Der König ist tot - es lebe der König! Rio Reiser hat deutsche Musikgeschichte geschrieben. Als Sänger und Texter der Band Ton Steine Scherben lieferte er in den Siebzigern mit Liedern wie »Keine Macht für niemand« oder »Macht kaputt, was euch kaputt macht« den Soundtrack zum Aufbruch einer ganzen Generation. In den Achtzigern wurde er als Solokünstler mit Hits wie »König von Deutschland« und »Junimond« schlagartig einem breiten Publikum bekannt. Von Reinhard Mey über Nena bis zu Jan Delay, Ferris MC oder Clueso - immer neue Musiker interpretieren seine Lieder und lassen sich inspirieren von der Poesie seiner Texte, von der Zärtlichkeit, der Kraft und der Kreativität seiner Sprachkunst. In seiner Autobiografie erzählt er von seinen Konflikten als politischer Mensch, als Künstler und als Liebender. Eine mitreißende, befreiende und frische Lebensgeschichte - mit einem aktuellen Vorwort von Rocko Schamoni.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Anlässlich des 20. Todestags von Rio Reiser schaut Jan Kedves noch einmal in die neu aufgelegte Autobiografie, die Reiser zusammen mit Hannes Eyber verfasst hat. Bis zur Mitte etwa scheint sie ihm eine aufschlussreiche Lektüre zu sein, satt mit Reisers schnoddrig selbstironischen Sound und getragen von der Erinnerung an den Willen des Musikers, ein progressiver deutscher Schlagersänger zu sein. Dumm nur, findet Kedves, dass der Band genau in dem Moment lückenhaft wird, da Reiser tatsächlich als progressiver Schlagersänger Erfolg hat, Mitte der 80er. Scham?, mutmaßt der Rezensent und entdeckt weitere Lücken im Buch, etwa beim Thema Aids.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2016Es geht ja noch weiter so
Im August 1996 starb der Agitprop-Rocker Rio Reiser. Zum 20. Todestag ist seine
Autobiografie wiederaufgelegt worden, dazu gibt es Erinnerungen seines Bruders Gert Möbius
VON JAN KEDVES
Wie lang sind zwanzig Jahre? Nun ja. Als Rio Reiser 1995 in der NDR-Talkshow zwischen anderen, ihm gütig zulächelnden sogenannten Showgrößen – Konstantin Wecker, Brigitte Mira – saß und natürlich den zum melancholischen Schlagersänger bekehrten Ex-Bürgerschreck geben sollte, fuhr er dem Moderator der Sendung, Hubertus Meyer-Burckhardt, entschieden über den Mund. Der versuchte nämlich, die Siebzigerjahre ein bisschen zu bespötteln, und meinte mit süffisantem Glucksen, tja, das sei doch „einfach ganz lange her“, oder nicht? Nö, erwiderte Reiser, „das ist nicht lange her, und es geht ja noch weiter so.“ Womit er natürlich meinte, dass für ihn die Frage, wie man solidarisch zusammenleben könne, ohne beim großen Dreckskapitalismus einfach so mitzumachen, noch lange nicht geklärt sei, und sich weigerte, das Kommunenleben, die Anarcho-Parolen, den Springer-Hass, seinen aus Acidrock und Agitprop zusammengebauten Agitrock, all das einfach mal so zur Jugendsünde wegzuschmunzeln. Anzusehen auf Youtube.
Ein Jahr später, am 20. August 1996, starb Rio Reiser an Kreislaufversagen, vermutlich im Zusammenhang mit einer Leberzirrhose. Das ist jetzt auch 20 Jahre her. Aber wenn in Berlin mal wieder Häuserkampf ist, wie gerade in der Rigaer Straße, werden immer noch die alten Hits der Ton Steine Scherben laut aufgedreht, „Keine Macht für Niemand“, der „Rauch-Haus-Song“. Das Georg-von-Rauch-Haus auf dem Kreuzberger Bethanien-Gelände, zu dessen Besetzung Rio Reiser 1971 bei einem Konzert in der Mensa der Berliner TU aufgerufen hatte, gibt es als selbstverwaltetes Jugendzentrum bis heute. Und wenn der linkshedonistische Golden Pudel Club in Hamburg, wie vor zwei Wochen geschehen, in einer Pressemitteilung die Rettung seines Grundstücks aus den Fängen der Gentrifizierungs-Spekulanten, hinein in den Hafen der schönen Gemeinnützigkeit feiert, wird auch wieder aus dem Rauch-Haus-Song zitiert: „Das ist unser Haus!“ Keine Frage, Rio lebt.
Deswegen sind nun, abgepasst zu seinem zwanzigsten Todestag, zwei Bücher erschienen. KiWi hat Rio Reisers Autobiografie „König von Deutschland“, die er 1994 zusammen mit Hannes Eyber, einem Ton-Steine-Scherben-Texter, verfasste, und die damals der Anlass für die Einladung in die NDR-Talkshow war, neu gedruckt. Und der Aufbau Verlag hat bei Gert Möbius, Reisers sieben Jahre älterem Bruder, Jahrgang 1943, ein Buch mit Erinnerungen in Auftrag gegeben: „Rio Reiser – Halt dich an deiner Liebe fest“. Welches Buch soll man lesen?
Beide, irgendwie. Beziehungsweise das eine (fast) ganz und das andere halb, ab der Mitte etwa. Denn es ist ja so: Rio Reiser hatte, nicht nur als Sänger, sondern auch gedruckt, einen ganz eigenen, schnoddrig selbstironischen, teils auch schwer schwülstigen Sound. Der Reiser-Sound, geprägt von Wut, Witz und der Rhythmik der Beatmusik, welche ihn als Kind – damals noch Ralph Christian Möbius – mitgerissen hatte. Außerdem: viel Jesus- und Karl-May-Begeisterung, viel Sehnsucht nach Romantik, viel Hang zur großen Tragik.
So ein Sound lässt sich schwer imitieren. Gert Möbius, der mit seinem Bruder oft an Theaterprojekten zusammenarbeitete und später Drehbücher für „Polizeiruf 110“ schrieb, kann diesen Sound nicht so gut imitieren – weswegen er in seinem Buch ausgiebig aus denselben autobiografischen Quellen zitiert, die „König von Deutschland“ ausmachen. Man erfährt so in beiden Büchern über weite Strecken dasselbe: von den vielen Onkels und Tanten der Familie Möbius, von Gerts elterlich verordneter Ausbildung zum Versicherungskaufmann bei der Hamburg-Mannheimer – man will das eigentlich nicht alles wissen. Wo nach welchem Konzert in welcher Psychokommune übernachtet wurde und wer in welchem Supermarkt Kaffee, Pudding und Zigaretten kaufte? Bei Rio Reiser liest sich das sprachlich zumindest ein bisschen unterhaltsamer.
So beschreibt Rio Reiser etwa, wie er „unter dem Einfluss von Haschisch, Kuchen und Nescafé an den Songs“ arbeitete, die 1971 auf die legendäre selbstvertriebene Ton-Steine-Scherben-Debüt-LP „Warum geht es mir so dreckig?“ kamen. „Komm, schlaf bei mir“, die mit Hochdruck geschmachtete Hymne für gleichberechtigte, mit allen Geschlechtern und Klassen solidarische Liebe, war da schon fertig, kam aber „natürlich“ doch nicht mit auf das Album: „Denn bei aller Liebe zu Diskussionen über Sexualität und Orgasmusstörungen: So was gehörte nicht auf eine ordentliche Agitprop-Rock-Platte, Schnaps is Schnaps und Dienst is Dienst.“
Solche Zeilen lesen sich toll. Auch wird in „König von Deutschland“ sehr deutlich, dass es trotz aller Vergötterung der Beatles und der Rolling Stones von Anfang an Rio Reisers eigentliches Ziel war, „progressiven deutschen Schlager“ zu machen. Mit diesem Wort kannte er keine Berührungsängste, was konnte er dafür, dass der meiste deutsche Schlager so dumm und unpolitisch war?
Das Dumme ist dann eben nur, dass die Autobiografie ausgerechnet in dem Moment abbricht, beziehungsweise grob lückenhaft wird, in dem Rio Reiser tatsächlich als progressiver deutscher Schlagersänger wahr- und ernst genommen wurde. Nämlich Mitte der Achtzigerjahre, nach dem Ende der Ton Steine Scherben, als zuvorderst Annette Humpe seine Solokarriere anschob und Songs wie „Junimond“ oder „König von Deutschland“ über das Majorlabel CBS tatsächlich zu größeren Hits wurden. Schämte sich die Linken-Ikone so für ihr Überlaufen zur „Industrie“, dass sie kein einziges Wort über ihren Erfolg schreiben wollte?
Es ist nicht das einzige Thema, das Rio Reiser komplett außen vor lässt. Der Name Claudia Roth wird in „König von Deutschland“ zum Beispiel kein einziges Mal erwähnt. Sie war zwischen 1982 und 1985 die Managerin der Ton Steine Scherben und manövrierte die Band einigermaßen aus ihren 300 000-Mark-Miesen. Reiser fühlte sich aber zunehmend unwohl damit, ständig für die Grünen eingespannt zu werden. Weswegen er Roth 1985 nahelegte, sich auf die vakante Stelle der Pressesprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion in Bonn zu bewerben. Auch war er pikiert darüber gewesen, wie sich nach einer Grünen-Wahlkampfveranstaltung in Frankfurt, bei der er aufgetreten war, Otto Schily und Joschka Fischer schnell „in ein besseres Frankfurter Lokal“ absetzten und ihn „allein beim spärlichen Catering“ zurückließen. „Rio rief mich am nächsten Tag an und meinte, er wolle nie wieder der Pausenclown für diese machtbesessenen Politiker sein“, schreibt Gert Möbius.
Ein Thema, das interessanterweise in beiden Büchern gar nicht vorkommt: Aids. An einem erwachsenen schwulen Mann in den Achtzigerjahren kann Aids unmöglich vorbeigegangen sein. Und es ging ja an Rio Reiser auch gar nicht vorbei: Als 1987 Peter Gauweiler, damals Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, als Reaktion auf die Aids-Krise das Bundesseuchengesetz anwenden wollte, mit Zwangstests und Absonderungen, kündigte Rio Reiser in der ZDF-Talkshow „Live“ an, dass er den Freistaat aus Protest nie wieder betreten wolle. Und als er 1992 wegen eines Alkohol-Zusammenbruchs in die Schlosspark-Klinik in Berlin-Charlottenburg gebracht wurde, hängte ihm die Bild-Zeitung eine Aids-Erkrankung an.
Gert Möbius erwähnt nur kurz, er sei im Besitz des Dokuments aus der Schlosspark-Klinik von 1992, das bestätigt: Rio war HIV-negativ. Sonst hat er zu dem Thema nichts zu sagen. Und Rio Reiser scheint in seiner Autobiografie irgendwie noch viel zu beschäftigt zu sein mit seiner eigenen Identitätsfindung als linker Schwuler in den Siebzigerjahren, um nun auch noch die Bedeutung dieses neuen Virus für den Kampf um Gleichstellung mitzureflektieren. „Schwulsein war bei der Linken nicht en vogue“, erinnert er sich – „hatte doch selbst Psycho-Vater Wilhelm Reich bei seinen Experimenten festgestellt, dass homosexuelle Paare beim Orgasmus im Orgon-Kasten angeblich weniger Orgon-Energie freisetzten als heterosexuelle Paare.“
Gert Möbius ist Familienvater, heterosexuell, zwei Töchter. Einerseits liest man aus vielen Passagen seines Buches eine gewisse Hilflosigkeit angesichts des Schwulseins seines jüngeren, häufig sehr unglücklich verliebten Bruders heraus, andererseits auch ein Bemühen, verständnisvoll und zuwendend zu reagieren. Vielleicht sollte man das loben. Aber es ist dann zumindest grob fahrlässig, wie Gert Möbius ganz am Ende noch unbedingt meint, die Geschichte von einer gewissen „Doris“ aus Berlin-Tempelhof auspacken zu müssen – einer jungen Frau, die sich angeblich einige Jahre nach Rio Reisers Tod meldete und behauptete, „viele Jahre die geheime Freundin meines Bruders“ gewesen zu sein. Beweise oder intensivere Recherche bleibt der Autor schuldig. Allein die Eventualität, dass diese Doris vielleicht doch nicht nur eine verwirrte und „sehr entschlossene Stalkerin“ war, sondern „tatsächlich etwas sehr Privates mit Rio“ gehabt haben könnte, begeistert ihn derart, dass er gleich danach – und zwar wirklich auf der allerletzten Seite des Buches – noch sämtliche Frauen auflistet, zu denen Rio Reiser in seinem 46 Jahre kurzen Leben ja „sehr gute Beziehungen“ hatte . . .
Fast wünschte man sich, Rio Reiser könnte das selbst noch geraderücken – und es wäre nicht einfach nur ein Witz, was er am Ende seiner Autobiografie schreibt: dass es in seinem Archiv noch viel mehr zu holen gibt als das, was bislang veröffentlicht ist, und dass deswegen „fünfzig Jahre nach meinem Tod, zur Frankfurter Buchmesse 2044“ noch weitere Memoiren erscheinen werden: „In Winnetous Garagen“, I-III. In denen soll, verspricht er, endgültig geklärt werden, „wer sie waren und was aus ihnen geworden ist“.
Gert Möbius: Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 351 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Rio Reiser, Hannes Eyber: König von Deutschland. Erinnerungen an Ton Steine Scherben und mehr. Kiwi, Köln 2016. 328 Seiten, 9,99 Euro.
Der Reiser-Sound ist geprägt
von Wut, Witz und der Rhythmik
der Beatmusik seiner Kindheit
Nie wieder den Pausenclown
machen für Politiker wie
Otto Schily oder Joschka Fischer!
Sehnsucht nach Romantik, Hang zur großen Tragik – Rio Reiser am 18. Januar 1987 bei einem Konzert in Offenbach.
Foto: Thomas Muncke/picture-alliance/dpa
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Im August 1996 starb der Agitprop-Rocker Rio Reiser. Zum 20. Todestag ist seine
Autobiografie wiederaufgelegt worden, dazu gibt es Erinnerungen seines Bruders Gert Möbius
VON JAN KEDVES
Wie lang sind zwanzig Jahre? Nun ja. Als Rio Reiser 1995 in der NDR-Talkshow zwischen anderen, ihm gütig zulächelnden sogenannten Showgrößen – Konstantin Wecker, Brigitte Mira – saß und natürlich den zum melancholischen Schlagersänger bekehrten Ex-Bürgerschreck geben sollte, fuhr er dem Moderator der Sendung, Hubertus Meyer-Burckhardt, entschieden über den Mund. Der versuchte nämlich, die Siebzigerjahre ein bisschen zu bespötteln, und meinte mit süffisantem Glucksen, tja, das sei doch „einfach ganz lange her“, oder nicht? Nö, erwiderte Reiser, „das ist nicht lange her, und es geht ja noch weiter so.“ Womit er natürlich meinte, dass für ihn die Frage, wie man solidarisch zusammenleben könne, ohne beim großen Dreckskapitalismus einfach so mitzumachen, noch lange nicht geklärt sei, und sich weigerte, das Kommunenleben, die Anarcho-Parolen, den Springer-Hass, seinen aus Acidrock und Agitprop zusammengebauten Agitrock, all das einfach mal so zur Jugendsünde wegzuschmunzeln. Anzusehen auf Youtube.
Ein Jahr später, am 20. August 1996, starb Rio Reiser an Kreislaufversagen, vermutlich im Zusammenhang mit einer Leberzirrhose. Das ist jetzt auch 20 Jahre her. Aber wenn in Berlin mal wieder Häuserkampf ist, wie gerade in der Rigaer Straße, werden immer noch die alten Hits der Ton Steine Scherben laut aufgedreht, „Keine Macht für Niemand“, der „Rauch-Haus-Song“. Das Georg-von-Rauch-Haus auf dem Kreuzberger Bethanien-Gelände, zu dessen Besetzung Rio Reiser 1971 bei einem Konzert in der Mensa der Berliner TU aufgerufen hatte, gibt es als selbstverwaltetes Jugendzentrum bis heute. Und wenn der linkshedonistische Golden Pudel Club in Hamburg, wie vor zwei Wochen geschehen, in einer Pressemitteilung die Rettung seines Grundstücks aus den Fängen der Gentrifizierungs-Spekulanten, hinein in den Hafen der schönen Gemeinnützigkeit feiert, wird auch wieder aus dem Rauch-Haus-Song zitiert: „Das ist unser Haus!“ Keine Frage, Rio lebt.
Deswegen sind nun, abgepasst zu seinem zwanzigsten Todestag, zwei Bücher erschienen. KiWi hat Rio Reisers Autobiografie „König von Deutschland“, die er 1994 zusammen mit Hannes Eyber, einem Ton-Steine-Scherben-Texter, verfasste, und die damals der Anlass für die Einladung in die NDR-Talkshow war, neu gedruckt. Und der Aufbau Verlag hat bei Gert Möbius, Reisers sieben Jahre älterem Bruder, Jahrgang 1943, ein Buch mit Erinnerungen in Auftrag gegeben: „Rio Reiser – Halt dich an deiner Liebe fest“. Welches Buch soll man lesen?
Beide, irgendwie. Beziehungsweise das eine (fast) ganz und das andere halb, ab der Mitte etwa. Denn es ist ja so: Rio Reiser hatte, nicht nur als Sänger, sondern auch gedruckt, einen ganz eigenen, schnoddrig selbstironischen, teils auch schwer schwülstigen Sound. Der Reiser-Sound, geprägt von Wut, Witz und der Rhythmik der Beatmusik, welche ihn als Kind – damals noch Ralph Christian Möbius – mitgerissen hatte. Außerdem: viel Jesus- und Karl-May-Begeisterung, viel Sehnsucht nach Romantik, viel Hang zur großen Tragik.
So ein Sound lässt sich schwer imitieren. Gert Möbius, der mit seinem Bruder oft an Theaterprojekten zusammenarbeitete und später Drehbücher für „Polizeiruf 110“ schrieb, kann diesen Sound nicht so gut imitieren – weswegen er in seinem Buch ausgiebig aus denselben autobiografischen Quellen zitiert, die „König von Deutschland“ ausmachen. Man erfährt so in beiden Büchern über weite Strecken dasselbe: von den vielen Onkels und Tanten der Familie Möbius, von Gerts elterlich verordneter Ausbildung zum Versicherungskaufmann bei der Hamburg-Mannheimer – man will das eigentlich nicht alles wissen. Wo nach welchem Konzert in welcher Psychokommune übernachtet wurde und wer in welchem Supermarkt Kaffee, Pudding und Zigaretten kaufte? Bei Rio Reiser liest sich das sprachlich zumindest ein bisschen unterhaltsamer.
So beschreibt Rio Reiser etwa, wie er „unter dem Einfluss von Haschisch, Kuchen und Nescafé an den Songs“ arbeitete, die 1971 auf die legendäre selbstvertriebene Ton-Steine-Scherben-Debüt-LP „Warum geht es mir so dreckig?“ kamen. „Komm, schlaf bei mir“, die mit Hochdruck geschmachtete Hymne für gleichberechtigte, mit allen Geschlechtern und Klassen solidarische Liebe, war da schon fertig, kam aber „natürlich“ doch nicht mit auf das Album: „Denn bei aller Liebe zu Diskussionen über Sexualität und Orgasmusstörungen: So was gehörte nicht auf eine ordentliche Agitprop-Rock-Platte, Schnaps is Schnaps und Dienst is Dienst.“
Solche Zeilen lesen sich toll. Auch wird in „König von Deutschland“ sehr deutlich, dass es trotz aller Vergötterung der Beatles und der Rolling Stones von Anfang an Rio Reisers eigentliches Ziel war, „progressiven deutschen Schlager“ zu machen. Mit diesem Wort kannte er keine Berührungsängste, was konnte er dafür, dass der meiste deutsche Schlager so dumm und unpolitisch war?
Das Dumme ist dann eben nur, dass die Autobiografie ausgerechnet in dem Moment abbricht, beziehungsweise grob lückenhaft wird, in dem Rio Reiser tatsächlich als progressiver deutscher Schlagersänger wahr- und ernst genommen wurde. Nämlich Mitte der Achtzigerjahre, nach dem Ende der Ton Steine Scherben, als zuvorderst Annette Humpe seine Solokarriere anschob und Songs wie „Junimond“ oder „König von Deutschland“ über das Majorlabel CBS tatsächlich zu größeren Hits wurden. Schämte sich die Linken-Ikone so für ihr Überlaufen zur „Industrie“, dass sie kein einziges Wort über ihren Erfolg schreiben wollte?
Es ist nicht das einzige Thema, das Rio Reiser komplett außen vor lässt. Der Name Claudia Roth wird in „König von Deutschland“ zum Beispiel kein einziges Mal erwähnt. Sie war zwischen 1982 und 1985 die Managerin der Ton Steine Scherben und manövrierte die Band einigermaßen aus ihren 300 000-Mark-Miesen. Reiser fühlte sich aber zunehmend unwohl damit, ständig für die Grünen eingespannt zu werden. Weswegen er Roth 1985 nahelegte, sich auf die vakante Stelle der Pressesprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion in Bonn zu bewerben. Auch war er pikiert darüber gewesen, wie sich nach einer Grünen-Wahlkampfveranstaltung in Frankfurt, bei der er aufgetreten war, Otto Schily und Joschka Fischer schnell „in ein besseres Frankfurter Lokal“ absetzten und ihn „allein beim spärlichen Catering“ zurückließen. „Rio rief mich am nächsten Tag an und meinte, er wolle nie wieder der Pausenclown für diese machtbesessenen Politiker sein“, schreibt Gert Möbius.
Ein Thema, das interessanterweise in beiden Büchern gar nicht vorkommt: Aids. An einem erwachsenen schwulen Mann in den Achtzigerjahren kann Aids unmöglich vorbeigegangen sein. Und es ging ja an Rio Reiser auch gar nicht vorbei: Als 1987 Peter Gauweiler, damals Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, als Reaktion auf die Aids-Krise das Bundesseuchengesetz anwenden wollte, mit Zwangstests und Absonderungen, kündigte Rio Reiser in der ZDF-Talkshow „Live“ an, dass er den Freistaat aus Protest nie wieder betreten wolle. Und als er 1992 wegen eines Alkohol-Zusammenbruchs in die Schlosspark-Klinik in Berlin-Charlottenburg gebracht wurde, hängte ihm die Bild-Zeitung eine Aids-Erkrankung an.
Gert Möbius erwähnt nur kurz, er sei im Besitz des Dokuments aus der Schlosspark-Klinik von 1992, das bestätigt: Rio war HIV-negativ. Sonst hat er zu dem Thema nichts zu sagen. Und Rio Reiser scheint in seiner Autobiografie irgendwie noch viel zu beschäftigt zu sein mit seiner eigenen Identitätsfindung als linker Schwuler in den Siebzigerjahren, um nun auch noch die Bedeutung dieses neuen Virus für den Kampf um Gleichstellung mitzureflektieren. „Schwulsein war bei der Linken nicht en vogue“, erinnert er sich – „hatte doch selbst Psycho-Vater Wilhelm Reich bei seinen Experimenten festgestellt, dass homosexuelle Paare beim Orgasmus im Orgon-Kasten angeblich weniger Orgon-Energie freisetzten als heterosexuelle Paare.“
Gert Möbius ist Familienvater, heterosexuell, zwei Töchter. Einerseits liest man aus vielen Passagen seines Buches eine gewisse Hilflosigkeit angesichts des Schwulseins seines jüngeren, häufig sehr unglücklich verliebten Bruders heraus, andererseits auch ein Bemühen, verständnisvoll und zuwendend zu reagieren. Vielleicht sollte man das loben. Aber es ist dann zumindest grob fahrlässig, wie Gert Möbius ganz am Ende noch unbedingt meint, die Geschichte von einer gewissen „Doris“ aus Berlin-Tempelhof auspacken zu müssen – einer jungen Frau, die sich angeblich einige Jahre nach Rio Reisers Tod meldete und behauptete, „viele Jahre die geheime Freundin meines Bruders“ gewesen zu sein. Beweise oder intensivere Recherche bleibt der Autor schuldig. Allein die Eventualität, dass diese Doris vielleicht doch nicht nur eine verwirrte und „sehr entschlossene Stalkerin“ war, sondern „tatsächlich etwas sehr Privates mit Rio“ gehabt haben könnte, begeistert ihn derart, dass er gleich danach – und zwar wirklich auf der allerletzten Seite des Buches – noch sämtliche Frauen auflistet, zu denen Rio Reiser in seinem 46 Jahre kurzen Leben ja „sehr gute Beziehungen“ hatte . . .
Fast wünschte man sich, Rio Reiser könnte das selbst noch geraderücken – und es wäre nicht einfach nur ein Witz, was er am Ende seiner Autobiografie schreibt: dass es in seinem Archiv noch viel mehr zu holen gibt als das, was bislang veröffentlicht ist, und dass deswegen „fünfzig Jahre nach meinem Tod, zur Frankfurter Buchmesse 2044“ noch weitere Memoiren erscheinen werden: „In Winnetous Garagen“, I-III. In denen soll, verspricht er, endgültig geklärt werden, „wer sie waren und was aus ihnen geworden ist“.
Gert Möbius: Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser. Aufbau Verlag, Berlin 2016. 351 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Rio Reiser, Hannes Eyber: König von Deutschland. Erinnerungen an Ton Steine Scherben und mehr. Kiwi, Köln 2016. 328 Seiten, 9,99 Euro.
Der Reiser-Sound ist geprägt
von Wut, Witz und der Rhythmik
der Beatmusik seiner Kindheit
Nie wieder den Pausenclown
machen für Politiker wie
Otto Schily oder Joschka Fischer!
Sehnsucht nach Romantik, Hang zur großen Tragik – Rio Reiser am 18. Januar 1987 bei einem Konzert in Offenbach.
Foto: Thomas Muncke/picture-alliance/dpa
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