Lukas Bärfuss hat einen gedanklich weit ausgreifenden Roman geschrieben, der über die Frage, warum jemand willentlich den Tod gesucht hat, zu einer anderen vordringt: Welche Gründe gibt es, sich für das Leben zu entscheiden? Ein ganz gewöhnlicher Mensch, sein ganz gewöhnliches Leben und sein ganz gewöhnliches Ende. Aber nichts an dieser Geschichte in Lukas Bärfuss` neuem Roman will uns gewöhnlich scheinen. Denn das erzählte Ende ist ein Suizid, und der ihn verübt hat, ist sein Bruder. Auch wenn die Statistik sagt, dass für die Menschen zwischen zwanzig und vierzig Jahren Suizid die zweithäufigste Todesursache überhaupt ist, hilft das niemandem in seinem individuellen Schicksal. Die Fragen, die sich unweigerlich stellen, finden nicht zu Antworten, die denen, die zurückbleiben, wirklich Trost spenden. Bärfuss spürt dem Schicksal des Bruders nach, über das er zunächst wenig weiß. Und er begegnet einem großen Schweigen. Das Thema scheint von einem großen Tabu umstellt. Und von einem Geheimnis. Warum nannten seine Freunde ihn Koala? Wie kam er zu diesem Namen? Und hat vielleicht der Name gar das Schicksal des Bruders mitbestimmt; wird ein Mensch seinem Namen ähnlich? Die Geschichte der Tierart in Australien, die heute vor der Ausrottung steht, gerät in den Blick des Autors, und so ist das Buch auch eine Natur-Geschichte über den Umgang des Menschen mit dem anderen Menschen, mit dem Tier, mit Gewalt überhaupt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jens Bisky hat entschieden etwas gegen den zivilisationskritischen Erklärungstrieb des Autors, der ihm mehr als einmal in diesem Buch, das den Selbstmord von Lukas Bärfuss' Bruder behandelt, das schöne Schweben des Textes zwischen Natur- und Zivilisationsgeschichte vergällt. Etwa wenn der Autor laut Bisky hinreißend prägnant von den Koalas berichtet (der Pfadfinder-Name des Bruders). Die Passagen des Buches, kaum ein Roman, meint Bisky, eher ein Essay, in denen von der Wut und der Trauer des Autors berichtet wird, hält der Rezensent hingegen für unantastbar, weil allzu privat. Die unabgeschlossene Dreiteiligekeit des Buches scheint ihm dem Thema angemessen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2014Vorsicht vor giftigen Eukalyptusblättern
Wer über das eigene Leben verfügt: Im neuen Roman von Lukas Bärfuss ergründet ein Mann den Tod seines Bruders
Kleists letzten Lebensakt versieht zum Glück kaum noch jemand mit Verdikten, wie sie Sibylle Lewitscharoff 2011 bei der Entgegennahme des in seinem Namen ausgelobten Literaturpreises vorbrachte. Ihrer empörten Distanz aus vermeintlicher Christenpflicht, die fast so anstößig wie ihr jüngstes Wort von assistiert reproduzierten menschlichen "Halbwesen" wirkte, steht aktuell eine hochsensible Debatte über den selbstbestimmten Tod entgegen - nicht zuletzt nach dem bewegenden Blog Wolfgang Herrndorfs. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss nimmt sich des heiklen Themas Suizid nun in seinem zweiten Roman "Koala" auf souveräne Weise an.
Das Buch berichtet von einem Mann, der wie Bärfuss aus Thun nahe Bern stammt und durch den Selbstmord seines Bruders in eine lange, tiefe Grübelei gerät. Im letzten Satz, der wiederum zum Anfang führt, erklärt dieser Mann nach der Trauerfeier für seinen Bruder: "Ich stieg in den Wagen, fuhr nach Hause, setzte mich an den Schreibtisch und machte mich an die Arbeit." Der gegebene persönliche Anlass des Autors Bärfuss soll hier weiter keine Rolle spielen, da es sich um keinen "biographischen Roman", sondern um ein Stück exemplarischer Reflexionsliteratur handelt: Der Impuls gegen den leichtfertigen Vorwurf feiger, arbeitsscheuer Weltflucht findet sich bereits im "Werther", ebenso wie die Beisetzung des Suizidenten "außerhalb der Kirchhofsmauern". Überhaupt fügt sich die vorgeschlagene nüchterne Haltung, "keine Moral ließ sich schließen", zu dem seit Goethe entwickelten Plädoyer für vorbehaltlose Prüfung jedes einzelnen Falls, aller Umstände und Tatmotive.
Der Erzähler unterhielt keine sehr innige Beziehung zu seinem Bruder - eigentlich einem Halbbruder, von einem anderen Vater. Als dieser sein Leben "abgelegt" hatte, "zurückgegeben wie den Schlüssel einer Wohnung", überfällt den Verbliebenen dennoch ungeahnter Schmerz. Bärfuss zeichnet eindringlich den allmählichen Prozess von der ersten Erschütterung über die nachfolgende Wut angesichts eines unentrinnbaren Eingriffs ins eigene Leben bis zur Ratlosigkeit, den dieser "ordinäre Tod, verbreitet wie Kurzsichtigkeit", hinterlässt. Der Selbstmord, so die poetische Pointe, muss nicht erzählt werden, sondern spricht selbst, "in einer Rede ohne Anfang und ohne Ende". Dieses fast unwillkürliche Selbstgespräch - manchmal laut auf der Toilette bei Freunden, meist aber leise am Schreibtisch - führt zu dem Buch und verdeutlicht dessen ungewöhnliche Anlage.
Dieses Selbstgespräch ergibt sich aus wechselnden Erzählpositionen. Zunächst berichtet ein "Ich" von seinem Kleist-Vortrag in Thun - wo der Dichter einst sein Refugium auf einer Insel in der Aare suchte -, der unwissentlich letzten Begegnung mit dem Bruder, der Todesbotschaft. Davon, wie "er" mit seinen schlechten Augen wiederholt Glastüren durchbrach, vom Unfall mit einem schweren Stahltor, der ihn zum Rollstuhl und stärksten Schmerzmitteln verurteilte, von seiner Hilfsarbeit in einem Obdachlosenheim. Dann kommt "er" selbst in einer längeren erlebten Rede zu Wort, die von der Taufe auf den Namen "Koala" in einem Pfadfinderlager handelt. Dieses "Totem" des Bruders ist schließlich Ausgangspunkt für eine fast hundertseitige historische Binnengeschichte über die britische Kolonisierung Australiens und dessen beliebtes Emblem, den Kuschelbär Koala. Erst auf den letzten Seiten meldet sich der Erzähler vom Beginn mit allgemeinen Überlegungen zum Selbstmord wieder selbst als "Ich" zu Wort.
Was erst zusammenhanglos scheint, entfaltet nach und nach seinen Sinn. Denn die Verbannung britischer Sträflinge auf die Antipoden ist eine Geschichte vom harten Überlebenskampf der Landnehmer, von der Unterdrückung der Aborigines und der Ausrottung vieler Tierarten. Dagegen sind die lebensuntüchtigen, aber niedlichen Koalas friedlich; sie schlafen fast immer und ernähren sich von eigentlich unbekömmlichen Eukalyptusblättern. An deren Gifte gewöhnen sie sich erst allmählich durch die schon einmal verdauten Ausscheidungen ihrer Mütter - ähnlich wie der Bruder durch seinen Unfall an Heroin. In beiden Erzählsträngen geht es also um Allegorien auf das Überleben und die Relativität und Zufälligkeit von Werden und Vergehen. Der lange Exkurs weicht sprachlich von den zuweilen mäandernden Selbstgesprächen des Romananfangs ab und ist historisch und zoologisch sorgfältig recherchiert. Nicht zuletzt das handschriftlich erhaltene und 1981 edierte Tagebuch des Schiffsleutnants Ralph Clark - "Journal kept on the ,Friendship' during a voyage to Botany Bay and Norfolk Island, 1787-1792" - scheint eine wichtige Quelle zu sein.
Am Ende münden die drei Ebenen - das persönliche Selbstgespräch, die Eroberungsgeschichte Australiens und die Sachprosa über Koalas - in die These, der Selbstmord sei überhaupt nicht so unbegreiflich wie zunächst angenommen. Über die hier angebotenen Antworten mag man uneins sein, der intensiven Diskussion sind sie aber allenthalben wert. Vielleicht auch deshalb, weil sie über unerwartete Analogien hergeleitet werden und sich einem besonderen Programm verdanken: Die meisten schweigen über den Suizid, andere verlieren in endlosen Selbstgesprächen darüber den Verstand, Bärfuss reflektiert die Frage hingegen in langen Gleichnissen. Entstanden ist daraus ein ungewöhnliches Buch, das es unbedingt lohnt, weiter überdacht zu werden.
ALEXANDER KOSENINA.
Lukas Bärfuss: "Koala". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 184 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer über das eigene Leben verfügt: Im neuen Roman von Lukas Bärfuss ergründet ein Mann den Tod seines Bruders
Kleists letzten Lebensakt versieht zum Glück kaum noch jemand mit Verdikten, wie sie Sibylle Lewitscharoff 2011 bei der Entgegennahme des in seinem Namen ausgelobten Literaturpreises vorbrachte. Ihrer empörten Distanz aus vermeintlicher Christenpflicht, die fast so anstößig wie ihr jüngstes Wort von assistiert reproduzierten menschlichen "Halbwesen" wirkte, steht aktuell eine hochsensible Debatte über den selbstbestimmten Tod entgegen - nicht zuletzt nach dem bewegenden Blog Wolfgang Herrndorfs. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss nimmt sich des heiklen Themas Suizid nun in seinem zweiten Roman "Koala" auf souveräne Weise an.
Das Buch berichtet von einem Mann, der wie Bärfuss aus Thun nahe Bern stammt und durch den Selbstmord seines Bruders in eine lange, tiefe Grübelei gerät. Im letzten Satz, der wiederum zum Anfang führt, erklärt dieser Mann nach der Trauerfeier für seinen Bruder: "Ich stieg in den Wagen, fuhr nach Hause, setzte mich an den Schreibtisch und machte mich an die Arbeit." Der gegebene persönliche Anlass des Autors Bärfuss soll hier weiter keine Rolle spielen, da es sich um keinen "biographischen Roman", sondern um ein Stück exemplarischer Reflexionsliteratur handelt: Der Impuls gegen den leichtfertigen Vorwurf feiger, arbeitsscheuer Weltflucht findet sich bereits im "Werther", ebenso wie die Beisetzung des Suizidenten "außerhalb der Kirchhofsmauern". Überhaupt fügt sich die vorgeschlagene nüchterne Haltung, "keine Moral ließ sich schließen", zu dem seit Goethe entwickelten Plädoyer für vorbehaltlose Prüfung jedes einzelnen Falls, aller Umstände und Tatmotive.
Der Erzähler unterhielt keine sehr innige Beziehung zu seinem Bruder - eigentlich einem Halbbruder, von einem anderen Vater. Als dieser sein Leben "abgelegt" hatte, "zurückgegeben wie den Schlüssel einer Wohnung", überfällt den Verbliebenen dennoch ungeahnter Schmerz. Bärfuss zeichnet eindringlich den allmählichen Prozess von der ersten Erschütterung über die nachfolgende Wut angesichts eines unentrinnbaren Eingriffs ins eigene Leben bis zur Ratlosigkeit, den dieser "ordinäre Tod, verbreitet wie Kurzsichtigkeit", hinterlässt. Der Selbstmord, so die poetische Pointe, muss nicht erzählt werden, sondern spricht selbst, "in einer Rede ohne Anfang und ohne Ende". Dieses fast unwillkürliche Selbstgespräch - manchmal laut auf der Toilette bei Freunden, meist aber leise am Schreibtisch - führt zu dem Buch und verdeutlicht dessen ungewöhnliche Anlage.
Dieses Selbstgespräch ergibt sich aus wechselnden Erzählpositionen. Zunächst berichtet ein "Ich" von seinem Kleist-Vortrag in Thun - wo der Dichter einst sein Refugium auf einer Insel in der Aare suchte -, der unwissentlich letzten Begegnung mit dem Bruder, der Todesbotschaft. Davon, wie "er" mit seinen schlechten Augen wiederholt Glastüren durchbrach, vom Unfall mit einem schweren Stahltor, der ihn zum Rollstuhl und stärksten Schmerzmitteln verurteilte, von seiner Hilfsarbeit in einem Obdachlosenheim. Dann kommt "er" selbst in einer längeren erlebten Rede zu Wort, die von der Taufe auf den Namen "Koala" in einem Pfadfinderlager handelt. Dieses "Totem" des Bruders ist schließlich Ausgangspunkt für eine fast hundertseitige historische Binnengeschichte über die britische Kolonisierung Australiens und dessen beliebtes Emblem, den Kuschelbär Koala. Erst auf den letzten Seiten meldet sich der Erzähler vom Beginn mit allgemeinen Überlegungen zum Selbstmord wieder selbst als "Ich" zu Wort.
Was erst zusammenhanglos scheint, entfaltet nach und nach seinen Sinn. Denn die Verbannung britischer Sträflinge auf die Antipoden ist eine Geschichte vom harten Überlebenskampf der Landnehmer, von der Unterdrückung der Aborigines und der Ausrottung vieler Tierarten. Dagegen sind die lebensuntüchtigen, aber niedlichen Koalas friedlich; sie schlafen fast immer und ernähren sich von eigentlich unbekömmlichen Eukalyptusblättern. An deren Gifte gewöhnen sie sich erst allmählich durch die schon einmal verdauten Ausscheidungen ihrer Mütter - ähnlich wie der Bruder durch seinen Unfall an Heroin. In beiden Erzählsträngen geht es also um Allegorien auf das Überleben und die Relativität und Zufälligkeit von Werden und Vergehen. Der lange Exkurs weicht sprachlich von den zuweilen mäandernden Selbstgesprächen des Romananfangs ab und ist historisch und zoologisch sorgfältig recherchiert. Nicht zuletzt das handschriftlich erhaltene und 1981 edierte Tagebuch des Schiffsleutnants Ralph Clark - "Journal kept on the ,Friendship' during a voyage to Botany Bay and Norfolk Island, 1787-1792" - scheint eine wichtige Quelle zu sein.
Am Ende münden die drei Ebenen - das persönliche Selbstgespräch, die Eroberungsgeschichte Australiens und die Sachprosa über Koalas - in die These, der Selbstmord sei überhaupt nicht so unbegreiflich wie zunächst angenommen. Über die hier angebotenen Antworten mag man uneins sein, der intensiven Diskussion sind sie aber allenthalben wert. Vielleicht auch deshalb, weil sie über unerwartete Analogien hergeleitet werden und sich einem besonderen Programm verdanken: Die meisten schweigen über den Suizid, andere verlieren in endlosen Selbstgesprächen darüber den Verstand, Bärfuss reflektiert die Frage hingegen in langen Gleichnissen. Entstanden ist daraus ein ungewöhnliches Buch, das es unbedingt lohnt, weiter überdacht zu werden.
ALEXANDER KOSENINA.
Lukas Bärfuss: "Koala". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 184 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.04.2014Von einem Tier, das mit Gefahren nicht rechnete
Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss fragt, was seinen Bruder am Leben hinderte – und findet eine Antwort in der Geschichte des Beutelsäugers Koala
Es waren zwei Brüder, Halbbrüder, um genau zu sein, die einander nicht viel zu sagen hatten. Schriftsteller der eine, angestellt in einer Notschlafstelle der andere, der das Unglück anzuziehen und sich damit abzufinden schien. An einem Dezembertag nahm er sich mittels Heroin das Leben. Ein sauberer Abgang, soweit dergleichen möglich ist: „Nie verheiratet, keine Kinder, keine Schulden. Ordentliches Testament. Die Asche verstreut im See, an einem kalten Märztag, vier Monate nach seinem Tod.“
Über den Selbstmörder Kleist hatte der Schriftsteller einen Vortrag gehalten und an diesem Abend in Thun auch seinen Bruder zum letzten Mal gesehen. Was sollte er später sagen über dessen Tod? Wie den Suizid verstehen und mit der Stille leben? Wut, Fassungslosigkeit, Trauer, Grübeleien wechseln einander ab. Darüber berichtet Lukas Bärfuss in seinem Buch „Koala“, dem – wenig überzeugend – das Etikett „Roman“ angeheftet wurde. Es ist ein Essay, ein Versuch, mit sich selbst klarzukommen. Der Selbstmord eines nahestehenden Menschen stellt, mehr noch als ein Verkehrsunfall oder ein Lawinenunglück, die Selbstverständlichkeiten des eigenen Daseins in Frage. Davon handelt dieses Buch. „Der Selbstmord sprach für sich, er brauchte keine Stimme, und er brauchte keinen Erzähler.“ Doch das erschütterte Ich vergewissert sich erzählend, Erinnerungen heraufrufend, Informationen sammelnd seiner selbst.
Dieser Essay, der uns als „Roman“ verkauft werden soll, zerfällt in drei Teile. Der Leser nimmt es hin, dass er kein in sich geschlossenes, abgerundetes Werk vor sich hat. Es wäre wohl unangemessen, einen Suizid harmonisch zu entfalten. Wer über Selbstmord spricht, darf – und sollte sogar – radikal verfahren. Leider lässt Lukas Bärfuss aber das Disparate nicht für sich stehen, sondern zwingt am Ende die drei Teile im Zeichen kulturkritischer Gemeinplätze zusammen. Das verstört und verstimmt – und dies um so mehr, als Lukas Bärfuss in „Hundert Tage“ (2008), einem der besten Bücher des vergangenen Jahrzehnts, dem Roman einer Liebe während des Massenschlachtens in Ruanda, gezeigt hat, wie man verschiedenen Perspektiven gerecht werden und die Urteilsmechanik durcheinander bringen kann.
Der erste Teil von „Koala“ ist kaum ein Gegenstand der Kritik, zu privat wirkt, was hier erzählt wird. Der Schriftsteller erhält die Nachricht vom Selbstmord des Bruders und sucht „nach einer Frage auf die Antwort, die er uns allen gegeben hat“. Wer wollte da Haltungsnoten verteilen? Immer wieder setzt der Erzähler neu an. Sein Bruder hatte wenig Glück. „Schlechte Augen. Dicke Brille“. Unfälle blieben nicht aus. Ein Stahltor fiel auf ihn, ein Rückenwirbel wurde gestaucht, erst kommen die Schmerzmittel, „Tramadol, Oxycodon, Heroin“, dann der Entzug.
Erinnerungen, Kulturgeschichtliches über den Selbstmord helfen dem Schriftsteller nicht weiter. Es bleibt nichts als der seltsame Name, den seine Freunde, die Pfadfinder dem Bruder gaben. Sie nannten ihn Koala, das war sein Totem, das sein Wesen, seine Bestimmung enthalten sollte. Erst in dem Augenblick, in dem Lukas Bärfuss, der Bruder und Schriftsteller, beginnt, den Pfadfinder-Ritus zu imaginieren, gewinnt dieses Buch an Kraft und entfaltet einen Sog wie nur wenige Gegenwartsromane. Vom Privaten, vom Schicksal, von den vorletzten Fragen lässt sich vernünftig reden nur kraft der Fiktion, der Verwandlung. Koala, der Name, der dem „kleinen Scheißer in einem Scheißkaff“ nun anhing, führt weit hinaus aus der Schweiz, tief hinein in die Natur- und Kolonialgeschichte. Bärfuss beschwört die Jahrtausende, in denen das Tier fast ohne Anstrengung existierte, bis die Menschen kamen und es jagten, was sehr leicht fiel, da es mit Gefahren nicht rechnete. Er erzählt, wie Australien zur Strafkolonie wurde, wie die Verdammten ihr Überleben organisierten – mit Fleiß, Ehrgeiz und Grausamkeit.
Der Leser stutzt anfangs: Was sollen die detailreichen, verwirrenden Geschichten über verfaulte Nahrung, Henker, Eingeborene, über Streit und Krankheiten, was sollen die Episoden aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert in einem Buch, das den Selbstmord eines Schweizers im 21. Jahrhundert zum Thema hat? Doch spiegeln sich die fremden Welten ineinander: Zufälle regieren, sinnloses Sterben ist die Regel, der menschliche Ehrgeiz macht sich die Wildnis untertan, die Aschgrauen Beutelbären aus Australien werden Objekte der Wissenschaft. Koalas ernähren sich von Eukalyptus, einer üblen Kost, die reich an Giften ist. Neben der Kolonisierungsgeschichte bietet Bärfuss ein hinreißendes Porträt der Laubfresser. Und wer mag, kann in ihrer bedrohten Existenz ein Bild auch für die Existenz des Bruders finden.
Die Australien-Passagen des Buches überzeugen durch Prägnanz. Da gibt es etwa einen Henker, der unerfahren und ängstlich ist, keine Schlinge zustande bringt. Das Problem wurde bald gelöst: „James Freeman, den sie wegen dreieinhalb Kilo Mehl zum Galgen führten, wurde unter der Bedingung begnadigt, von nun an der Henker zu sein, anstatt gehängt zu werden, selber zu hängen. Er akzeptierte.“ Das sitzt, das vergisst man nicht.
Leider aber belehrt Bärfuss den Leser im dritten Teil, wie das alles zu verstehen sei. Eine kulturkritische Sonntagspredigt zerstört das schöne Schweben zwischen Natur- und Zivilisationsgeschichte, bietet ein paar verrostete Schlüssel, um den Sinn der Episoden zu erschließen, obwohl der Autor doch weiß, dass all die Augenblicke keinen Sinn, keine Moral bereithalten.
Das Dasein der Koalas sei der Faulheit gewidmet, der Mensch aber ausgezeichnet durch „unausgesetztes Streben“. Er habe die Wahl zwischen Angst und Tod. Gegen die Angst helfe der Fleiß. Die gesuchte Frage lautet also: „Warum seid ihr noch am Leben? Warum verkürzt ihr nicht die Mühsal? Warum nehmt ihr jetzt nicht gleich den Strick, das Gift oder den Revolver, warum öffnet ihr nicht das Fenster jetzt gleich?“ Auch die Nutzanwendung liefert der Schriftsteller: Selbstmördern verzeihe man nicht, dass sie „endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert“ hätten. Zu diesen gehöre der Bruder, er habe sich eingereiht „unter die Unruhestifter“.
Überdruss, Einsamkeit, ein tiefes Gefühl für die Vergeblichkeit des Lebens – das sind aus der Selbstmordliteratur gut bekannte Motive. Die zivilisationskritische Überzeichnung vertragen sie nur schlecht. Bärfuss begeistert, wenn er erzählt, wenn er aber erklärt und deutet, verliert er seine schöne Radikalität im trüb Programmatischen.
JENS BISKY
Was tun mit einem Henker, der
ängstlich und unerfahren ist,
keine Schlinge zustande bringt?
Lukas Bärfuss: Koala. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 184 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss fragt, was seinen Bruder am Leben hinderte – und findet eine Antwort in der Geschichte des Beutelsäugers Koala
Es waren zwei Brüder, Halbbrüder, um genau zu sein, die einander nicht viel zu sagen hatten. Schriftsteller der eine, angestellt in einer Notschlafstelle der andere, der das Unglück anzuziehen und sich damit abzufinden schien. An einem Dezembertag nahm er sich mittels Heroin das Leben. Ein sauberer Abgang, soweit dergleichen möglich ist: „Nie verheiratet, keine Kinder, keine Schulden. Ordentliches Testament. Die Asche verstreut im See, an einem kalten Märztag, vier Monate nach seinem Tod.“
Über den Selbstmörder Kleist hatte der Schriftsteller einen Vortrag gehalten und an diesem Abend in Thun auch seinen Bruder zum letzten Mal gesehen. Was sollte er später sagen über dessen Tod? Wie den Suizid verstehen und mit der Stille leben? Wut, Fassungslosigkeit, Trauer, Grübeleien wechseln einander ab. Darüber berichtet Lukas Bärfuss in seinem Buch „Koala“, dem – wenig überzeugend – das Etikett „Roman“ angeheftet wurde. Es ist ein Essay, ein Versuch, mit sich selbst klarzukommen. Der Selbstmord eines nahestehenden Menschen stellt, mehr noch als ein Verkehrsunfall oder ein Lawinenunglück, die Selbstverständlichkeiten des eigenen Daseins in Frage. Davon handelt dieses Buch. „Der Selbstmord sprach für sich, er brauchte keine Stimme, und er brauchte keinen Erzähler.“ Doch das erschütterte Ich vergewissert sich erzählend, Erinnerungen heraufrufend, Informationen sammelnd seiner selbst.
Dieser Essay, der uns als „Roman“ verkauft werden soll, zerfällt in drei Teile. Der Leser nimmt es hin, dass er kein in sich geschlossenes, abgerundetes Werk vor sich hat. Es wäre wohl unangemessen, einen Suizid harmonisch zu entfalten. Wer über Selbstmord spricht, darf – und sollte sogar – radikal verfahren. Leider lässt Lukas Bärfuss aber das Disparate nicht für sich stehen, sondern zwingt am Ende die drei Teile im Zeichen kulturkritischer Gemeinplätze zusammen. Das verstört und verstimmt – und dies um so mehr, als Lukas Bärfuss in „Hundert Tage“ (2008), einem der besten Bücher des vergangenen Jahrzehnts, dem Roman einer Liebe während des Massenschlachtens in Ruanda, gezeigt hat, wie man verschiedenen Perspektiven gerecht werden und die Urteilsmechanik durcheinander bringen kann.
Der erste Teil von „Koala“ ist kaum ein Gegenstand der Kritik, zu privat wirkt, was hier erzählt wird. Der Schriftsteller erhält die Nachricht vom Selbstmord des Bruders und sucht „nach einer Frage auf die Antwort, die er uns allen gegeben hat“. Wer wollte da Haltungsnoten verteilen? Immer wieder setzt der Erzähler neu an. Sein Bruder hatte wenig Glück. „Schlechte Augen. Dicke Brille“. Unfälle blieben nicht aus. Ein Stahltor fiel auf ihn, ein Rückenwirbel wurde gestaucht, erst kommen die Schmerzmittel, „Tramadol, Oxycodon, Heroin“, dann der Entzug.
Erinnerungen, Kulturgeschichtliches über den Selbstmord helfen dem Schriftsteller nicht weiter. Es bleibt nichts als der seltsame Name, den seine Freunde, die Pfadfinder dem Bruder gaben. Sie nannten ihn Koala, das war sein Totem, das sein Wesen, seine Bestimmung enthalten sollte. Erst in dem Augenblick, in dem Lukas Bärfuss, der Bruder und Schriftsteller, beginnt, den Pfadfinder-Ritus zu imaginieren, gewinnt dieses Buch an Kraft und entfaltet einen Sog wie nur wenige Gegenwartsromane. Vom Privaten, vom Schicksal, von den vorletzten Fragen lässt sich vernünftig reden nur kraft der Fiktion, der Verwandlung. Koala, der Name, der dem „kleinen Scheißer in einem Scheißkaff“ nun anhing, führt weit hinaus aus der Schweiz, tief hinein in die Natur- und Kolonialgeschichte. Bärfuss beschwört die Jahrtausende, in denen das Tier fast ohne Anstrengung existierte, bis die Menschen kamen und es jagten, was sehr leicht fiel, da es mit Gefahren nicht rechnete. Er erzählt, wie Australien zur Strafkolonie wurde, wie die Verdammten ihr Überleben organisierten – mit Fleiß, Ehrgeiz und Grausamkeit.
Der Leser stutzt anfangs: Was sollen die detailreichen, verwirrenden Geschichten über verfaulte Nahrung, Henker, Eingeborene, über Streit und Krankheiten, was sollen die Episoden aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert in einem Buch, das den Selbstmord eines Schweizers im 21. Jahrhundert zum Thema hat? Doch spiegeln sich die fremden Welten ineinander: Zufälle regieren, sinnloses Sterben ist die Regel, der menschliche Ehrgeiz macht sich die Wildnis untertan, die Aschgrauen Beutelbären aus Australien werden Objekte der Wissenschaft. Koalas ernähren sich von Eukalyptus, einer üblen Kost, die reich an Giften ist. Neben der Kolonisierungsgeschichte bietet Bärfuss ein hinreißendes Porträt der Laubfresser. Und wer mag, kann in ihrer bedrohten Existenz ein Bild auch für die Existenz des Bruders finden.
Die Australien-Passagen des Buches überzeugen durch Prägnanz. Da gibt es etwa einen Henker, der unerfahren und ängstlich ist, keine Schlinge zustande bringt. Das Problem wurde bald gelöst: „James Freeman, den sie wegen dreieinhalb Kilo Mehl zum Galgen führten, wurde unter der Bedingung begnadigt, von nun an der Henker zu sein, anstatt gehängt zu werden, selber zu hängen. Er akzeptierte.“ Das sitzt, das vergisst man nicht.
Leider aber belehrt Bärfuss den Leser im dritten Teil, wie das alles zu verstehen sei. Eine kulturkritische Sonntagspredigt zerstört das schöne Schweben zwischen Natur- und Zivilisationsgeschichte, bietet ein paar verrostete Schlüssel, um den Sinn der Episoden zu erschließen, obwohl der Autor doch weiß, dass all die Augenblicke keinen Sinn, keine Moral bereithalten.
Das Dasein der Koalas sei der Faulheit gewidmet, der Mensch aber ausgezeichnet durch „unausgesetztes Streben“. Er habe die Wahl zwischen Angst und Tod. Gegen die Angst helfe der Fleiß. Die gesuchte Frage lautet also: „Warum seid ihr noch am Leben? Warum verkürzt ihr nicht die Mühsal? Warum nehmt ihr jetzt nicht gleich den Strick, das Gift oder den Revolver, warum öffnet ihr nicht das Fenster jetzt gleich?“ Auch die Nutzanwendung liefert der Schriftsteller: Selbstmördern verzeihe man nicht, dass sie „endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert“ hätten. Zu diesen gehöre der Bruder, er habe sich eingereiht „unter die Unruhestifter“.
Überdruss, Einsamkeit, ein tiefes Gefühl für die Vergeblichkeit des Lebens – das sind aus der Selbstmordliteratur gut bekannte Motive. Die zivilisationskritische Überzeichnung vertragen sie nur schlecht. Bärfuss begeistert, wenn er erzählt, wenn er aber erklärt und deutet, verliert er seine schöne Radikalität im trüb Programmatischen.
JENS BISKY
Was tun mit einem Henker, der
ängstlich und unerfahren ist,
keine Schlinge zustande bringt?
Lukas Bärfuss: Koala. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 184 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Bärfuss begeistert, wenn er erzählt, wenn er aber erklärt und deutet verliert er seine schöne Radikalität im trüb Programmatischen.« (Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 24.04.2014) »ein ungewöhnliches Buch, das es unbedingt lohnt, weiter überdacht zu werden.« (Alexander Kosenina, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.03.2014) »ein tief poetisches, ernsthaftes und wunderschönes Buch, eines der schönsten, die ich seit langem gelesen habe« (Elke Heidenreich, Literaturclub, 18.03.2014) »ein sehr kühnes Buch« (Stefan Zweifel, Literaturclub, 18.03.2014) »Lukas Bärfuss ist der aufregendste Autor der Schweiz.« (Richard Kämmerlings, Die Welt, 09.03.2014) »ein sehr mutiges Buch, streng, kompromisslos« (Nicole Henneberg, Der Tagesspiegel, 07.04.2014) »Bärfuss' »Koala« ist ein Ereignis.« (Christine Lötscher, Züritipp, 05.03.2014) »Ein großer Roman, der zeigt, wie die Literatur uns des Lebens versichern kann.« (Thomas Böhm, Die Literaturagenten auf radioeins, 06.04.2014) »Ein schmales, kostbares Buch über das Leben und kaum zu beantwortende Fragen.« (Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2014) »ein radikales Buch von erstaunlicher Kraft, das kluge Fragen stellt« (Friederike Gösweiner, Tiroler Tageszeitung, 09.05.2014)