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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Michael Stavaric liest im Frankfurter Hauptbahnhof
Die Großmutter greift mit beiden Händen in den Bottich und zieht einen dicken Karpfen heraus. Mit einem Messer schneidet sie ihn der Länge nach auf. Michael, vielleicht fünf Jahre alt, sieht, wie das Blut in den Schnee tropft, wie der tote Karpfen in der kalten Winternacht dampft.
Später stirbt die Großmutter. Mit seiner Familie zieht Michael Stavaric aus der Tschechoslowakei in die niederösterreichische Provinz. Nach der Schule geht er nach Wien, studiert die tschechische Sprache und Literatur. Er wird Sekretär des tschechischen Botschafters und Lehrbeauftragter an der Sportuniversität Wien - für Inlineskating. Stavaric schreibt Kinderbücher, Essays, Gedichte. Und längere Bücher, die er bewusst nicht Romane nennt, weil sie, wie er sagt, mit der epischen Breite klassischer Romane nichts zu tun hätten. Vielleicht nenne man sie besser "literarische Wühlkisten".
Das erzählt Michael Stavaric an diesem kalten Januarmorgen, dem ersten Sonntag des Jahres. Er sitzt im Restaurant "Cosmopolitan" auf der Empore des Frankfurter Hauptbahnhofs. Der Träger des Adelbert-von-Chamisso-Preises, dessen Biographie klingt, als habe er sie sich von einer seiner skurrilen Figuren geliehen, liest in der Reihe "LiteraturLounge" aus seinem neuen Werk: "Königreich der Schatten" erzählt von Familiengeheimnissen, dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und dem Töten. Die zwei Protagonisten stammen aus Metzgerfamilien, und beide wollen ebenfalls Fleischer werden.
Das gemeinsame Fangen und Schlachten des Weihnachtskarpfens mit seiner Großmutter vor 36 Jahren - das sei das Ausgangsmoment für sein Buch gewesen, sagt Stavaric. Diese Sehnsucht, die man auch Nostalgie nennen kann, taucht an vielen Stellen im Buch auf. Ob er beim Schreiben nicht immer auf der Suche nach dem Archaischen sei, fragt Martin Maria Schwarz von hr2-kultur, der die Matinee moderiert. "In der Tat, ich schreibe lieber über Hutmacher als über Physiker. Mich interessieren Figuren, die aus der Zeit gefallen sind", sagt Stavaric. Rosi, eine der Protagonisten dieser "Hommage an alte Zeiten" (Stavaric), erhält eine Ausbildung im ehrwürdigen Zunfthandwerk des Fleischhauers, das noch nicht in Metzger und industriellen Schlachter ausdifferenziert ist.
Den Beruf lieben lernt Rosi auf der Internationalen Fleischereifachmesse in Leipzig, einem Ort, an dem mongolische Säbelkünstler auf Anbieter von blutabweisenden Schlachtermatten treffen. Stavaric gibt unumwunden zu: Dieses schrille Panorama ist eine Parodie auf die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Auf dem "blutroten Sofa" streiten ein argentinischer Rinderbaron und ein Wissenschaftler, ob man Fleisch in Gewächshäusern anpflanzen sollte, an einem Stand werden auf Tierhäute gedruckte Schundromane feilgeboten - für Stavaric eine Metapher für das "Besucherwuseln" auf der Buchmesse, die Sensationsgier der Aussteller und für manch schlechten Moderator, der Autoren nur vorführen wolle.
Seine Beschreibungen werden oft zur Groteske. "Spannend ist: Was nimmt mir der Leser ab?" Irritationen und Brüche interessierten ihn mehr als ein roter Faden. Auch als er im Buch vom Zweiten Weltkrieg erzählt, überlässt er die Deutungshoheit dem Leser. Etwa bei der Frage, wie nahe das Töten von Tieren und jenes von Menschen beieinanderliegen.
Die enge Verbindung von Literaturbetrieb und Metzgerhandwerk scheint Stavaric indes in Fleisch und Blut übergegangen zu sein: Als er von einer traditionsreichen Fleischerei in seiner Heimatstadt Wien schwärmt, verspricht er sich und nennt sie stattdessen: Buchhandlung.
ljag.
Bei der nächsten LiteraturLounge am Sonntag, 2. Februar, liest Otto de Kat von 11 Uhr an im Restaurant "Cosmopolitan" auf der Empore des Frankfurter Hauptbahnhofs. Sein Werk "Eine Tochter in Berlin" erzählt eine Diplomatengeschichte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Eintritt ist frei.
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Tomas Gärtner, Dresdener Neueste Nachrichten, 23. März 2017