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Jugend in der Platte und das Leben danach
Marios kurzes Leben spielt sich in Vierecken ab: auf dem Hinterhof der Plattenbausiedlung, im Klassenraum, in dem nutzlosen Sandkasten, in dem er fast seine Liebe gesteht, dem Boxring, in dem er stirbt, und dem Grab, auf dem er seitdem sitzt. Schon von der ersten Seite an weiß man, dass der dreizehnjährige Erzähler ums Leben kommt, als er seinem Freund Rajko im Kampf gegen Neonazis helfen will.
Wie es nach dem Tod weitergeht, ist ernüchternd: Als Schatten seiner selbst hockt man nach der Tortur im Kühlhaus und Sarg auf dem eigenen Grabstein und muss sich mit pedantischen Beamten rumschlagen oder wer auf einem deutschen Friedhof so neben einem liegt. Unterhalten kann man sich nämlich nur mit den unmittelbaren Grabnachbarn. In Marios Fall ist das ein Typ namens Hoffmann, der auch nach dem Tod noch über Bauordnungen und Aktenordner redet. Mario glaubt, "das war so etwas wie sein Leben".
Vom Grab aus erinnert sich Mario an seine jäh abgebrochene Jugend in der Plattenbausiedlung im Dunstkreis von Berlin. Die Mutter hat studiert, der Vater war vor der Wende Schweißer und nach der Wende Alkoholiker. Doch die Eltern spielen keine große Rolle in Marios Leben. Seine Bezugspersonen sind die anderen Teenager aus den Blocks. Sie spielen und kämpfen im Hof, Draufgänger gegen Außenseiter. Der einzige Ausweg aus der Jugend im Hinterhof ist der titelgebende "Kollektorgang" unter der Erde: ein enger Korridor mit unverputzten Wänden und Versorgungsrohren. Eine Linie, kein Viereck. Hier finden die Jugendlichen für kurze Zeit Frieden. Sie hören Grunge und Balkanrock aus einem alten Radio, trinken den Alkohol der Eltern, hoffen auf den ersten Kuss. Doch dann bricht eine neue Form der Gewalt in ihren Alltag, und der Gang unter den Blocks wird zum Austragungsort eines tödlichen Boxkampfs.
David Blum erzählt von rechter Gewalt und vom Leben nach dem Tod mit einer Leichtigkeit, die einem genervten Teenager gerecht wird. "Ich bin nie auf einer Trauerfeier gewesen, nur auf meiner eigenen", sagt Mario. Der nüchterne Tonfall nimmt der Erzählung die Tragik, nicht den Ernst. Er stellt trocken fest, was das Leben ausmacht: Freundschaft, Mut, Angst und Liebe.
Eine Jugend in der Platte Anfang der Neunzigerjahre bedeutet ein Aufwachsen ohne Handys und Computerspiele. Stattdessen leben Mario und die anderen in einer Welt der Zündplättchen und Wasserpistolen, Flummis und Jo-Jos, Brausepulver und Kaugummis. Im Sommer gibt es warmes Eis und aufgeschlagene Knie und Baggerseen. Romantisiert der Autor das Leben im Beton? Nein, er zeigt, dass es wie die meisten Leben beides ist, schön und hässlich. Mario fährt mit der Mutter zum Erdbeerhof, darf den Schaum vom Bier abtrinken, und wenn er krank ist, gibt es Jägerschnitzel mit Feuerwehrsoße. Der trinkende Vater ist ihm relativ egal. Eindeutig als böse markiert wird nur die rechtsradikale Gewalt, die in die Kinderwelt einbricht. Mario sagt an einer Stelle, dass an seinem Tod nicht die schwierigen Familienverhältnisse schuld waren, "sondern allein der Hass auf den, der anders ist".
Das Politische wird nur angedeutet: in den Messerschnitten im Fahrradsattel des Ausländers Rajko und den Springerstiefeln, die sich in Marios Rücken bohren. Erst als Anmerkung am Schluss erfährt man, dass der Fiktion eine echte Person vorausging: Johann Wilhelm "Rukeli" Trollmann war Sinto und Boxer. Er wurde zum "arischen Faustkampf" gezwungen und 1944 im KZ zu Tode geprügelt. Das Jugendbuch basiert lose auf dieser Figur. Es wurde jüngst mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichnet.
Auffällig ist der feinsinnige und humorvolle Umgang mit dem Jenseits. Wie es weitergeht, nachdem es weitergeht, bleibt auch für die Toten ein Rätsel. Sie erzählen sich von der "Linie" und hoffen auf Erlösung durch ihre Liebsten. Mario hält das für ein Hirngespinst. Doch insgeheim wartet auch er auf Ema: "Ein Mädchen, so schön wie Himbeereis und so klug wie dreizehn Taschenrechner." HELENA SCHÄFER
David Blum: "Kollektorgang". Roman.
Beltz & Gelberg, Weinheim 2023. 128 S., br., 14,- Euro. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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