Nach Unterwelt, dem großen politischen Roman, hat Don DeLillo in Körperzeit die intimsten und elementarsten zwischenmenschlichen Regungen genau beobachtet und unter die Haut gehend dargestellt. Ein neues Meisterwerk des großen amerikanischen Autors. Ein Mann und eine Frau, der Filmregisseur Rey und die Konzeptkünstlerin Lauren, sitzen sich beim Frühstück in einem Haus gegenüber. Jede alltägliche Bemerkung, jede kleine Bewegung wird registriert. Es ist der Terror eines normalen Tages, der Wahnsinn der Routine. An diese Routine, aber auch an die Nähe und die Entfremdung erinnert sich Lauren, nachdem ihr Mann sich umgebracht hat. Immer wieder hört sie ihre gemeinsamen, auf Band aufgenommenen Gespräche ab, die Protokolle dieser verstörenden Liebe. Ihre Einsamkeit teilt sie nun mit dem geheimnisvollen Mr. Tuttle, einem irren kleinen Mann, den sie schon vor Reys Tod durch das Haus hat geistern hören. Er wird zum Spiegel und zum Echo ihrer Gespräche und ihres Lebens mit Rey. it erbarmungsloser Selbstdisziplin entwickelt Lauren die Choreografie eines Stücks, in das ihre Erinnerungen und die Gespräche mit den beiden Männern, ihre tiefe Einsamkeit eingehen. Allein stellt sie auf der Bühne in Körperzeit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in verschiedenen stummen Rollen dar und wächst bei der Aufführung über ihre Erfahrungen hinaus. Körperzeit ist ein stilistisch prägnanter und intensiver Roman, der Don DeLillo von einer völlig neuen Seite zeigt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Ich bin Laura. Aber immer weniger
In der Innenwelt der Trauer: Don DeLillo erkundet die "Körperzeit" / Von Verena Lueken
Es heißt, daß eine Welt zusammenbricht beim Tod des geliebten Menschen. Oder daß man den Boden unter den Füßen verliert. Oder daß die Zeit stillsteht. Der Wirklichkeit kommt das Gerüst abhanden. Die Gewißheit, daß es ein Vorher und ein Nachher gibt, ein Hier und ein Dort, versinkt in Leere. Die Welt geht in uns verloren. Das ist es, was mit Laura geschieht, nachdem ihr Mann Rey sich getötet hat. Eigentlich wollte er nur Scheuermittel kaufen, doch dann fuhr er den ganzen Weg nach New York, ging in die Wohnung seiner ersten Frau und erschoß sich.
Laura, seine zweite Frau, geht zurück in das Haus auf einem einsamen Ödstreifen an der neuenglischen Küste, in dem sie mit Rey einige Monate gelebt hatte. Der Mietvertrag gilt für sechs Monate, zwei sind noch übrig. In einem ungenutzten Zimmer unterm Dach findet sie einen Mann, der in Stimmen spricht, vornehmlich in Reys und ihrer eigenen. Sie nennt den Findling Mr. Tuttle, und sie unterläßt alles, um herauszufinden, wer er sei. Was ihr in seiner Gegenwart widerfährt, ist eine Art Gespenstergeschichte, am Anfang manchmal noch komisch, zum Ende hin zunehmend verstörend, beobachtet von einem Spezialisten für Bewußtseinsströme, erzählt von einem poetischen Pessimisten, der mit Sprache alles machen kann.
Der ihren Klang liebt und ihre Dynamik, wenn die richtigen Wörter aufeinandertreffen, der aber auch, wie Beckett oder Gertrude Stein, ihr manchmal jede Bedeutung austreibt und uns dennoch in die Lektüre fesselt, fasziniert von der Bewegung der Wörter, die uns mitunter verführt, zu schnell zu lesen. Weil wir erwarten, daß sie auf ein Ereignis zufließen. Weil wir nicht glauben wollen, daß auch die Sprache die Welt nicht mehr trägt.
Es war schwer vorstellbar, was für ein Buch Don DeLillo nach "Unterwelt" schreiben könnte, dieser tausendseitigen nomadischen Grabungsreise durch die verdrängte Geschichte Amerikas im Kalten Krieg, die vor vier Jahren herausgekommen war. "Körperzeit" ist vielleicht die klügste, möglicherweise die einzige Antwort: ein Roman von provozierender Kürze, der sich ganz auf eine Figur konzentriert. Er wird geübte DeLillo-Leser verblüffen, weil er keine Politik enthält und keine Verschwörungen, keine Bombe und keine Werbung, kein Fernsehen, keinen Sport. Immerhin schaut Laura nachts oft im Internet auf eine Straßenkreuzung in Kotka, Finnland, auf die eine bewegungslose Webkamera gerichtet ist. Manchmal taucht ein Auto aus der Nacht auf oder auch nicht.
Doch es gibt, wie fast immer bei DeLillo, eine grandiose Eröffnung. Sie ist im Verhältnis zum Umfang des Buchs - nach ihr ist ein knappes Viertel des Romans bereits vorbei - länger noch als das Baseballspiel, mit dem "Unterwelt" beginnt, und sie ist, wiewohl nur für zwei Personen geschrieben, nicht weniger kunstvoll komponiert. Laura und Rey frühstücken. Sie leben noch nicht lange zusammen, und so ist dies eine erst kürzlich erworbene Routine zwischen ihnen mit einigen Hängern und Stoppern, die gerade zum Teil ihrer Gewohnheiten werden.
Außerhalb von Laura und Rey gibt es keine Welt, die Zeitung, die sie sich teilen, ist viele Tage alt, und wir erfahren nicht, was sie da lesen, nur, daß Laura über den Geschichten aus der Zeitung manchmal in Tagträume fällt, über die wir ebenfalls nichts wissen. Weil es einmal heißt "an diesem letzten Morgen" wird jede banale Einzelheit so bedeutungsvoll, daß DeLillo die Anstrengung unternimmt, sie mit phantastischen Wortkombinationen zu beschreiben.
Zum Beispiel das Schauspiel, wenn Rey gedankenverloren und viel länger als nötig den Orangensaftkarton schüttelt, dreht und wendet, "weil es irgendwie dumpf und harmlos befriedigend war, ein kindischer Selbstzweck, das Rumpeln und Plätschern und Papporangenaroma". Im Original heißen diese letzten Wörter des Absatzes "bounce and slosh and cardboard orange aroma", und sie klingen, als habe DeLillo vor allem um ihretwillen diese Szene geschrieben.
Frank Heibert ist für Autoren, deren Sprache in solchen Erfindungen lebt, ein zuverlässiger und phantasievoller Übersetzer. "Körperzeit" ist ein Buch voller Doppelgänger- und Geistermotive, die bis in einzelne Silben kriechen, aus denen das Echo von schon einmal Gesagtem klingt in Sätzen, aus denen jeder Sinn verschwunden scheint. Die Sprache befreit sich von den gewohnten Metren zeitlicher Abfolgen, und die ekstatische Absurdität, die daraus folgt, hat Heibert auch im Deutschen aufgespürt. Um DeLillos Bücher muß man sich bei ihm keine Sorgen machen. Einzig die "Performancekünstlerin" für "Body Artist" - das ist der Originaltitel von "Körperzeit" und Lauras Berufsbezeichnung - scheint nicht zwingend. Es hätte schon die Körperkünstlerin sein können, die im Deutschen auch nicht ungewöhnlicher ist als im Englischen und ein ganzes Stück rätselhafter und zugleich präziser. Lauras Kunst ist die Verwandlung. Sie kann auf der Bühne eine alte Japanerin sein oder ein sprachgestörter Mann. Sie kann jeder werden, weil es ihr durch eine Trainingsroutine, die Rey einmal totalitär genannt hat, gelingt, den eigenen Körper abzuschütteln. Sie macht mit ihm, was DeLillo mit der Sprache tut, sie biegt ihn und streckt ihn, und sie schrubbt ihn blank von allen Resten vergangener Zeit, bürstet Talgkügelchen und tote Zellen aus den Poren, rubbelt Schuppen aus den Beugen, reißt Haare und Härchen heraus, bleicht die Pigmente, bis ihre Haut eine leere Fläche ist, bereit aufzunehmen, was hier ist und jetzt, unberührt vom Fluß der Zeit.
"Körperzeit" ist ein Buch über die Trauer, doch kein psychologischer Roman. Jenseits des wenigen, das geschieht, erfahren wir über Laura und ihren seltsamen Gast nichts. Rey, so informiert uns ein Nachruf, war vierundsechzig, ein Filmemacher mit einer Vorliebe für "Menschen in Landschaften der Entfremdung". Aber Rey ist ja tot und kommt im Folgenden nur in seiner imitierten Stimme mit Äußerungen ohne Kontext zu Wort, die von jeder Verbindung zu einer Situation, in der sie ursprünglich einmal gesagt wurden, abgeschnitten sind. DeLillo rekonstruiert eine Gefühlswelt voller absurder Gleichzeitigkeiten, einen fließenden Zustand, in dem die Trauer die Grenzen zersetzt, die Grenzen des eigenen Ichs, die Grenzen zwischen den Zeiten, die Grenzen des Körpers, die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten der Gegenwart, des Traums und der Erinnerung, die sich zu überlappen beginnen. "Ich bin Laura. Aber immer weniger." Da ist das Buch fast zu Ende.
Wir definieren uns in der Zeit. In "Körperzeit" lesen wir, was passiert, wenn das nicht mehr möglich ist und wenn die Zeit ihre erzählerische Qualität verliert. DeLillo beschreibt nicht die Ereignisse, sondern wie sie in das Bewußtsein hineingleiten, manchmal fallen, mal mit großer Leichtigkeit, so daß sie kaum registriert werden, andere Male mit voller Wucht, unter der der Körper zusammensackt, und wie sie dort auf Fragmente von Erinnertem treffen oder auf Bruchstücke von gleichzeitigen Eindrücken. Laura reagiert darauf mit dem Versuch, wenigstens in ihrer Kunst die Zeit stillstehen zu lassen, sie zu strecken, zu öffnen, "ein Stilleben herzustellen, das lebt". Man möchte sich das auf einer Bühne nicht wirklich vorstellen, von DeLillo beschrieben aber hat es eine überwältigende Logik.
Zwar als Roman ausgewiesen, ist "Körperzeit" im strengen Sinn eine Novelle, die von einem merkwürdigen und unerhörten Ereignis erzählt, dem etwas Unheimliches anhaftet, für das es auch am Ende keine Erklärung gibt. Es stellen sich Korrespondenzen her, wo man sie nicht erwarten kann, zwischen den Geräuschen, die Rey und Laura in den Wänden des alten Hauses hören und die klingen, als würde jemand an dem Hohlraum hinter ihnen herumraspeln, und den Bewegungen von Mr. Tuttle, die abrupt und eckig sind, aber gleichzeitig vorsichtig, als sei die Luft voller unsichtbarer Senken und Hindernisse. Immer wieder stellen einzelne Sätze den ihnen vorangegangenen in Frage, bis sich jede Bedeutung verflüchtigt hat: Ob er sie verstanden habe, fragt Laura den Findling. "Er machte eine Handbewegung, die auszudrücken schien, daß sie nichts weiter sagen mußte. Natürlich verstand er. Aber vielleicht auch nicht." Mr. Tuttle kennt den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht und auch nicht den zwischen sich und anderen. "Er erinnert sich an die Zukunft."
Er tut alles als ob, denkt Laura einmal, und so erfahren wir nie, wer er eigentlich ist. Die Erscheinung von Mr. Tuttle ist unvermeidlich. Damit lebt Laura, und damit muß sich auch der Leser zufriedengeben. Nur einmal macht er uns glücklich. "Das Wort für Mondschein ist Mondschein", sagt er, und obwohl auch dies nur die Wiederholung eines Satzes von Laura ist, steht er wie ein Fels, wo alle anderen Sicherheiten zerschmolzen sind.
Don DeLillo: "Körperzeit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 140 S., geb., 29,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Innenwelt der Trauer: Don DeLillo erkundet die "Körperzeit" / Von Verena Lueken
Es heißt, daß eine Welt zusammenbricht beim Tod des geliebten Menschen. Oder daß man den Boden unter den Füßen verliert. Oder daß die Zeit stillsteht. Der Wirklichkeit kommt das Gerüst abhanden. Die Gewißheit, daß es ein Vorher und ein Nachher gibt, ein Hier und ein Dort, versinkt in Leere. Die Welt geht in uns verloren. Das ist es, was mit Laura geschieht, nachdem ihr Mann Rey sich getötet hat. Eigentlich wollte er nur Scheuermittel kaufen, doch dann fuhr er den ganzen Weg nach New York, ging in die Wohnung seiner ersten Frau und erschoß sich.
Laura, seine zweite Frau, geht zurück in das Haus auf einem einsamen Ödstreifen an der neuenglischen Küste, in dem sie mit Rey einige Monate gelebt hatte. Der Mietvertrag gilt für sechs Monate, zwei sind noch übrig. In einem ungenutzten Zimmer unterm Dach findet sie einen Mann, der in Stimmen spricht, vornehmlich in Reys und ihrer eigenen. Sie nennt den Findling Mr. Tuttle, und sie unterläßt alles, um herauszufinden, wer er sei. Was ihr in seiner Gegenwart widerfährt, ist eine Art Gespenstergeschichte, am Anfang manchmal noch komisch, zum Ende hin zunehmend verstörend, beobachtet von einem Spezialisten für Bewußtseinsströme, erzählt von einem poetischen Pessimisten, der mit Sprache alles machen kann.
Der ihren Klang liebt und ihre Dynamik, wenn die richtigen Wörter aufeinandertreffen, der aber auch, wie Beckett oder Gertrude Stein, ihr manchmal jede Bedeutung austreibt und uns dennoch in die Lektüre fesselt, fasziniert von der Bewegung der Wörter, die uns mitunter verführt, zu schnell zu lesen. Weil wir erwarten, daß sie auf ein Ereignis zufließen. Weil wir nicht glauben wollen, daß auch die Sprache die Welt nicht mehr trägt.
Es war schwer vorstellbar, was für ein Buch Don DeLillo nach "Unterwelt" schreiben könnte, dieser tausendseitigen nomadischen Grabungsreise durch die verdrängte Geschichte Amerikas im Kalten Krieg, die vor vier Jahren herausgekommen war. "Körperzeit" ist vielleicht die klügste, möglicherweise die einzige Antwort: ein Roman von provozierender Kürze, der sich ganz auf eine Figur konzentriert. Er wird geübte DeLillo-Leser verblüffen, weil er keine Politik enthält und keine Verschwörungen, keine Bombe und keine Werbung, kein Fernsehen, keinen Sport. Immerhin schaut Laura nachts oft im Internet auf eine Straßenkreuzung in Kotka, Finnland, auf die eine bewegungslose Webkamera gerichtet ist. Manchmal taucht ein Auto aus der Nacht auf oder auch nicht.
Doch es gibt, wie fast immer bei DeLillo, eine grandiose Eröffnung. Sie ist im Verhältnis zum Umfang des Buchs - nach ihr ist ein knappes Viertel des Romans bereits vorbei - länger noch als das Baseballspiel, mit dem "Unterwelt" beginnt, und sie ist, wiewohl nur für zwei Personen geschrieben, nicht weniger kunstvoll komponiert. Laura und Rey frühstücken. Sie leben noch nicht lange zusammen, und so ist dies eine erst kürzlich erworbene Routine zwischen ihnen mit einigen Hängern und Stoppern, die gerade zum Teil ihrer Gewohnheiten werden.
Außerhalb von Laura und Rey gibt es keine Welt, die Zeitung, die sie sich teilen, ist viele Tage alt, und wir erfahren nicht, was sie da lesen, nur, daß Laura über den Geschichten aus der Zeitung manchmal in Tagträume fällt, über die wir ebenfalls nichts wissen. Weil es einmal heißt "an diesem letzten Morgen" wird jede banale Einzelheit so bedeutungsvoll, daß DeLillo die Anstrengung unternimmt, sie mit phantastischen Wortkombinationen zu beschreiben.
Zum Beispiel das Schauspiel, wenn Rey gedankenverloren und viel länger als nötig den Orangensaftkarton schüttelt, dreht und wendet, "weil es irgendwie dumpf und harmlos befriedigend war, ein kindischer Selbstzweck, das Rumpeln und Plätschern und Papporangenaroma". Im Original heißen diese letzten Wörter des Absatzes "bounce and slosh and cardboard orange aroma", und sie klingen, als habe DeLillo vor allem um ihretwillen diese Szene geschrieben.
Frank Heibert ist für Autoren, deren Sprache in solchen Erfindungen lebt, ein zuverlässiger und phantasievoller Übersetzer. "Körperzeit" ist ein Buch voller Doppelgänger- und Geistermotive, die bis in einzelne Silben kriechen, aus denen das Echo von schon einmal Gesagtem klingt in Sätzen, aus denen jeder Sinn verschwunden scheint. Die Sprache befreit sich von den gewohnten Metren zeitlicher Abfolgen, und die ekstatische Absurdität, die daraus folgt, hat Heibert auch im Deutschen aufgespürt. Um DeLillos Bücher muß man sich bei ihm keine Sorgen machen. Einzig die "Performancekünstlerin" für "Body Artist" - das ist der Originaltitel von "Körperzeit" und Lauras Berufsbezeichnung - scheint nicht zwingend. Es hätte schon die Körperkünstlerin sein können, die im Deutschen auch nicht ungewöhnlicher ist als im Englischen und ein ganzes Stück rätselhafter und zugleich präziser. Lauras Kunst ist die Verwandlung. Sie kann auf der Bühne eine alte Japanerin sein oder ein sprachgestörter Mann. Sie kann jeder werden, weil es ihr durch eine Trainingsroutine, die Rey einmal totalitär genannt hat, gelingt, den eigenen Körper abzuschütteln. Sie macht mit ihm, was DeLillo mit der Sprache tut, sie biegt ihn und streckt ihn, und sie schrubbt ihn blank von allen Resten vergangener Zeit, bürstet Talgkügelchen und tote Zellen aus den Poren, rubbelt Schuppen aus den Beugen, reißt Haare und Härchen heraus, bleicht die Pigmente, bis ihre Haut eine leere Fläche ist, bereit aufzunehmen, was hier ist und jetzt, unberührt vom Fluß der Zeit.
"Körperzeit" ist ein Buch über die Trauer, doch kein psychologischer Roman. Jenseits des wenigen, das geschieht, erfahren wir über Laura und ihren seltsamen Gast nichts. Rey, so informiert uns ein Nachruf, war vierundsechzig, ein Filmemacher mit einer Vorliebe für "Menschen in Landschaften der Entfremdung". Aber Rey ist ja tot und kommt im Folgenden nur in seiner imitierten Stimme mit Äußerungen ohne Kontext zu Wort, die von jeder Verbindung zu einer Situation, in der sie ursprünglich einmal gesagt wurden, abgeschnitten sind. DeLillo rekonstruiert eine Gefühlswelt voller absurder Gleichzeitigkeiten, einen fließenden Zustand, in dem die Trauer die Grenzen zersetzt, die Grenzen des eigenen Ichs, die Grenzen zwischen den Zeiten, die Grenzen des Körpers, die Grenzen zwischen den Wirklichkeiten der Gegenwart, des Traums und der Erinnerung, die sich zu überlappen beginnen. "Ich bin Laura. Aber immer weniger." Da ist das Buch fast zu Ende.
Wir definieren uns in der Zeit. In "Körperzeit" lesen wir, was passiert, wenn das nicht mehr möglich ist und wenn die Zeit ihre erzählerische Qualität verliert. DeLillo beschreibt nicht die Ereignisse, sondern wie sie in das Bewußtsein hineingleiten, manchmal fallen, mal mit großer Leichtigkeit, so daß sie kaum registriert werden, andere Male mit voller Wucht, unter der der Körper zusammensackt, und wie sie dort auf Fragmente von Erinnertem treffen oder auf Bruchstücke von gleichzeitigen Eindrücken. Laura reagiert darauf mit dem Versuch, wenigstens in ihrer Kunst die Zeit stillstehen zu lassen, sie zu strecken, zu öffnen, "ein Stilleben herzustellen, das lebt". Man möchte sich das auf einer Bühne nicht wirklich vorstellen, von DeLillo beschrieben aber hat es eine überwältigende Logik.
Zwar als Roman ausgewiesen, ist "Körperzeit" im strengen Sinn eine Novelle, die von einem merkwürdigen und unerhörten Ereignis erzählt, dem etwas Unheimliches anhaftet, für das es auch am Ende keine Erklärung gibt. Es stellen sich Korrespondenzen her, wo man sie nicht erwarten kann, zwischen den Geräuschen, die Rey und Laura in den Wänden des alten Hauses hören und die klingen, als würde jemand an dem Hohlraum hinter ihnen herumraspeln, und den Bewegungen von Mr. Tuttle, die abrupt und eckig sind, aber gleichzeitig vorsichtig, als sei die Luft voller unsichtbarer Senken und Hindernisse. Immer wieder stellen einzelne Sätze den ihnen vorangegangenen in Frage, bis sich jede Bedeutung verflüchtigt hat: Ob er sie verstanden habe, fragt Laura den Findling. "Er machte eine Handbewegung, die auszudrücken schien, daß sie nichts weiter sagen mußte. Natürlich verstand er. Aber vielleicht auch nicht." Mr. Tuttle kennt den Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht und auch nicht den zwischen sich und anderen. "Er erinnert sich an die Zukunft."
Er tut alles als ob, denkt Laura einmal, und so erfahren wir nie, wer er eigentlich ist. Die Erscheinung von Mr. Tuttle ist unvermeidlich. Damit lebt Laura, und damit muß sich auch der Leser zufriedengeben. Nur einmal macht er uns glücklich. "Das Wort für Mondschein ist Mondschein", sagt er, und obwohl auch dies nur die Wiederholung eines Satzes von Laura ist, steht er wie ein Fels, wo alle anderen Sicherheiten zerschmolzen sind.
Don DeLillo: "Körperzeit". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001. 140 S., geb., 29,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Damit wir es uns merken, sagt es der Rezensent gleich zweimal: Don DeLillo hat sich überboten. Von Rezensent Martin Lüdke indessen möchte man das nicht unbedingt behaupten. Zwar gelingt es ihm, uns den Brennglaseffekt der allenthalben zitierten und gelobten Frühstücksszene des Romans zu demonstrieren. Auf welche Weise genau es dem Autor jedoch gelingt, "den ungeheuerlichsten aller ästhetischen Ansprüche" - die Überwindung des Todes durch die Aufhebung der Zeit, dies das Thema des Buches - zu transportieren, vermag uns Lüdke auch mit Unterstützung durch das herbeizitierte Dreamteam Horkheimer/Adorno kaum zu vermitteln. Die folgenden auf den Roman bezogenen Zeilen der Besprechung gelten deshalb auch für sie selbst: Die Leser, heißt es da, sind nicht einmal klüger geworden. Aber mächtig irritiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Don DeLillo beweist mit seinem neuen Roman Körperzeit erneut, dass er einer der größten Schriftsteller unserer Zeit ist.« Michael Althen Süddeutsche Zeitung