"Und er gehorcht, indem er überschreitet": Was Rainer Maria Rilke in seinen "Orpheus"-Sonetten formuliert, lässt sich auch als Motto des Komponierens für Stimme lesen. Von Monteverdi bis heute versuchen Komponistinnen und Komponisten, den Möglichkeiten der menschlichen Stimme zu folgen und gleichzeitig diese Möglichkeiten und damit die Grenzen des Musiktheaters zu erweitern. In diesem Buch erkunden international renommierte Autoren den Umgang mit der menschlichen Stimme - im Wechsel der Stile, Gattungen und individuellen Schreibweisen. Neben einem historischen Überblick bietet der Band Gespräche mit zwölf führenden Komponistinnen und Komponisten unserer Zeit. Gespräche mit John Adams, Chaya Czernowin, Peter Eötvös, Beat Furrer, Adriana Hölszky, Toshio Hosokawa, Helmut Lachenmann, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Kaija Saariaho, Miroslav Srnka, Jörg Widmann Die Autoren Sieghart Döhring, Nanny Drechsler, Matthew Gardner, Anselm Gerhard, Michael Heinemann, Sabine Henze-Döhring, Rebecca Grotjahn, Arnold Jacobshagen, Tobias Janz, Silke Leopold, Stephan Mösch, Wolfgang Rathert, Christina Richter-Ibáñez, Dörte Schmidt, Uwe Schweikert, Thomas Seedorf und Arne Stollberg Der Herausgeber Stephan Mösch ist Professor für Ästhetik, Geschichte und Künstlerische Praxis des Musiktheaters an der Hochschule für Musik Karlsruhe. Bei Bärenreiter erschien von ihm "Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit. Wagners ,Parsifal' in Bayreuth 1882-1933".
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Frankfurter Allgemeine ZeitungIm schönen Abgrund des Gesangs
Ein exzellentes Handbuch behandelt das musikalische Komponieren für Stimmen
Eine Ringvorlesung zum Thema "Komponieren für Stimme" - hat es das oder Ähnliches schon einmal an einer deutschen Universität gegeben? Die Geschichte des Singens, die Beziehung von Komposition und Interpretation oder Vokalprofile einzelner Sänger sind Themen, denen sich die Musikwissenschaft erst seit Ende des vorigen Jahrhunderts gestellt hat. Initiator der Vorlesungen an der Hochschule für Musik Karlsruhe war Stephan Mösch, der die siebzehn Beiträge ediert und durch Gespräche ergänzt hat, die er selber mit zwölf Komponisten - teilweise während der Arbeit an neuen Opern - geführt hat.
Offenbar anschließend an die Feststellung, "alle Oper sei Orpheus" (Theodor W. Adorno), bringt Mösch das Thema mit einem Vers aus dem fünften von Rilkes "Sonnetten an Orpheus" auf einen kontradiktorischen Nenner: "Und er gehorcht, indem er überschreitet." Stimmen können, so Mösch in seiner weit ausgreifenden Einleitung, kompositorisch bedient, herausgefordert oder auch überfordert werden, gerade dann, wenn ein Komponist wie Wagner für "wunderbar genialische Sänger" schrieb, wie er sie in seiner Phantasie hörte.
Die dreizehn Aufsätze der ersten drei Kapitel durchmessen die Geschichte der Oper durch fünf Jahrhunderte. Silke Leopold behandelt im Rekurs auf die Oper im Umkreis von Jacopo Peri und Claudio Monteverdi die dramatisch-musikalische Deklamation. Dörte Schmidt widmet sich dem französischen Musiktheater von Lully bis Gluck, Matthew Gardner der Musik Händels, der sein Opern-Imperium in London mit Hilfe von hochbezahlten Starsängern schuf. Thomas Seedorf zeigt in einem konzisen Aufsatz, wie genau die Vokalprofile der wichtigsten Mozart-Sänger bestimmt sind - oft durch den Komponisten selbst. Sein Beitrag gehört ebenso zu den Glanzstücken des Bandes wie Sieghart Döhrings Beschreibung des Paradigmenwechsels des Komponierens für die Stimme um 1850: der Übergang vom Formelwesen des Belcanto zum romantischen Espressivo-Gesang.
Diesem Wandel geht auch Sabine Henze-Döhring in einer Studie über die Epochen-Sängerin Pauline Viardot-Garcia nach. Stephan Mösch beschäftigt sich mit dem Wagner-Gesang und entdeckt eine Ambivalenz: Dass die musikdramatische Invention zum Gesang, zur stimmlichen Mitteilung, drängt, sich dieser aber versagt, weil die dramatische Idee weitgehend durch das Orchester formuliert ist. Das Dilemma spitzt sich dadurch zu, dass Vortrag und Spiel in der theatralischen Praxis weit hinter der Komposition zurückbleiben. Dies zum Thema: das Leiden an Wagner.
Hatte noch Rossini die Ansicht vertreten, dass sich die Regungen des Herzens nur darstellen, nicht aber nachahmen lassen, so führte der Weg, wie Uwe Schweikert in seinem Beitrag zu Verdi ausführt, zu einem "Realismus" von Affektsimulationen bis hin zu Puccinis Spiel mit der Erotik der Stimme. Dies bedeutet zugleich, dass die in großen Traktaten kodifizierten normativen Regeln der Gesangskunst, gerade die des Belcanto, zunehmend verworfen werden. Den Gedanken, dass eine Stimme eine direkte körperliche Berührung sein kann, stellt Arne Stollberg in den Mittelpunkt einer fesselnden Studie. Unter dem Titel "Befreiung der Stimme?" widmet sich Tobias Janz den "Dimensionen des Vokalen bei Schönberg und Berg". Christina Richter-Ibáñes zeigt, wie Bernd Alois Zimmermann, Luigi Nono, Mauricio Kagel und Karlheinz Stockhausen den Weg des Gehorchens durch die Überschreitung von Grenzen gegangen sind.
Wie souverän und sinnlich der von den Scharfrichtern der Avantgarde diskreditierte Hans Werner Henze in seinen Bühnenwerken die Stimme eingesetzt hat, legt Wolfgang Rathert überzeugend dar. Prachtvoll und vergnüglich ein kleines Capriccio, das Anselm Gerhard den schönsten Effekten des Tenorgesangs widmet. In den Gesprächen, die Herausgeber Mösch mit zwölf Komponisten geführt hat, geht es schließlich um "Positionen": sei es um die Geburt des zeitgenössischen Musiktheaters aus dem Geist der Pop Art (John Adams), um ein Hörtheater mit der nonverbalen Stimme (Chaya Czernowin), um ein Musiktheater ohne Stimmen (Adriana Hölsky), um die Suche nach vertiefter Wahrnehmung durch eine "Musik mit Bildern" und Klangverfremdungen (Helmut Lachenmann), um die Snythesen verschiedenster vokaler Möglichkeiten (Aribert Reimann). Wolfgang Rihm fasst all dies mit der Feststellung zusammen, dass "Kunst ihre eigene Methodenkritik" sei - und mit der Maxime: "Ich liebe die menschliche Stimme. Sie bleibt der schönste Abgrund."
JÜRGEN KESTING
Stephan Mösch (Hrsg.):
"Komponieren für Stimme". Von Monteverdi bis Rihm. Ein Handbuch.
Bärenreiter Verlag, Kassel 2017. 398 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein exzellentes Handbuch behandelt das musikalische Komponieren für Stimmen
Eine Ringvorlesung zum Thema "Komponieren für Stimme" - hat es das oder Ähnliches schon einmal an einer deutschen Universität gegeben? Die Geschichte des Singens, die Beziehung von Komposition und Interpretation oder Vokalprofile einzelner Sänger sind Themen, denen sich die Musikwissenschaft erst seit Ende des vorigen Jahrhunderts gestellt hat. Initiator der Vorlesungen an der Hochschule für Musik Karlsruhe war Stephan Mösch, der die siebzehn Beiträge ediert und durch Gespräche ergänzt hat, die er selber mit zwölf Komponisten - teilweise während der Arbeit an neuen Opern - geführt hat.
Offenbar anschließend an die Feststellung, "alle Oper sei Orpheus" (Theodor W. Adorno), bringt Mösch das Thema mit einem Vers aus dem fünften von Rilkes "Sonnetten an Orpheus" auf einen kontradiktorischen Nenner: "Und er gehorcht, indem er überschreitet." Stimmen können, so Mösch in seiner weit ausgreifenden Einleitung, kompositorisch bedient, herausgefordert oder auch überfordert werden, gerade dann, wenn ein Komponist wie Wagner für "wunderbar genialische Sänger" schrieb, wie er sie in seiner Phantasie hörte.
Die dreizehn Aufsätze der ersten drei Kapitel durchmessen die Geschichte der Oper durch fünf Jahrhunderte. Silke Leopold behandelt im Rekurs auf die Oper im Umkreis von Jacopo Peri und Claudio Monteverdi die dramatisch-musikalische Deklamation. Dörte Schmidt widmet sich dem französischen Musiktheater von Lully bis Gluck, Matthew Gardner der Musik Händels, der sein Opern-Imperium in London mit Hilfe von hochbezahlten Starsängern schuf. Thomas Seedorf zeigt in einem konzisen Aufsatz, wie genau die Vokalprofile der wichtigsten Mozart-Sänger bestimmt sind - oft durch den Komponisten selbst. Sein Beitrag gehört ebenso zu den Glanzstücken des Bandes wie Sieghart Döhrings Beschreibung des Paradigmenwechsels des Komponierens für die Stimme um 1850: der Übergang vom Formelwesen des Belcanto zum romantischen Espressivo-Gesang.
Diesem Wandel geht auch Sabine Henze-Döhring in einer Studie über die Epochen-Sängerin Pauline Viardot-Garcia nach. Stephan Mösch beschäftigt sich mit dem Wagner-Gesang und entdeckt eine Ambivalenz: Dass die musikdramatische Invention zum Gesang, zur stimmlichen Mitteilung, drängt, sich dieser aber versagt, weil die dramatische Idee weitgehend durch das Orchester formuliert ist. Das Dilemma spitzt sich dadurch zu, dass Vortrag und Spiel in der theatralischen Praxis weit hinter der Komposition zurückbleiben. Dies zum Thema: das Leiden an Wagner.
Hatte noch Rossini die Ansicht vertreten, dass sich die Regungen des Herzens nur darstellen, nicht aber nachahmen lassen, so führte der Weg, wie Uwe Schweikert in seinem Beitrag zu Verdi ausführt, zu einem "Realismus" von Affektsimulationen bis hin zu Puccinis Spiel mit der Erotik der Stimme. Dies bedeutet zugleich, dass die in großen Traktaten kodifizierten normativen Regeln der Gesangskunst, gerade die des Belcanto, zunehmend verworfen werden. Den Gedanken, dass eine Stimme eine direkte körperliche Berührung sein kann, stellt Arne Stollberg in den Mittelpunkt einer fesselnden Studie. Unter dem Titel "Befreiung der Stimme?" widmet sich Tobias Janz den "Dimensionen des Vokalen bei Schönberg und Berg". Christina Richter-Ibáñes zeigt, wie Bernd Alois Zimmermann, Luigi Nono, Mauricio Kagel und Karlheinz Stockhausen den Weg des Gehorchens durch die Überschreitung von Grenzen gegangen sind.
Wie souverän und sinnlich der von den Scharfrichtern der Avantgarde diskreditierte Hans Werner Henze in seinen Bühnenwerken die Stimme eingesetzt hat, legt Wolfgang Rathert überzeugend dar. Prachtvoll und vergnüglich ein kleines Capriccio, das Anselm Gerhard den schönsten Effekten des Tenorgesangs widmet. In den Gesprächen, die Herausgeber Mösch mit zwölf Komponisten geführt hat, geht es schließlich um "Positionen": sei es um die Geburt des zeitgenössischen Musiktheaters aus dem Geist der Pop Art (John Adams), um ein Hörtheater mit der nonverbalen Stimme (Chaya Czernowin), um ein Musiktheater ohne Stimmen (Adriana Hölsky), um die Suche nach vertiefter Wahrnehmung durch eine "Musik mit Bildern" und Klangverfremdungen (Helmut Lachenmann), um die Snythesen verschiedenster vokaler Möglichkeiten (Aribert Reimann). Wolfgang Rihm fasst all dies mit der Feststellung zusammen, dass "Kunst ihre eigene Methodenkritik" sei - und mit der Maxime: "Ich liebe die menschliche Stimme. Sie bleibt der schönste Abgrund."
JÜRGEN KESTING
Stephan Mösch (Hrsg.):
"Komponieren für Stimme". Von Monteverdi bis Rihm. Ein Handbuch.
Bärenreiter Verlag, Kassel 2017. 398 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main