizistik kaum durchsetzen wird. In den Kapiteln untersucht Wunschik den Arbeitseinsatz von Häftlingen in Gefängnissen und Haftarbeitslagern sowie ihre Arbeitsbedingungen. Dabei informiert er ausführlich über den devisenträchtigen Westexport von Produkten, die in Häftlingsarbeit hergestellt wurden. Im Schlusskapitel zieht er ein nüchternes und ernüchterndes Fazit der Häftlingsarbeit: Normenschinderei hinter Gittern.
Der Autor bietet auch Einblicke in Struktur, Verwaltung und Organisation des DDR-Strafvollzugs und dessen Integration in die sozialistische Planökonomie mit bis zu 39 000 Häftlingen im Arbeitseinsatz. Das Regime hatte der Häftlingsarbeit dreierlei Funktionen zugewiesen: eine repressive, eine wirtschaftliche und die sogenannte "Erziehung durch Arbeit". Der Hauptzweck lag in der Ära Honecker im ökonomischen Nutzen. Die Staatliche Plankommission, die Industrieministerien und die oberste Gefängnisverwaltung im DDR-Innenministerium legten in "politisch-operativem Zusammenwirken" fest, wie viel Gefangene in welchen Betrieben eingesetzt werden sollten. Neben dem Dienstzweig Strafvollzug der Volkspolizei war für die "Absicherung" und Überwachung der Arbeitskommandos in den Gefängnissen und Haftarbeitslagern die Staatssicherheit zuständig. "Besonders viele Gefangene mussten in der elektrotechnischen Industrie, im Bergbau sowie in der Fahrzeugindustrie arbeiten", hebt der Autor hervor. Weitere Arbeitseinsatzbereiche waren die Textilindustrie, die Möbelfertigung, die Feinmechanik Optik, die Metallurgie und die Zementproduktion.
Die Häftlingsarbeit bildete eine festumrissene ökonomische Plangröße. In Schwierigkeiten geriet die DDR-Wirtschaft bei Amnestien, die unter Honecker 1972, 1979 und 1987 durchgeführt wurden. Durch sie wurde das Arbeitskräftepotential hinter Gittern spürbar geschwächt. Um das Plansoll trotzdem zu erfüllen, mussten Produktionsausfälle durch Überstunden und Sonderschichten durch in der Haft verbliebene Gefangene ausgeglichen werden - vor allem bei Lieferverpflichtungen im Westexportgeschäft. Denn ein Großteil der in Häftlingsarbeit gefertigten Produkte ging in den 1970er und 1980er Jahren an Industrie- und Handelskonzerne in der Bundesrepublik und im westeuropäischen Ausland. Was Devisen brachte, wurde verkauft: Möbel und Sofas, Strumpfhosen und Bettwäsche, Werkzeugkästen, Küchenherde, Kühlschränke, Fernseher, Zement - alles Produkte, zu deren Herstellung Häftlingsarbeiter herangezogen wurden. Selbst Blutplasma von jugendlichen Spendern im Gefängnis wurde exportiert. Wusste man im Westen davon? Oder nahm man es gleichgültig hin?
Vielfach mussten Häftlingsarbeitskommandos Schwerarbeit im Dreischichtsystem leisten. Rund um die Uhr. Normenschinderei in der Haft unter eklatanter Missachtung von Arbeitsschutzbestimmungen. Die kümmerliche Entlohnung entlarvt den Arbeitseinsatz der Gefangenen vollends als Vehikel der Ausbeutung und als Profitquelle des SED-Staates. Den Gefangenen wurde die Arbeitsvergütung der Industrie nicht ausgezahlt. Die Arbeitseinsatzbetriebe hatten sie den Gefängnissen und Haftarbeitslagern zu überweisen, die den Löwenanteil von 80 Prozent für sich kassierten. Von dem verbleibenden Rest wurden eine Rücklage für die Zeit nach der Haftentlassung und gegebenenfalls für Familienunterhalt einbehalten. Letztlich blieb dem Häftling für einen Monat Arbeit ein "Eigengeld" zwischen 20 und 50 Mark - selten mehr - für bescheidene Einkäufe in anstaltsinternen Verkaufsstellen der staatlichen Handelsorganisation (HO): Marmelade, Schmalz, Tabakwaren, Toilettenartikel - ein dürftiges Warenangebot.
KARL WILHELM FRICKE
Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 363 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Häftlingsarbeit und Export
Im Strafvollzug des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates wurden Häftlinge - politische wie kriminelle, Männer wie Frauen und Jugendliche - zur Arbeit gezwungen und unter zumeist menschenunwürdigen Bedingungen ausgebeutet. Ohne Skrupel. Das ist Fakt. Indes musste nach dem Sturz Honeckers ein Vierteljahrhundert vergehen, ehe darüber eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung veröffentlicht wurde. Tobias Wunschik, Historiker in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde, hat sie vorgelegt. Ungeachtet des reißerischen Titels stellt "Knastware für den Klassenfeind" eine ungewöhnlich daten- und faktengesättigte Untersuchung dar.
Im Einleitungskapitel setzt sich der Autor unter anderem kritisch mit dem Begriff Zwangsarbeit auseinander, den er wegen seiner historischen Belastung aus der Zeit des NS-Regimes ("Vernichtung durch Arbeit") für die Häftlingsarbeit in der DDR nicht gelten lassen will. Stattdessen spricht er im Kontext des DDR-Strafvollzugs von "erzwungener Arbeit" - eine Terminologie, die sich selbst in der Fachpublizistik kaum durchsetzen wird. In den Kapiteln untersucht Wunschik den Arbeitseinsatz von Häftlingen in Gefängnissen und Haftarbeitslagern sowie ihre Arbeitsbedingungen. Dabei informiert er ausführlich über den devisenträchtigen Westexport von Produkten, die in Häftlingsarbeit hergestellt wurden. Im Schlusskapitel zieht er ein nüchternes und ernüchterndes Fazit der Häftlingsarbeit: Normenschinderei hinter Gittern.
Der Autor bietet auch Einblicke in Struktur, Verwaltung und Organisation des DDR-Strafvollzugs und dessen Integration in die sozialistische Planökonomie mit bis zu 39 000 Häftlingen im Arbeitseinsatz. Das Regime hatte der Häftlingsarbeit dreierlei Funktionen zugewiesen: eine repressive, eine wirtschaftliche und die sogenannte "Erziehung durch Arbeit". Der Hauptzweck lag in der Ära Honecker im ökonomischen Nutzen. Die Staatliche Plankommission, die Industrieministerien und die oberste Gefängnisverwaltung im DDR-Innenministerium legten in "politisch-operativem Zusammenwirken" fest, wie viel Gefangene in welchen Betrieben eingesetzt werden sollten. Neben dem Dienstzweig Strafvollzug der Volkspolizei war für die "Absicherung" und Überwachung der Arbeitskommandos in den Gefängnissen und Haftarbeitslagern die Staatssicherheit zuständig. "Besonders viele Gefangene mussten in der elektrotechnischen Industrie, im Bergbau sowie in der Fahrzeugindustrie arbeiten", hebt der Autor hervor. Weitere Arbeitseinsatzbereiche waren die Textilindustrie, die Möbelfertigung, die Feinmechanik Optik, die Metallurgie und die Zementproduktion.
Die Häftlingsarbeit bildete eine festumrissene ökonomische Plangröße. In Schwierigkeiten geriet die DDR-Wirtschaft bei Amnestien, die unter Honecker 1972, 1979 und 1987 durchgeführt wurden. Durch sie wurde das Arbeitskräftepotential hinter Gittern spürbar geschwächt. Um das Plansoll trotzdem zu erfüllen, mussten Produktionsausfälle durch Überstunden und Sonderschichten durch in der Haft verbliebene Gefangene ausgeglichen werden - vor allem bei Lieferverpflichtungen im Westexportgeschäft. Denn ein Großteil der in Häftlingsarbeit gefertigten Produkte ging in den 1970er und 1980er Jahren an Industrie- und Handelskonzerne in der Bundesrepublik und im westeuropäischen Ausland. Was Devisen brachte, wurde verkauft: Möbel und Sofas, Strumpfhosen und Bettwäsche, Werkzeugkästen, Küchenherde, Kühlschränke, Fernseher, Zement - alles Produkte, zu deren Herstellung Häftlingsarbeiter herangezogen wurden. Selbst Blutplasma von jugendlichen Spendern im Gefängnis wurde exportiert. Wusste man im Westen davon? Oder nahm man es gleichgültig hin?
Vielfach mussten Häftlingsarbeitskommandos Schwerarbeit im Dreischichtsystem leisten. Rund um die Uhr. Normenschinderei in der Haft unter eklatanter Missachtung von Arbeitsschutzbestimmungen. Die kümmerliche Entlohnung entlarvt den Arbeitseinsatz der Gefangenen vollends als Vehikel der Ausbeutung und als Profitquelle des SED-Staates. Den Gefangenen wurde die Arbeitsvergütung der Industrie nicht ausgezahlt. Die Arbeitseinsatzbetriebe hatten sie den Gefängnissen und Haftarbeitslagern zu überweisen, die den Löwenanteil von 80 Prozent für sich kassierten. Von dem verbleibenden Rest wurden eine Rücklage für die Zeit nach der Haftentlassung und gegebenenfalls für Familienunterhalt einbehalten. Letztlich blieb dem Häftling für einen Monat Arbeit ein "Eigengeld" zwischen 20 und 50 Mark - selten mehr - für bescheidene Einkäufe in anstaltsinternen Verkaufsstellen der staatlichen Handelsorganisation (HO): Marmelade, Schmalz, Tabakwaren, Toilettenartikel - ein dürftiges Warenangebot.
KARL WILHELM FRICKE
Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989). Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 363 S., 29,99 [Euro].
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