Nachdem in der Nacht auf den 3. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern mehrere Brandsätze zündeten, fanden die Ermittler bei den Tatverdächtigen einen Zettel: »Der Konsumzwang terrorisiert euch. Wir terrorisieren die Ware.« Die Anschläge, an denen unter anderem die späteren Mitbegründer der RAF Andreas Baader und Gudrun Ensslin beteiligt waren, griffen eine im Kontext des Kalten Kriegs erstarkende Dimension der Gesellschaftskritik auf. Verstand die klassische marxistische Analyse die Produktion als die eigentliche Sphäre der Unterdrückung, so erschien nun zunehmend der Konsum als Reich der Unfreiheit. Widerstand gegen den »Konsumterror« galt als legitim, einigen sogar dann, wenn er militante Formen annahm.
Gestützt auf umfangreiche Archivstudien, zeichnet Alexander Sedlmaier die Entwicklung der Konsumkritik in der Bundesrepublik nach. Er erläutert die insbesondere durch Herbert Marcuse formulierten theoretischen Grundlagen und stellt dar, wie sich der Protest im Zuge der Kampagnen gegen die Springer-Presse und Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr radikalisierte, bevor er in der Hausbesetzerszene zu einer eigenen Lebensform wurde.
Gestützt auf umfangreiche Archivstudien, zeichnet Alexander Sedlmaier die Entwicklung der Konsumkritik in der Bundesrepublik nach. Er erläutert die insbesondere durch Herbert Marcuse formulierten theoretischen Grundlagen und stellt dar, wie sich der Protest im Zuge der Kampagnen gegen die Springer-Presse und Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr radikalisierte, bevor er in der Hausbesetzerszene zu einer eigenen Lebensform wurde.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2018Kaufhäuser anzünden war nicht lange attraktiv
Die laute Ankunft der Konsumgesellschaft: Alexander Sedlmaier schreibt eine Geschichte gewaltsamer Proteste in der alten Bundesrepublik.
Konsumkritik argumentiert heute ökologisch. Das scheint so selbstverständlich, dass man sich eine Konsumkritik ohne Ökologie kaum mehr vorzustellen vermag. Von ihr handelt eine jetzt auf deutsch erschienene Studie des Historikers Alexander Sedlmaier, nach deren Lektüre man nicht zuletzt die Neuausrichtung der Konsumkritik durch die ökologische Bewegung besser versteht: Das gilt vor allem für die zum Klischee gewordene progressive Osmose von Konsum und Anti-Konsum-Haltung: der SUV auf dem Parkplatz des Bio-Supermarkts in Prenzlauer Berg. Diese Osmose beruht auf einem höchst anspruchsvollen Vorgang, den man als Kommodifizierung des Protests bezeichnen könnte, also als Internalisierung des Dagegenseins in der Form der Ware. Die Warenform zeigt ihre Abstraktheit gerade darin, dass sie sich auch ihre Negation unterwerfen kann: Konsumeliten kaufen Kartoffeln lieber mit Erde dran, wegen der Agrarindustrie.
In der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders gab sich Konsumkritik dagegen durchweg als Sozialpolitik. "Lernt vom Nikolaus - Räumt das Kaufhaus aus!" titelte die anarchistische Berliner Zeitschrift "Agit 883" in ihrer Weihnachtsausgabe von 1970. Denn, so der Westberliner Sozialistische Deutsche Studentenbund damals: "Die ökonomische Entwicklung ist heute an einem Punkt angelangt, wo die Waren umsonst verteilt werden können." Doch schon da begannen die theoretischen Fragen: Bestätigt das nicht die Menschen in ihrem falschen Bedürfnis nach Waren? Ist es da nicht besser, das Kaufhaus gleich anzuzünden? Brandstiftung wiederum galt vielen als Ausdruck existentialistischer Selbstgefälligkeit, ohne Nutzen für die werktätigen Massen.
In Sedlmaiers Diskursgeschichte des Radikalismus ist nicht nur viel über Motive der Gewalt, sondern fast noch mehr über das Selbstverständnis der westdeutschen Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit zu lernen, zum Beispiel über ihre Fixierung auf das Kaufhaus. Es war die Ikone des urbanen Alltags und der politischen Legitimation der jungen Bundesrepublik und deswegen als Objekt und Bühne des gewaltsamen Protestes besonders gut geeignet. Zugleich stellte das Kaufhaus den Marxismus vor ein echtes theoretisches Problem: In der orthodoxen Dialektik von Privateigentum an Produktionsmitteln und der Öffentlichkeit des bürgerlichen Staates hatte die Welt des Einzelhandels nämlich keinen rechten Ort. Die sich formierende Stadtguerrilla war, so gesehen, nichts anderes als die Verschiebung der revolutionären Strategie von den Produktionsmitteln auf die Verteilungs- und Konsumsphäre. Was mit Kaufhausaktionen einzelner linker Gruppen Anfang der sechziger Jahre begann, ging mit Kampagnen gegen die "Bild"-Zeitung weiter und mündete in der Globalisierung der konsumkritischen Bewegung in den achtziger Jahren.
Wie aber fügt sich die Protestgeschichte ein in die Geschichte des Konsums, gegen den sie sich richtet? Bei Sedlmaier finden sich dazu leider nur Andeutungen. Man ahnt eher, wie eng die Möglichkeit gewaltsamer Aktionen gegen die Konsumgesellschaft ihrerseits mit der Diversifizierung des Konsumangebots zusammenhing: Nur solange der Einzelhandel mit Industrieprodukten das gesellschaftlich schlechthin Neue darstellt, ist er als Objekt von Gewalt plausibel. Sobald es aber eine alternative Szene aus Lebensmittel-Kooperativen, Second-Hand-Läden und Mitfahrgelegenheiten gibt, werden zum Beispiel die Argumente für Kaufhausbrandstiftungen komplizierter. Man kann seine Energie ja auch produktiv nutzen. Dann verlegt sich der Protest - wie in den achtziger Jahren - zunehmend auf die Systeme der Daseinsvorsorge, zu denen es damals noch keine Alternative gab: die Verkehrsbetriebe oder die Presse.
Die Geschichte von Konsum und Gewalt ist aber auch eine kleine Ideengeschichte der alten Bundesrepublik. Protest- und Theoriegeschichte hängen eng zusammen, weil die Protagonisten besessen waren von einer theoretischen Rechtfertigung der Gewalt. Während sich Ulrike Meinhof, auf deren massiven Antisemitismus auch Sedlmaier noch einmal hinweist, mit technischen Fragen des Werkschutzes beschäftigte, schrieb sie Texte zur Theorie des Massenkonsums. Den Anspruch, auch diese Ideengeschichte zu rekonstruieren, löst das Buch aber nur sehr bedingt ein, weil Sedlmaier sich mit einem einzigen Schlüsselautor zufriedengibt: mit Herbert Marcuse nämlich, der seine Marx- und Freud-Lektüren in den sechziger Jahren zu einer Theorie popularisierte, in der der westdeutsche Staat zuverlässig als autoritärer Hüter des falschen Bewusstseins der Warenkonsumenten entlarvt wurde.
Dass Marcuses Theorie des "eindimensionalen Menschen", die ihren Verfasser zum Star von 1968 machte, ihrerseits etwas eindimensional war, ist oft bemerkt worden, zeigt sich aber auch hier. Keinem anderen Autor wird Sedlmaier gerecht, noch nicht einmal Adorno, Horkheimer und Habermas. Und sicher hätte das Buch mit einem Seitenblick auf die konservative Kritik der Konsumgesellschaft gewonnen. So verdankt die Soziologie Arnold Gehlen einige der gründlichsten Überlegungen zum Zusammenhang von Lebensstandard, Massenkonsum, politischer Legitimität und Gewalt. Noch bevor das erste Schaufenster in Scherben ging, hatte Gehlen eine Art Gleichgewichtsregel postuliert: In einem Staat wie der Bundesrepublik werde die wachsende "Hintergrunderfüllung" von Bedürfnissen durch eine immer perfektere Versorgung zwar als Entlastung und Freiheit erlebt, subjektiv aber zugleich als wachsende Entfremdung, die in Gewalt umschlagen kann, wo sie nicht durch Institutionen eingehegt wird.
So findet die Studie zu der herrschaftssoziologischen Frage ihres Themas keinen Zugang: Warum haben Staatsorgane, Sicherheitsbehörden, Justiz, Medien und Bevölkerung auf die Protestgewalt so und nicht anders reagiert? Inwiefern konnte gewaltsamer Protest eine Gesellschaftsordnung destabilisieren, die breitesten Schichten unverhoffte Konsumchancen bot und der so auch die politische Inklusion der Arbeiterschaft gelang? Sedlmaiers vage Hinweise auf die Ambivalenzen des staatlichen "Sicherheitsdispositivs" (Foucault) erklären bei näherem Hinsehen eher wenig. Zumal sich dieses Dispositiv seit der alten Bundesrepublik sicher nicht im Kern geändert hat, die Bedeutung des Massenkonsums für die Legitimation staatlicher Herrschaft aber sehr wohl.
FLORIAN MEINEL
Alexander Sedlmaier: "Konsum und Gewalt". Radikaler Protest in der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 451 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die laute Ankunft der Konsumgesellschaft: Alexander Sedlmaier schreibt eine Geschichte gewaltsamer Proteste in der alten Bundesrepublik.
Konsumkritik argumentiert heute ökologisch. Das scheint so selbstverständlich, dass man sich eine Konsumkritik ohne Ökologie kaum mehr vorzustellen vermag. Von ihr handelt eine jetzt auf deutsch erschienene Studie des Historikers Alexander Sedlmaier, nach deren Lektüre man nicht zuletzt die Neuausrichtung der Konsumkritik durch die ökologische Bewegung besser versteht: Das gilt vor allem für die zum Klischee gewordene progressive Osmose von Konsum und Anti-Konsum-Haltung: der SUV auf dem Parkplatz des Bio-Supermarkts in Prenzlauer Berg. Diese Osmose beruht auf einem höchst anspruchsvollen Vorgang, den man als Kommodifizierung des Protests bezeichnen könnte, also als Internalisierung des Dagegenseins in der Form der Ware. Die Warenform zeigt ihre Abstraktheit gerade darin, dass sie sich auch ihre Negation unterwerfen kann: Konsumeliten kaufen Kartoffeln lieber mit Erde dran, wegen der Agrarindustrie.
In der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders gab sich Konsumkritik dagegen durchweg als Sozialpolitik. "Lernt vom Nikolaus - Räumt das Kaufhaus aus!" titelte die anarchistische Berliner Zeitschrift "Agit 883" in ihrer Weihnachtsausgabe von 1970. Denn, so der Westberliner Sozialistische Deutsche Studentenbund damals: "Die ökonomische Entwicklung ist heute an einem Punkt angelangt, wo die Waren umsonst verteilt werden können." Doch schon da begannen die theoretischen Fragen: Bestätigt das nicht die Menschen in ihrem falschen Bedürfnis nach Waren? Ist es da nicht besser, das Kaufhaus gleich anzuzünden? Brandstiftung wiederum galt vielen als Ausdruck existentialistischer Selbstgefälligkeit, ohne Nutzen für die werktätigen Massen.
In Sedlmaiers Diskursgeschichte des Radikalismus ist nicht nur viel über Motive der Gewalt, sondern fast noch mehr über das Selbstverständnis der westdeutschen Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit zu lernen, zum Beispiel über ihre Fixierung auf das Kaufhaus. Es war die Ikone des urbanen Alltags und der politischen Legitimation der jungen Bundesrepublik und deswegen als Objekt und Bühne des gewaltsamen Protestes besonders gut geeignet. Zugleich stellte das Kaufhaus den Marxismus vor ein echtes theoretisches Problem: In der orthodoxen Dialektik von Privateigentum an Produktionsmitteln und der Öffentlichkeit des bürgerlichen Staates hatte die Welt des Einzelhandels nämlich keinen rechten Ort. Die sich formierende Stadtguerrilla war, so gesehen, nichts anderes als die Verschiebung der revolutionären Strategie von den Produktionsmitteln auf die Verteilungs- und Konsumsphäre. Was mit Kaufhausaktionen einzelner linker Gruppen Anfang der sechziger Jahre begann, ging mit Kampagnen gegen die "Bild"-Zeitung weiter und mündete in der Globalisierung der konsumkritischen Bewegung in den achtziger Jahren.
Wie aber fügt sich die Protestgeschichte ein in die Geschichte des Konsums, gegen den sie sich richtet? Bei Sedlmaier finden sich dazu leider nur Andeutungen. Man ahnt eher, wie eng die Möglichkeit gewaltsamer Aktionen gegen die Konsumgesellschaft ihrerseits mit der Diversifizierung des Konsumangebots zusammenhing: Nur solange der Einzelhandel mit Industrieprodukten das gesellschaftlich schlechthin Neue darstellt, ist er als Objekt von Gewalt plausibel. Sobald es aber eine alternative Szene aus Lebensmittel-Kooperativen, Second-Hand-Läden und Mitfahrgelegenheiten gibt, werden zum Beispiel die Argumente für Kaufhausbrandstiftungen komplizierter. Man kann seine Energie ja auch produktiv nutzen. Dann verlegt sich der Protest - wie in den achtziger Jahren - zunehmend auf die Systeme der Daseinsvorsorge, zu denen es damals noch keine Alternative gab: die Verkehrsbetriebe oder die Presse.
Die Geschichte von Konsum und Gewalt ist aber auch eine kleine Ideengeschichte der alten Bundesrepublik. Protest- und Theoriegeschichte hängen eng zusammen, weil die Protagonisten besessen waren von einer theoretischen Rechtfertigung der Gewalt. Während sich Ulrike Meinhof, auf deren massiven Antisemitismus auch Sedlmaier noch einmal hinweist, mit technischen Fragen des Werkschutzes beschäftigte, schrieb sie Texte zur Theorie des Massenkonsums. Den Anspruch, auch diese Ideengeschichte zu rekonstruieren, löst das Buch aber nur sehr bedingt ein, weil Sedlmaier sich mit einem einzigen Schlüsselautor zufriedengibt: mit Herbert Marcuse nämlich, der seine Marx- und Freud-Lektüren in den sechziger Jahren zu einer Theorie popularisierte, in der der westdeutsche Staat zuverlässig als autoritärer Hüter des falschen Bewusstseins der Warenkonsumenten entlarvt wurde.
Dass Marcuses Theorie des "eindimensionalen Menschen", die ihren Verfasser zum Star von 1968 machte, ihrerseits etwas eindimensional war, ist oft bemerkt worden, zeigt sich aber auch hier. Keinem anderen Autor wird Sedlmaier gerecht, noch nicht einmal Adorno, Horkheimer und Habermas. Und sicher hätte das Buch mit einem Seitenblick auf die konservative Kritik der Konsumgesellschaft gewonnen. So verdankt die Soziologie Arnold Gehlen einige der gründlichsten Überlegungen zum Zusammenhang von Lebensstandard, Massenkonsum, politischer Legitimität und Gewalt. Noch bevor das erste Schaufenster in Scherben ging, hatte Gehlen eine Art Gleichgewichtsregel postuliert: In einem Staat wie der Bundesrepublik werde die wachsende "Hintergrunderfüllung" von Bedürfnissen durch eine immer perfektere Versorgung zwar als Entlastung und Freiheit erlebt, subjektiv aber zugleich als wachsende Entfremdung, die in Gewalt umschlagen kann, wo sie nicht durch Institutionen eingehegt wird.
So findet die Studie zu der herrschaftssoziologischen Frage ihres Themas keinen Zugang: Warum haben Staatsorgane, Sicherheitsbehörden, Justiz, Medien und Bevölkerung auf die Protestgewalt so und nicht anders reagiert? Inwiefern konnte gewaltsamer Protest eine Gesellschaftsordnung destabilisieren, die breitesten Schichten unverhoffte Konsumchancen bot und der so auch die politische Inklusion der Arbeiterschaft gelang? Sedlmaiers vage Hinweise auf die Ambivalenzen des staatlichen "Sicherheitsdispositivs" (Foucault) erklären bei näherem Hinsehen eher wenig. Zumal sich dieses Dispositiv seit der alten Bundesrepublik sicher nicht im Kern geändert hat, die Bedeutung des Massenkonsums für die Legitimation staatlicher Herrschaft aber sehr wohl.
FLORIAN MEINEL
Alexander Sedlmaier: "Konsum und Gewalt". Radikaler Protest in der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 451 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2018Brand
und Boykott
Alexander Sedlmaier untersucht
„Konsum und Gewalt“
„Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen“, schrieb 1968 die Kommune I auf einem Flugblatt über eine Brüsseler Brandkatastrophe, vermittele zum ersten Mal auch in einer europäischen Großstadt „jenes knisternde Vietnamgefühl“. Die Kommunarden brachten mit dem zynischen Vergleich die 300 Toten in Belgiens größtem Kaufhaus mit den Napalm-Bombardements in Vietnam zusammen.
Mitten in der Durchsetzung der Konsumgesellschaft in allen Schichten entstand während der 1960er-Jahre eine radikale Form linker Kritik an der neuen Glitzerwelt des Massenkonsums. Die Verschiebung der marxistischen Analyse von der Produktionssphäre in die der Konsumption war folgenreich. Herrschaft war nicht nur Ausbeutung durch entfremdete Lohnarbeit, sondern Herrschaft der Ware über den Menschen und sein kolonisiertes Bewusstsein. Durch Kommodifikation des Lebens und reines Konsumdenken sahen die Denker der Frankfurter Schule alle Lebensbezirke auf einen Tauschwert reduziert. Die Illusion der Selbstverwirklichung durch Konsum werde durch die „Kulturindustrie“ und ihre Vorspiegelung „falscher Bedürfnisse“ genährt. Kaufen mache nicht frei, sondern abhängig und unselbständig. Statt Kreativität und Selbstbestimmung fördere der allgegenwärtige Konsum Egoismus und Oberflächlichkeit.
Längst ist an die Stelle dieser linksradikalen Kritik am „Konsumterror“ ein moralischer Konsum getreten. Anstatt revolutionär aufgemachter Generalkritik an der angeblich totalitären Konsumwelt wird heutzutage versucht, durch den Kauf nachhaltiger, ökologischer und fair gehandelter Güter oder den Boykott besonders schädlicher Produkte konkreten Einfluss auszuüben auf die inhumanen oder ökologisch fatalen Bedingungen der Konsumgüterproduktion im globalen Osten und Süden.
Alexander Sedlmaier führt uns mit seiner vorbildlich genau recherchierten Studie zurück in den revolutionären Appeal der Sechziger- bis Achtzigerjahre in Deutschland, wenn er uns die gewaltsamen Guerillapraktiken gegen die „Konsumscheiße“ vor Augen führt, angefangen bei den Aufforderungen zu Diebstahl, Plünderungen und dem Einwerfen von Schaufensterscheiben über die gewaltgeladenen Anti-Springer-Kampagnen gegen den boulevardesken „Konsumjournalismus“ bis hin zu Formen der illegalen Aneignung öffentlicher Güter, wie bei den Protesten gegen die Kostensteigerungen im öffentlichen Nahverkehr. Mit den Hausbesetzern der Achtzigerjahre, die sich zum Teil militant gegen überbordendes Spekulantentum und eine Baupolitik der autogerechten Innenstädte wendeten, werden alternative Formen des Wohnens und Arbeitens behandelt.
Das Buch endet mit einem sehr instruktiven Kapitel über das ökologische Bewusstsein als Wegbereiter einer neuen Sensibilität für den zerstörerischen Einfluss bestimmter Konsumgüter und deren globale Verflechtung in komplexen Warenketten. Sedlmaier zeigt das detailliert an Beispielen wie den gezielten bundesdeutschen Warenboykotten gegen Tropenhölzer, gegen Früchte aus dem südafrikanischen Apartheidsregime oder gegen Kaffee aus der Militärdiktatur El Salvadors.
Einige Kontextualisierungen dieser umfassenden Studie zu Theorie und Praxis der Konsumkritik hätte man sich aber dennoch gewünscht. So bleibt der systematische Zusammenhang zwischen linker Konsumkritik und der gesellschaftlichen Durchsetzung der Konsumgesellschaft unklar. Die Frage nach den historischen Konjunkturen von Konsumprotesten wird nicht einmal aufgeworfen. Dass radikale Konsumkritik jenseits der 1960er- bis 1980er-Jahre auf eine längere Tradition zurückblickt, ist freilich unstrittig, hatte doch schon Jean-Jacques Rousseau den Luxus als Ursache von Sklaverei und Krieg gebrandmarkt. Auch gründlichere, systematischere Einblicke in die außerdeutsche Geschichte hätte man sich gewünscht. Ein Sonderweg, so konstatiert Sedlmaier, war diese deutsche Radikalisierung der Konsumkritik jedenfalls nicht. Das zeigen ähnliche Forderungen niederländischer Hausbesetzer, italienischer Autonomer oder von Globalisierungsgegnern in Indien, Südafrika und Brasilien.
SVEN REICHARDT
Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018. 463 Seiten, 32 Euro.
Ein deutscher Sonderweg
war diese radikale
Konsumkritik nicht
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und Boykott
Alexander Sedlmaier untersucht
„Konsum und Gewalt“
„Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen“, schrieb 1968 die Kommune I auf einem Flugblatt über eine Brüsseler Brandkatastrophe, vermittele zum ersten Mal auch in einer europäischen Großstadt „jenes knisternde Vietnamgefühl“. Die Kommunarden brachten mit dem zynischen Vergleich die 300 Toten in Belgiens größtem Kaufhaus mit den Napalm-Bombardements in Vietnam zusammen.
Mitten in der Durchsetzung der Konsumgesellschaft in allen Schichten entstand während der 1960er-Jahre eine radikale Form linker Kritik an der neuen Glitzerwelt des Massenkonsums. Die Verschiebung der marxistischen Analyse von der Produktionssphäre in die der Konsumption war folgenreich. Herrschaft war nicht nur Ausbeutung durch entfremdete Lohnarbeit, sondern Herrschaft der Ware über den Menschen und sein kolonisiertes Bewusstsein. Durch Kommodifikation des Lebens und reines Konsumdenken sahen die Denker der Frankfurter Schule alle Lebensbezirke auf einen Tauschwert reduziert. Die Illusion der Selbstverwirklichung durch Konsum werde durch die „Kulturindustrie“ und ihre Vorspiegelung „falscher Bedürfnisse“ genährt. Kaufen mache nicht frei, sondern abhängig und unselbständig. Statt Kreativität und Selbstbestimmung fördere der allgegenwärtige Konsum Egoismus und Oberflächlichkeit.
Längst ist an die Stelle dieser linksradikalen Kritik am „Konsumterror“ ein moralischer Konsum getreten. Anstatt revolutionär aufgemachter Generalkritik an der angeblich totalitären Konsumwelt wird heutzutage versucht, durch den Kauf nachhaltiger, ökologischer und fair gehandelter Güter oder den Boykott besonders schädlicher Produkte konkreten Einfluss auszuüben auf die inhumanen oder ökologisch fatalen Bedingungen der Konsumgüterproduktion im globalen Osten und Süden.
Alexander Sedlmaier führt uns mit seiner vorbildlich genau recherchierten Studie zurück in den revolutionären Appeal der Sechziger- bis Achtzigerjahre in Deutschland, wenn er uns die gewaltsamen Guerillapraktiken gegen die „Konsumscheiße“ vor Augen führt, angefangen bei den Aufforderungen zu Diebstahl, Plünderungen und dem Einwerfen von Schaufensterscheiben über die gewaltgeladenen Anti-Springer-Kampagnen gegen den boulevardesken „Konsumjournalismus“ bis hin zu Formen der illegalen Aneignung öffentlicher Güter, wie bei den Protesten gegen die Kostensteigerungen im öffentlichen Nahverkehr. Mit den Hausbesetzern der Achtzigerjahre, die sich zum Teil militant gegen überbordendes Spekulantentum und eine Baupolitik der autogerechten Innenstädte wendeten, werden alternative Formen des Wohnens und Arbeitens behandelt.
Das Buch endet mit einem sehr instruktiven Kapitel über das ökologische Bewusstsein als Wegbereiter einer neuen Sensibilität für den zerstörerischen Einfluss bestimmter Konsumgüter und deren globale Verflechtung in komplexen Warenketten. Sedlmaier zeigt das detailliert an Beispielen wie den gezielten bundesdeutschen Warenboykotten gegen Tropenhölzer, gegen Früchte aus dem südafrikanischen Apartheidsregime oder gegen Kaffee aus der Militärdiktatur El Salvadors.
Einige Kontextualisierungen dieser umfassenden Studie zu Theorie und Praxis der Konsumkritik hätte man sich aber dennoch gewünscht. So bleibt der systematische Zusammenhang zwischen linker Konsumkritik und der gesellschaftlichen Durchsetzung der Konsumgesellschaft unklar. Die Frage nach den historischen Konjunkturen von Konsumprotesten wird nicht einmal aufgeworfen. Dass radikale Konsumkritik jenseits der 1960er- bis 1980er-Jahre auf eine längere Tradition zurückblickt, ist freilich unstrittig, hatte doch schon Jean-Jacques Rousseau den Luxus als Ursache von Sklaverei und Krieg gebrandmarkt. Auch gründlichere, systematischere Einblicke in die außerdeutsche Geschichte hätte man sich gewünscht. Ein Sonderweg, so konstatiert Sedlmaier, war diese deutsche Radikalisierung der Konsumkritik jedenfalls nicht. Das zeigen ähnliche Forderungen niederländischer Hausbesetzer, italienischer Autonomer oder von Globalisierungsgegnern in Indien, Südafrika und Brasilien.
SVEN REICHARDT
Alexander Sedlmaier: Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018. 463 Seiten, 32 Euro.
Ein deutscher Sonderweg
war diese radikale
Konsumkritik nicht
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»Sedlmaiers Buch liefert eine Fülle an Details für alle, die sich die teils originelle und geistreiche, teils dogmatische und brutale Geschichte der Fragen interessieren, die in der Wohlstandsgesellschaft von heute aufkommen ... « Ariane Bemmer Der Tagesspiegel 20180314