Die heutige Gesellschaft lässt sich nicht mehr durch herkömmliche Schicht- und Klassentheorien beschreiben, sondern durch Hervorhebung einzelner Facetten, wie sie in den Zuschreibungen Risiko- und Erlebnisgesellschaft zum Ausdruck kommen. Produkt, aber auch Schnittmenge zunehmender Individualisierung ist die Szenekneipe. Anneli Starzinger untersucht auf der Grundlage aktueller Gesellschafts- und Lebensstiltheorien einen zentralen Kommunikationsraum unserer Freizeitgesellschaft. Sie analysiert mit Hilfe einer quantitativen und qualitativen Datenerhebung in zwei ausgesuchten Szenekneipen in Essen und Bonn die soziale Dynamik und die gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die sich an diesen Zentren der Geselligkeit ablesen lassen. Die Autorin entwickelt zehn Thesen zum Kommunikationsraum Szenekneipe, die Rückschlüsse auf die Beschaffenheit und Entwicklungstendenzen zeitgenössischer Kommunikationsstile und -strukturen erlauben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2000Die Hausordnung der Szenekneipe
Endstation Sehnsucht: Anneli Starzinger kommuniziert im Essener "Bahnhof Süd"
Der Schankbetrieb der bei Gießen gelegenen Badenburg war nicht das, was in heutiger Diktion eine "Szenekneipe" genannt wird. Und dennoch hat der zwanzigjährige Georg Büchner wohl diesen Ort gewählt, um am "Hessischen Landboten" zu feilen, mit dem er schließlich den Palästen Krieg, den Hütten aber Frieden erklärte. Es wäre nicht der erste und auch nicht der einzige Revolutionsfunke gewesen, dessen Ursprung vor einem Tresen zu suchen ist. Schon deshalb erscheint das Thema, dem sich Anneli Starzingers Arbeit "Kommunikationsraum Szenekneipe. Annäherung an ein Produkt der Erlebnisgesellschaft" widmet, ein viel versprechendes zu sein.
Anneli Starzinger geht es darum, "wesentliche soziale und kommunikative Funktionen und Strukturen der Institution ,Szenekneipe' zu ermitteln" und diese als "Resultat und gleichzeitig auch Träger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in unserer Zeit zu verorten". Wobei die Autorin den Begriff Kommunikation nicht allein auf das "Konstrukt Sprache" reduziert wissen will, sondern auch auf Zeichen wie "Kleidung, Gestik, Mimik, Habitus und anderes mehr" ausweitet. Nach einem kurzen Abriss der Entstehungsgeschichte der Gastwirtschaft, der einen Exkurs über "Die Frau in der Kneipe" umfasst, legt die Autorin ihre theoretischen Vorüberlegungen dar, die sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Studien von Ulrich Beck ("Risikogesellschaft"), Gerhard Schulze ("Erlebnisgesellschaft") und Hartmut Lüdtke (Lebensstilkonzept) gründen. Anhand einer empirischen Untersuchung, die sich auf die Auswertung schriftlicher Fragebögen, mündlicher "Tiefeninterviews" und einer dreimonatigen "teilnehmenden Beobachtung" konzentriert, kommt Anneli Starzinger zu einer Reihe von Thesen. So sei die heutige Szenekneipe zu einer Alternative für "familiäre Wärme" geworden und biete zudem die Möglichkeit der Selbstinszenierung und des "Selbstmarketings". Die Szenekneipe, die in der Hauptsache von jüngeren Gästen frequentiert werde, sei im Gegensatz zu der traditionellen Eckkneipe lediglich ein "Lebensabschnittsbegleiter".
Ist der These, wonach die Szenekneipe als Ort weiblicher Emanzipation anzusehen sei, auch weil in ihr die typischen Kneipenwitze, "die Frauenohren eher desavouieren", fehlten, noch zuzustimmen, so sind die Aussagen, die im eigentlichen Hauptkapitel "Kommunikationsstrukturen in der Szenekneipe" gemacht werden, insgesamt enttäuschend. Ein hoher Lärmpegel, so die Autorin, mache "verbalen Ausdruck" schwierig, weswegen mehr nonverbal kommuniziert werde: Das "Gucken, Betrachten und Begutachten" stehe im Vordergrund, zuweilen werde der "kosmetischen Perfektion ein Credo gesungen". Starzinger weiß zudem, dass "eine gewisse Unverbindlichkeit und Oberflächlichkeit das Gespräch in der Szenekneipe" charakterisiere und dass "schwerpunktmäßig inhaltlich orientierte Diskurse in der Szenekneipe eher seltener" stattfänden. Stattdessen bestünden Gespräche meist aus einem "witzigen Schlagabtausch, zu dem jeder nach Geisteskräften" beitrage.
Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass die Autorin eine theoretische Durchdringung ihres Themas lediglich vortäuscht ("Jede Kneipe ist zunächst einmal ein raumzeitliches Gebilde") und soziologische Termini nicht besser auseinander zu halten weiß als ein Guttempler Tequila und Ramazotti: "Die semiotische Verbindung von Szene und sozialem Milieu wird dann am prägnantesten, wenn die sichtbare Zusammensetzung des Publikums milieuspezifische Tendenzen zeigt." Problematisch ist, dass selbst die Frage, was eine "Szenekneipe" eigentlich sei, nicht geklärt werden kann, da der Autorin eine "trennscharfe Definition" des Begriffs Szenekneipe "fast unmöglich" erscheint. Fragwürdig ist auch der empirische Teil, der aus einer, wie Starzinger ausführt, Kombination von quantitativen und qualitativen Erhebungsverfahren bestehe. Starzingers Feldforschung beschränkt sich auf zwei "Untersuchungseinheiten", das Bonner Café "Göttlich" und den Essener "Bahnhof Süd". Die Autorin wählte aus Gründen, die sich dem Verständnis widersetzen, die Stadt Essen, der sie einen Mangel an Szenekneipen nachsagt, weil es "reizvoll" gewesen sei, "möglicherweise Gründe zu finden, die das Fehlen von Szeneeinrichtungen in Essen erklären könnten".
Zudem ist die Autorin von ihrem Vorhaben, der Untersuchung "gänzlich nüchtern" nachzugehen, allem Anschein nach bald wieder abgerückt. Wie sonst sind solche Sätze zu erklären: "Gastsein und Wirtsein zählen zu den Urphänomenen der Menschheitsgeschichte"? Wie sonst kann man behaupten, die studentische Trinkfreude sei "spruchreif" geworden? Warum erzählt die Autorin von der babylonischen Kneipe "Kubaha", die im Jahre 3500 vor Christus von einer Wirtin geführt worden sei, und bedauert, dass offenbar keine Zeugnisse mehr darüber existieren, "wer ihre Gäste waren"? Warum gilt in einer Essener Doktorarbeit schon eine Fernsehsendung als zitierfähiger Beleg für einen Unsinn wie die angebliche Tatsache, der Begriff der "Kneipe" stamme aus dem Sächsischen und bedeute so viel wie "geschröpft werden"? Letztlich sind es die Studenten der Kommunikationswissenschaft, die "geschröpft" werden, weil man ihnen das nötige wissenschaftliche Rüstzeug nicht mehr vermitteln kann oder will.
STEPHAN KUSS
Anneli Starzinger: "Kommunikationsraum Szenekneipe. Annäherung an ein Produkt der Erlebnisgesellschaft". Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 2000. 205 S., 17 Abb., br., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endstation Sehnsucht: Anneli Starzinger kommuniziert im Essener "Bahnhof Süd"
Der Schankbetrieb der bei Gießen gelegenen Badenburg war nicht das, was in heutiger Diktion eine "Szenekneipe" genannt wird. Und dennoch hat der zwanzigjährige Georg Büchner wohl diesen Ort gewählt, um am "Hessischen Landboten" zu feilen, mit dem er schließlich den Palästen Krieg, den Hütten aber Frieden erklärte. Es wäre nicht der erste und auch nicht der einzige Revolutionsfunke gewesen, dessen Ursprung vor einem Tresen zu suchen ist. Schon deshalb erscheint das Thema, dem sich Anneli Starzingers Arbeit "Kommunikationsraum Szenekneipe. Annäherung an ein Produkt der Erlebnisgesellschaft" widmet, ein viel versprechendes zu sein.
Anneli Starzinger geht es darum, "wesentliche soziale und kommunikative Funktionen und Strukturen der Institution ,Szenekneipe' zu ermitteln" und diese als "Resultat und gleichzeitig auch Träger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in unserer Zeit zu verorten". Wobei die Autorin den Begriff Kommunikation nicht allein auf das "Konstrukt Sprache" reduziert wissen will, sondern auch auf Zeichen wie "Kleidung, Gestik, Mimik, Habitus und anderes mehr" ausweitet. Nach einem kurzen Abriss der Entstehungsgeschichte der Gastwirtschaft, der einen Exkurs über "Die Frau in der Kneipe" umfasst, legt die Autorin ihre theoretischen Vorüberlegungen dar, die sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Studien von Ulrich Beck ("Risikogesellschaft"), Gerhard Schulze ("Erlebnisgesellschaft") und Hartmut Lüdtke (Lebensstilkonzept) gründen. Anhand einer empirischen Untersuchung, die sich auf die Auswertung schriftlicher Fragebögen, mündlicher "Tiefeninterviews" und einer dreimonatigen "teilnehmenden Beobachtung" konzentriert, kommt Anneli Starzinger zu einer Reihe von Thesen. So sei die heutige Szenekneipe zu einer Alternative für "familiäre Wärme" geworden und biete zudem die Möglichkeit der Selbstinszenierung und des "Selbstmarketings". Die Szenekneipe, die in der Hauptsache von jüngeren Gästen frequentiert werde, sei im Gegensatz zu der traditionellen Eckkneipe lediglich ein "Lebensabschnittsbegleiter".
Ist der These, wonach die Szenekneipe als Ort weiblicher Emanzipation anzusehen sei, auch weil in ihr die typischen Kneipenwitze, "die Frauenohren eher desavouieren", fehlten, noch zuzustimmen, so sind die Aussagen, die im eigentlichen Hauptkapitel "Kommunikationsstrukturen in der Szenekneipe" gemacht werden, insgesamt enttäuschend. Ein hoher Lärmpegel, so die Autorin, mache "verbalen Ausdruck" schwierig, weswegen mehr nonverbal kommuniziert werde: Das "Gucken, Betrachten und Begutachten" stehe im Vordergrund, zuweilen werde der "kosmetischen Perfektion ein Credo gesungen". Starzinger weiß zudem, dass "eine gewisse Unverbindlichkeit und Oberflächlichkeit das Gespräch in der Szenekneipe" charakterisiere und dass "schwerpunktmäßig inhaltlich orientierte Diskurse in der Szenekneipe eher seltener" stattfänden. Stattdessen bestünden Gespräche meist aus einem "witzigen Schlagabtausch, zu dem jeder nach Geisteskräften" beitrage.
Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass die Autorin eine theoretische Durchdringung ihres Themas lediglich vortäuscht ("Jede Kneipe ist zunächst einmal ein raumzeitliches Gebilde") und soziologische Termini nicht besser auseinander zu halten weiß als ein Guttempler Tequila und Ramazotti: "Die semiotische Verbindung von Szene und sozialem Milieu wird dann am prägnantesten, wenn die sichtbare Zusammensetzung des Publikums milieuspezifische Tendenzen zeigt." Problematisch ist, dass selbst die Frage, was eine "Szenekneipe" eigentlich sei, nicht geklärt werden kann, da der Autorin eine "trennscharfe Definition" des Begriffs Szenekneipe "fast unmöglich" erscheint. Fragwürdig ist auch der empirische Teil, der aus einer, wie Starzinger ausführt, Kombination von quantitativen und qualitativen Erhebungsverfahren bestehe. Starzingers Feldforschung beschränkt sich auf zwei "Untersuchungseinheiten", das Bonner Café "Göttlich" und den Essener "Bahnhof Süd". Die Autorin wählte aus Gründen, die sich dem Verständnis widersetzen, die Stadt Essen, der sie einen Mangel an Szenekneipen nachsagt, weil es "reizvoll" gewesen sei, "möglicherweise Gründe zu finden, die das Fehlen von Szeneeinrichtungen in Essen erklären könnten".
Zudem ist die Autorin von ihrem Vorhaben, der Untersuchung "gänzlich nüchtern" nachzugehen, allem Anschein nach bald wieder abgerückt. Wie sonst sind solche Sätze zu erklären: "Gastsein und Wirtsein zählen zu den Urphänomenen der Menschheitsgeschichte"? Wie sonst kann man behaupten, die studentische Trinkfreude sei "spruchreif" geworden? Warum erzählt die Autorin von der babylonischen Kneipe "Kubaha", die im Jahre 3500 vor Christus von einer Wirtin geführt worden sei, und bedauert, dass offenbar keine Zeugnisse mehr darüber existieren, "wer ihre Gäste waren"? Warum gilt in einer Essener Doktorarbeit schon eine Fernsehsendung als zitierfähiger Beleg für einen Unsinn wie die angebliche Tatsache, der Begriff der "Kneipe" stamme aus dem Sächsischen und bedeute so viel wie "geschröpft werden"? Letztlich sind es die Studenten der Kommunikationswissenschaft, die "geschröpft" werden, weil man ihnen das nötige wissenschaftliche Rüstzeug nicht mehr vermitteln kann oder will.
STEPHAN KUSS
Anneli Starzinger: "Kommunikationsraum Szenekneipe. Annäherung an ein Produkt der Erlebnisgesellschaft". Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden 2000. 205 S., 17 Abb., br., 48,- DM.
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