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Carola Sterns Biographie über Friedrich Cohn und Clara Viebig
Ihr letztes Buch hat Carola Stern nicht mehr vollenden können. Sie starb Anfang des Jahres kurz nach ihrem achtzigsten Geburtstag. Weite Textstrecken zu dem Doppelporträt von Clara Viebig und Friedrich Cohn lagen aber bereits vor. So wagte es die Freundin, langjährige Lektorin und Verlegerin Ingke Brodersen, die bewährte Zusammenarbeit allein fortzuführen und zu einem Ende zu bringen. In ihrem Vorwort verschweigt sie ihre Bedenken als Co-Autorin nicht. Carola Stern hatte zwar die Dramaturgie ihres Buches genau festgelegt, vieles sollte aber noch überarbeitet werden. Auf einer Arbeitsmappe stand "Ergänzungen", auf einer anderen "noch mit Ingke besprechen", wieder andere enthielten weiteres Material, das Carola Stern fast besessen gesammelt hatte, um das Berliner Lokalkolorit der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre hinein authentisch zu beschreiben. Dazu gehören Studien über S-Bahnhöfe oder Moden ebenso wie die Aufzählung von berühmten Wissenschaftlern, Wirtschaftsführern, Künstlern und Politikern. Vor allem kam es ihr darauf an, die geistigen Strömungen der Umbruchszeit zu schildern, die Berlin damals zur lebendigsten europäischen Metropole gemacht haben. Daß dabei manches skizzenhaft blieb, ist aus der Entstehungsgeschichte dieses Buches zu erklären.
Nicht nur mit ihren Monographien von Politikern, auch bei literarischen Figuren wie Rahel Varnhagen oder Dorothea Schlegel hat Carola Stern immer versucht, gleichzeitig ein Zeitbild zu entwerfen. Doppelporträts mit ihrer Spannweite von Übereinstimmendem und Gegensätzlichem waren für dieses Bemühen besonders lohnend. So hat sie die Lebensgeschichten von Helene Weigel und Bertolt Brecht oder Marianne Hoppe und Gustaf Gründgens in einen historischen Zusammenhang gestellt. Mit ihrer eigenen Biographie und der ihres Mannes Heinz Zöger ("In den Netzen der Erinnerung") - sie eine begeisterte Jungmädchenführerin, er ein Jungkommunist - ist ihr das am eindrucksvollsten gelungen.
Ingke Brodersen vermutet, daß Carola Stern in dem Kaufmann und Verleger Friedrich Theodor Cohn Ähnlichkeiten mit ihrem 2001 verstorbenen Mann sah. Wie Zöger trat auch Cohn selbstlos und verständnisvoll hinter seiner schreibenden Frau zurück, unterstützte und förderte sie nach Kräften. Clara Viebig wurde in seinem Verlag eine Erfolgsautorin. Heute kennt man sie kaum noch. Leider wird ihr Werk in dieser Biographie kaum deutlich.
In der Geschichte dieses Paares spielt Cohn die Hauptrolle. Als deutscher konservativer Jude hat er zeit seines Lebens seine Herkunft zu verstecken versucht. Als er Clara Viebig heiratete, konvertierte er zum Protestantismus. Jetzt erreichte er es sogar, daß sein einziges Kind den Namen seiner Mutter tragen durfte; zumindest sein Sohn Ernst sollte "ganz und gar dazu- gehören". Clara Viebig und Friedrich Theodor Cohn lernten sich im Haus Theodor Fontanes kennen. Die junge Schriftstellerin hatte bereits erste Geschichten veröffentlicht - aber nur unter ihren Initialen; weibliche Autoren würden nicht ernst genommen, hatte ihr ein Redakteur geraten. Fontane gefielen die realistischen, sozialkritischen Erzählungen offenbar, und er empfahl sie seinem Sohn Friedrich, in dessen Buchverlag Friedrich Theodor Cohn mit seinem Vermögen für wenige Jahre als Teilhaber eingetreten war, bevor er seinen eigenen gründete.
Als Schwiegersohn war Cohn, der aus einer gebildeten jüdischen Familie stammte, der Witwe eines höheren Beamten und Abgeordneten der Paulskirche keineswegs genehm. Aber seine eigene Familie war ebensowenig erfreut über die "arische" Schwiegertochter. Fontane, selbst nicht ganz frei von antisemitischen Vorurteilen, trat für das junge Paar ein, er versuchte vor allem die Ablehnung von Clara Viebigs Mutter gegenüber Juden abzuschwächen, indem er an die "feinen Juden" im Berliner kulturellen Leben von Rathenau bis Liebermann erinnerte; die Familie des Bräutigams gehörte auch dazu. Clara Viebig war schon "ein spätes Mädchen", und Cohn besaß immerhin Geld, so stellte die Beamtenwitwe schließlich ihre Bedenken gegen diese Verbindung zurück. Friedrich Fontanes Verlag entwickelte sich in den folgenden Jahren überaus erfreulich. Neben dem Werk des Vaters, das der Sohn nun endlich verlegen durfte, hatte Clara Viebig erste Erfolge mit ihren realistischen Geschichten von "kleinen Leuten" aus den Eifeldörfern. Milieukenntnisse verdankte sie ihrem Onkel, einem Untersuchungsrichter, den sie auf seinen Fahrten durch diese arme Gegend begleiten durfte. Später beschrieb sie das Elend der Mädchen vom Land im Moloch Berlin.
Victor Klemperer und andere haben sie mit Zola verglichen. Käthe Kollwitz, Heinrich Zille oder Max Liebermann entwarfen die Umschläge zu ihren Romanen. Clara Viebig bereicherte das neue Genre des Berlin-Romans durch eine sozialkritische Variante, machte aber auch Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack, der ein märchenhaft glückliches Ende erwartete. Die "Gartenlaube" und die "Berliner Illustrirte Zeitung" brachten Vorabdrucke ihrer Werke. Die Cohns bauten sich eine prächtige Zehn-Zimmer-Villa in Zehlendorf, führten ein gastliches Haus und glaubten an die vom Kaiser versprochenen "herrlichen Zeiten". Sie hofften, daß im allgemeinen Aufschwung Neid und Aggressionen gegen Juden, "einem deutschen Stamm wie Sachsen, Bayern oder Wenden", verschwinden würden. Der Erste Weltkrieg setzte allen Hoffnungen ein Ende. Der geliebte und verwöhnte Sohn Ernst Viebig meldete sich freiwillig. In den unsicheren Nachkriegsjahren verkaufte Cohn seinen Verlag an die Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart, die er in Berlin vertrat und für die er Autoren wie Armin T. Wegner gewann. Das bürgerlich-konservative Weltbild der Cohns geriet 1933 ins Wanken, aber die Gefahr schien zunächst noch nicht lebensbedrohend. Fast zweitausend Schriftsteller emigrierten nach Hitlers Machtantritt, darunter viele von Cohns Autoren. Auch sein Sohn wagte einen neuen Anfang in Brasilien. Die Eltern resignierten und blieben. "Alles ruiniert, alles entzwei", klagte Clara. 1935 starb Friedrich Theodor Cohn. Wenige Monate später trat seine Witwe in die Reichsschrifttumskammer ein - die Bedingung, daß sie weiterschreiben und veröffentlichen durfte. Doch ihre Lebenskraft war erschöpft. Über die letzten zwanzig Jahre erfährt man wenig. Zu ihrem neunzigsten Geburtstag gratulierten ihr Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, die Sache der Armen und Entrechteten vertretend. Mit der Aufforderung "Kommen Sie, Cohn!" hatte Theodor Fontane sein Gedicht zu seinem eigenen fünfundsiebzigsten Geburtstag abgeschlossen. Ob Clara Viebig ihren Mann zuletzt überhaupt noch erwähnt hat, haben die beiden Autorinnen nicht erforschen können.
MARIA FRISÉ
Carola Stern mit Ingke Brodersen: "Kommen Sie, Cohn!" Friedrich Cohn und Clara Viebig. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 169 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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