Eine Gruppe von Reservisten wird nachts zu einer einsamen Schranke im Wald gebracht und dort alleingelassen. Keiner von ihnen weiß, was und wen sie an dem Kontrollpunkt beobachten, gegen wen und warum sie kämpfen sollen. Die namenlosen Soldaten wissen nicht einmal, ob der Krieg überhaupt noch andauert. Ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt sind sie allein ihrem Kommandanten unterstellt. In dieser kafkaesken Situation kommt es zu merkwürdigen Begegnungen mit Flüchtlingen, mit einer Meute von Kriegsberichterstattern, Orgien und Massenvergewaltigungen sowie zu mysteriösen Morden. Am Ende bleibt nur der Kommandant übrig. Doch nachdem er eben noch in einer Baumkrone ausgeharrt hat, findet er sich plötzlich in seiner Wohnung wieder, wo er über den Bildschirm in ein Gespräch mit der Moderatorin einer Reality Show verwickelt wird. Eindringlicher als reale Berichte über Kriegsgräuel vermittelt Kontrollpunkt auf schaurig-komische Weise ein Gefühl von der Sinnlosigkeit des Krieges, der Verlorenheit des Einzelnen und der Entmenschlichung der Gesellschaft.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Das erste, was einem an David Albaharis Romanen auffällt, ist, dass ihnen die Absätze abgehen, weiß Lothar Müller. Die Absatzlosigkeit ist bei Albahari aber kein Anzeichen für Wortschwälle und atemlose Unmittelbarkeit, sondern steht im harten Kontrast zur bewussten Künstlichkeit, sie macht auf den Text als Schrift aufmerksam, erklärt der Rezensent. Auch Albaharis neuer Roman "Kontrollpunkt" ist deutlich inszeniert, so Müller: eine Gruppe Soldaten wacht über einen Schlagbaum an einer unbekannten Grenze, vielleicht ist schon Krieg, vielleicht noch nicht; in einfacher, klarer Sprache, die sich dem Befehlston der Soldaten andient, schildert Albahari aus der Perspektive eines diffusen Wir den leerlaufenden Alltag der Truppe, in dem auch Tote bloß teil des Protokolls sind, fasst der Rezensent zusammen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2013Warten auf die Barbaren
Europa zerfällt: David Albaharis Anti-Kriegsroman
Kafkaesk ist gar kein Ausdruck für das, was in diesem Roman vor sich geht: Ein namenloser Trupp von Rekruten soll auf einer Anhöhe einen Kontrollpunkt bewachen. Doch die Soldaten wissen nicht, was sie dort sollen: Welche Grenze wird bewacht? Wer ist der Feind? Ist überhaupt noch Krieg? Man hat keinen Kontakt mehr zur Zentrale; niemand kommt, den man überprüfen könnte. Dennoch besteht der Kommandant darauf, den Posten zu halten. Die absurde Ausgangssituation, die der 1994 aus Belgrad nach Kanada ausgewanderte Erzähler David Albahari in "Kontrollpunkt" schildert, führt auf knapp 180 Seiten in immer wilderer Ausschweifung vor Augen, wie Krieg entsteht, wenn man nur mit ihm rechnet und sich dafür gerüstet hält.
Auf ihrer Anhöhe wird die demoralisierte Truppe vom ebenso rat- wie ahnungslosen Kommandanten zunächst mit sinnlosen Reglements und der Organisation der Kloake auf Trab gehalten. Dann setzt plötzlich eine Spirale der Gewalt ein: Ein Soldat nach dem anderen wird umgebracht, ein ausgesandter Späher findet in einem Bauernhaus verstümmelte Zivilisten. Wer sind die Täter? Waren es die Soldaten selbst? Die Situation eskaliert, als ein Flüchtlingstreck eintrifft.
Nichts ist hier gewiss: Weder ist das Terrain zutreffend kartographiert, noch ist man sich über die Zeitebene im Klaren. Wo Bauernhäuser stehen, sollte angeblich seit Jahrzehnten ein Staudamm sein. Es wird geraunt, Eingeborene trieben mit Pfeil und Bogen ihr Unwesen. Realitäten überlagern sich; jeder will etwas anderes wahrgenommen haben, und jeder geht augenzwinkernd nonchalant mit den eigenen Untaten um. Zwischen der kollektiven Erzählstimme der Rekruten, einem unbestimmten "Wir", und der phantastisch überdrehenden Erzählperspektive des Kommandanten löst sich jegliche Verantwortung in Luft auf.
Parallel dazu wird die Realität des Romans immer brüchiger. Die einzige Figur, die einen Eigennamen trägt, stirbt und feiert Wiederauferstehung. Journalisten und Kindersoldaten tauchen plötzlich auf. Die Schlusspointe kommt dennoch überraschend.
Albahari bietet einiges an Mitteln auf, um der Obszönität des Krieges künstlerisch habhaft zu werden. In den atemlosen verschachtelten Sätzen des Romans verschmelzen Traum und Trauma, Parodie und Paradoxie, Gewalt und Groteske in einer Weise, die an Kafka, Musil, Benn oder Beckett erinnert. Chaplins "Großer Diktator" mag für die Figur des Kommandanten Pate gestanden haben, eines Mannes, der unter anderem bei den UN-Blauhelmen war und von seinen Untergebenen für einen Soldaten alter Schule gehalten wird. Den Rekruten gegenüber unnachgiebig, erweist er sich als wehleidig und paranoid, geriert sich als Schöngeist und Künstler. Mit wohligem Schauer denkt er an pädophile Erlebnisse in den Bordellen der Krisengebiete zurück.
Albahari ist ein grandioser Erzähler: scharfsinnig und hochironisch. Dennoch überzeugt sein Roman nicht ganz. Aus der nicht enden wollenden Eskalation, die er anzettelt, findet der Text nicht mehr heraus. Die angehäuften Grässlichkeiten erscheinen im Einzelnen beliebig. Merkwürdig anachronistisch wirkt dieser Antikriegsroman. Ob es an der parabelhaften Form liegt?
Die eigentliche Provokation von "Kontrollpunkt" könnte jedoch darin liegen, dass das Buch über den rein jugoslawischen Kontext hinausgeht, den die Herkunft des Autors nahelegt. Denn sein Kommandant macht ein auseinanderbrechendes Europa als künftiges Kriegsgebiet aus: "Wenn es zum Zerfall des vereinten Europa und in einigen Staaten zu Auseinandersetzungen und folglich zu Aufspaltungen in proeuropäische und antieuropäische Kräfte gekommen war, dann durfte man annehmen, dass es Dutzende von möglichen und tatsächlichen Gegnern gab."
JUDITH LEISTER
David Albahari: "Kontrollpunkt". Roman.
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt 2013. 184 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europa zerfällt: David Albaharis Anti-Kriegsroman
Kafkaesk ist gar kein Ausdruck für das, was in diesem Roman vor sich geht: Ein namenloser Trupp von Rekruten soll auf einer Anhöhe einen Kontrollpunkt bewachen. Doch die Soldaten wissen nicht, was sie dort sollen: Welche Grenze wird bewacht? Wer ist der Feind? Ist überhaupt noch Krieg? Man hat keinen Kontakt mehr zur Zentrale; niemand kommt, den man überprüfen könnte. Dennoch besteht der Kommandant darauf, den Posten zu halten. Die absurde Ausgangssituation, die der 1994 aus Belgrad nach Kanada ausgewanderte Erzähler David Albahari in "Kontrollpunkt" schildert, führt auf knapp 180 Seiten in immer wilderer Ausschweifung vor Augen, wie Krieg entsteht, wenn man nur mit ihm rechnet und sich dafür gerüstet hält.
Auf ihrer Anhöhe wird die demoralisierte Truppe vom ebenso rat- wie ahnungslosen Kommandanten zunächst mit sinnlosen Reglements und der Organisation der Kloake auf Trab gehalten. Dann setzt plötzlich eine Spirale der Gewalt ein: Ein Soldat nach dem anderen wird umgebracht, ein ausgesandter Späher findet in einem Bauernhaus verstümmelte Zivilisten. Wer sind die Täter? Waren es die Soldaten selbst? Die Situation eskaliert, als ein Flüchtlingstreck eintrifft.
Nichts ist hier gewiss: Weder ist das Terrain zutreffend kartographiert, noch ist man sich über die Zeitebene im Klaren. Wo Bauernhäuser stehen, sollte angeblich seit Jahrzehnten ein Staudamm sein. Es wird geraunt, Eingeborene trieben mit Pfeil und Bogen ihr Unwesen. Realitäten überlagern sich; jeder will etwas anderes wahrgenommen haben, und jeder geht augenzwinkernd nonchalant mit den eigenen Untaten um. Zwischen der kollektiven Erzählstimme der Rekruten, einem unbestimmten "Wir", und der phantastisch überdrehenden Erzählperspektive des Kommandanten löst sich jegliche Verantwortung in Luft auf.
Parallel dazu wird die Realität des Romans immer brüchiger. Die einzige Figur, die einen Eigennamen trägt, stirbt und feiert Wiederauferstehung. Journalisten und Kindersoldaten tauchen plötzlich auf. Die Schlusspointe kommt dennoch überraschend.
Albahari bietet einiges an Mitteln auf, um der Obszönität des Krieges künstlerisch habhaft zu werden. In den atemlosen verschachtelten Sätzen des Romans verschmelzen Traum und Trauma, Parodie und Paradoxie, Gewalt und Groteske in einer Weise, die an Kafka, Musil, Benn oder Beckett erinnert. Chaplins "Großer Diktator" mag für die Figur des Kommandanten Pate gestanden haben, eines Mannes, der unter anderem bei den UN-Blauhelmen war und von seinen Untergebenen für einen Soldaten alter Schule gehalten wird. Den Rekruten gegenüber unnachgiebig, erweist er sich als wehleidig und paranoid, geriert sich als Schöngeist und Künstler. Mit wohligem Schauer denkt er an pädophile Erlebnisse in den Bordellen der Krisengebiete zurück.
Albahari ist ein grandioser Erzähler: scharfsinnig und hochironisch. Dennoch überzeugt sein Roman nicht ganz. Aus der nicht enden wollenden Eskalation, die er anzettelt, findet der Text nicht mehr heraus. Die angehäuften Grässlichkeiten erscheinen im Einzelnen beliebig. Merkwürdig anachronistisch wirkt dieser Antikriegsroman. Ob es an der parabelhaften Form liegt?
Die eigentliche Provokation von "Kontrollpunkt" könnte jedoch darin liegen, dass das Buch über den rein jugoslawischen Kontext hinausgeht, den die Herkunft des Autors nahelegt. Denn sein Kommandant macht ein auseinanderbrechendes Europa als künftiges Kriegsgebiet aus: "Wenn es zum Zerfall des vereinten Europa und in einigen Staaten zu Auseinandersetzungen und folglich zu Aufspaltungen in proeuropäische und antieuropäische Kräfte gekommen war, dann durfte man annehmen, dass es Dutzende von möglichen und tatsächlichen Gegnern gab."
JUDITH LEISTER
David Albahari: "Kontrollpunkt". Roman.
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt 2013. 184 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2014Krieg
ohne Schlacht
David Albaharis schmaler,
großer Roman „Kontrollpunkt“
Sie sind, wenn sie da sind, unauffällig, selbstverständlich, der Blick des Lesers scheint über sie hinwegzugleiten: die Absätze auf einer Buchseite. Aber wenn sie nicht da sind, fällt auf, dass sie fehlen. Es gibt dann keine Lücken im Satzspiegel, jede Zeile ist bis an den Rand mit Buchstaben gefüllt, das Weiß zieht sich in den Raum zwischen den Zeilen und Wörtern zurück. Nur Prosa lässt sich so fugenlos und kompakt setzen, ohne Einzüge, die ja nicht nur visuell den Text unterbrechen: jeder Absatz ist ein Fluchtpunkt, eine Zäsur, auf die hin das Auge liest, ein Angebot für eine Pause, mag sie noch so klein sein, für ein Innehalten an einem Scheitelpunkt, von dem aus der Blick zurückfällt auf das soeben Gelesene, ehe die Lektüre voranschreitet.
Seit zwanzig Jahren schreibt der aus Serbien stammende Autor David Albahari – er wurde 1948 in Péc im Kosovo geboren – absatzlose Romane. Als schmale Fragmente, die mal Grabplatten ähneln, mal Gedenksteinen, mal beschrifteten Spiegeln, fügt er sie zu einem großen Tableau seiner Herkunftswelt zusammen, zu einem der bedeutendsten Prosawerke in der europäischen Gegenwartsliteratur. In dem Roman „Mutterland“ aus dem Jahr 1996 – die deutsche Fassung wurde im Herbst neu aufgelegt – ist der autobiographische Kern am leichtesten zu erkennen. Von alten Tonbändern spricht darin die Stimme der toten Mutter des Autors, aufgenommen vom Sohn zu Lebzeiten, eingebettet in die Erinnerung an ihren ersten Mann, den die Deutschen deportierten und erschossen, an die Kinder, an den zweiten Mann, den Juden, der die Lagerhaft hinter sich hatte, bis hin zu den Balkankriegen der 1990er Jahre.
Die Absatzlosigkeit ist bei David Albahari nicht mit der Atemlosigkeit der mündlichen Stimme im Bunde, mit dem pausenlosen Erzählen oder mit dem Sturzbach der Tirade wie bei Thomas Bernhard – sie ist das Zeichen der Distanz seiner Prosa zu aller Unmittelbarkeit, das Zeichen ihrer Künstlichkeit. Er hat dieses Zeichen entwickelt, als er 1994 ins Exil ging, nach Calgary, Kanada, wo er seither die meiste Zeit lebt, von wo er aber immer wieder nach Europa zurückkehrt. Sein jüngster absatzloser Roman, „Kontrollpunkt“, der im Original 2010 erschien, treibt ein Zentralmotiv dieses Autors in die Regionen eines schauerlichen, grotesk-komischen Slapstick: den Balkan als Kriegslandschaft. Die Prosa umkreist darin den Kontrollpunkt, den sie im Titel trägt, in einer beklemmenden, scheinbar endlosen, ausweglosen Bewegung. Es ist ein militärischer Kontrollpunkt, eine Sperre mit Schlagbaum an einer Anhöhe, umgeben von Waldgebieten, in denen der Feind lauert oder lauern könnte – aber es ist durchaus unklar, wer dieser Feind ist, ob der Kontrollpunkt die Grenze zwischen zwei Staaten oder nur zwei Dörfern markiert, ob hier überhaupt jemals irgendwer kontrolliert wird und ob der Krieg nicht womöglich längst zu Ende ist – oder noch gar nicht begonnen hat.
Ein anonymes „Wir“ hat die Berichterstatterrolle inne, es ist das „Wir“ einer kleinen Soldatenschar, die zunehmende dezimiert wird und unter dem Befehl eines Kommandanten steht, der alle Routinen eines Kommandanten ausführt, obwohl es leerlaufende Routinen sind. Dieser Kommandant, der in seiner Jugend von der völkerverbindenden Kraft des Esperanto geträumt hat, ist wie alle Figuren ein Zwitterwesen, der historischen Realität der jüngeren Kriege entsprungen, aber zugleich ein von dieser Realität abgetrenntes Kunstwesen, Geschöpf der absatzlosen Prosa, nur in ihr vorstellbar und lebensfähig. Mirjana und Klaus Wittmann haben diese Prosa erfolgreich ins Deutsche übertragen.
„Die Kommandosprache muss einfach, für alle klar und verständlich und doch ein wenig geheimnisvoll sein. Eine Sprache, die kein Geheimnis in sich birgt, ist keine gute Sprache. Eine Sprache erobert uns, indem sie in uns den Wunsch weckt, sie zu erobern, was der Sprache, die über unsern Funk erklang, nicht von der Hand ging, oder genauer gesagt, vom Mund, denn die Sprache ist Mund und ein wenig Nase und ein wenig Kehle.“ In diesem Roman ist sie zugleich immer Schrift, fern jeder Unmittelbarkeitsfiktion, jeder Suggestion einer dem Leben abgelauschten Reportage.
Aber alles Leben nimmt diese Prosa, in der wie bei Kafka die Undurchschaubarkeit und Unklarheit des Geschehens aus der äußersten Klarheit und Einfachheit des Satzbaus hervorgeht, in sich auf: Kehlen, die durchschnitten, Frauen, die vergewaltigt, Zivilisten, die erschossen werden, Kundschafter, die nicht zurückkehren, Wachposten, die die Nacht nicht überleben, Handys, die stumm bleiben, Journalisten, die Frontsoldaten interviewen, Panzer, die Menschenleiber überrollen, Bilder, Phantasien und Träume, die den Kommandanten und seinen schwindenden Trupp heimsuchen, bis er – wie eine Schar von Beckett-Clowns, die vergeblich auf Godot gewartet hat – den Kontrollpunkt verlässt. Und nur ein Satz geht nicht bis zum Zeilenende, der letzte: „Draußen herrschte immerhin Krieg.“
LOTHAR MÜLLER
David Albahari: Kontrollpunkt. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana
und Klaus Wittmann.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 184 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ohne Schlacht
David Albaharis schmaler,
großer Roman „Kontrollpunkt“
Sie sind, wenn sie da sind, unauffällig, selbstverständlich, der Blick des Lesers scheint über sie hinwegzugleiten: die Absätze auf einer Buchseite. Aber wenn sie nicht da sind, fällt auf, dass sie fehlen. Es gibt dann keine Lücken im Satzspiegel, jede Zeile ist bis an den Rand mit Buchstaben gefüllt, das Weiß zieht sich in den Raum zwischen den Zeilen und Wörtern zurück. Nur Prosa lässt sich so fugenlos und kompakt setzen, ohne Einzüge, die ja nicht nur visuell den Text unterbrechen: jeder Absatz ist ein Fluchtpunkt, eine Zäsur, auf die hin das Auge liest, ein Angebot für eine Pause, mag sie noch so klein sein, für ein Innehalten an einem Scheitelpunkt, von dem aus der Blick zurückfällt auf das soeben Gelesene, ehe die Lektüre voranschreitet.
Seit zwanzig Jahren schreibt der aus Serbien stammende Autor David Albahari – er wurde 1948 in Péc im Kosovo geboren – absatzlose Romane. Als schmale Fragmente, die mal Grabplatten ähneln, mal Gedenksteinen, mal beschrifteten Spiegeln, fügt er sie zu einem großen Tableau seiner Herkunftswelt zusammen, zu einem der bedeutendsten Prosawerke in der europäischen Gegenwartsliteratur. In dem Roman „Mutterland“ aus dem Jahr 1996 – die deutsche Fassung wurde im Herbst neu aufgelegt – ist der autobiographische Kern am leichtesten zu erkennen. Von alten Tonbändern spricht darin die Stimme der toten Mutter des Autors, aufgenommen vom Sohn zu Lebzeiten, eingebettet in die Erinnerung an ihren ersten Mann, den die Deutschen deportierten und erschossen, an die Kinder, an den zweiten Mann, den Juden, der die Lagerhaft hinter sich hatte, bis hin zu den Balkankriegen der 1990er Jahre.
Die Absatzlosigkeit ist bei David Albahari nicht mit der Atemlosigkeit der mündlichen Stimme im Bunde, mit dem pausenlosen Erzählen oder mit dem Sturzbach der Tirade wie bei Thomas Bernhard – sie ist das Zeichen der Distanz seiner Prosa zu aller Unmittelbarkeit, das Zeichen ihrer Künstlichkeit. Er hat dieses Zeichen entwickelt, als er 1994 ins Exil ging, nach Calgary, Kanada, wo er seither die meiste Zeit lebt, von wo er aber immer wieder nach Europa zurückkehrt. Sein jüngster absatzloser Roman, „Kontrollpunkt“, der im Original 2010 erschien, treibt ein Zentralmotiv dieses Autors in die Regionen eines schauerlichen, grotesk-komischen Slapstick: den Balkan als Kriegslandschaft. Die Prosa umkreist darin den Kontrollpunkt, den sie im Titel trägt, in einer beklemmenden, scheinbar endlosen, ausweglosen Bewegung. Es ist ein militärischer Kontrollpunkt, eine Sperre mit Schlagbaum an einer Anhöhe, umgeben von Waldgebieten, in denen der Feind lauert oder lauern könnte – aber es ist durchaus unklar, wer dieser Feind ist, ob der Kontrollpunkt die Grenze zwischen zwei Staaten oder nur zwei Dörfern markiert, ob hier überhaupt jemals irgendwer kontrolliert wird und ob der Krieg nicht womöglich längst zu Ende ist – oder noch gar nicht begonnen hat.
Ein anonymes „Wir“ hat die Berichterstatterrolle inne, es ist das „Wir“ einer kleinen Soldatenschar, die zunehmende dezimiert wird und unter dem Befehl eines Kommandanten steht, der alle Routinen eines Kommandanten ausführt, obwohl es leerlaufende Routinen sind. Dieser Kommandant, der in seiner Jugend von der völkerverbindenden Kraft des Esperanto geträumt hat, ist wie alle Figuren ein Zwitterwesen, der historischen Realität der jüngeren Kriege entsprungen, aber zugleich ein von dieser Realität abgetrenntes Kunstwesen, Geschöpf der absatzlosen Prosa, nur in ihr vorstellbar und lebensfähig. Mirjana und Klaus Wittmann haben diese Prosa erfolgreich ins Deutsche übertragen.
„Die Kommandosprache muss einfach, für alle klar und verständlich und doch ein wenig geheimnisvoll sein. Eine Sprache, die kein Geheimnis in sich birgt, ist keine gute Sprache. Eine Sprache erobert uns, indem sie in uns den Wunsch weckt, sie zu erobern, was der Sprache, die über unsern Funk erklang, nicht von der Hand ging, oder genauer gesagt, vom Mund, denn die Sprache ist Mund und ein wenig Nase und ein wenig Kehle.“ In diesem Roman ist sie zugleich immer Schrift, fern jeder Unmittelbarkeitsfiktion, jeder Suggestion einer dem Leben abgelauschten Reportage.
Aber alles Leben nimmt diese Prosa, in der wie bei Kafka die Undurchschaubarkeit und Unklarheit des Geschehens aus der äußersten Klarheit und Einfachheit des Satzbaus hervorgeht, in sich auf: Kehlen, die durchschnitten, Frauen, die vergewaltigt, Zivilisten, die erschossen werden, Kundschafter, die nicht zurückkehren, Wachposten, die die Nacht nicht überleben, Handys, die stumm bleiben, Journalisten, die Frontsoldaten interviewen, Panzer, die Menschenleiber überrollen, Bilder, Phantasien und Träume, die den Kommandanten und seinen schwindenden Trupp heimsuchen, bis er – wie eine Schar von Beckett-Clowns, die vergeblich auf Godot gewartet hat – den Kontrollpunkt verlässt. Und nur ein Satz geht nicht bis zum Zeilenende, der letzte: „Draußen herrschte immerhin Krieg.“
LOTHAR MÜLLER
David Albahari: Kontrollpunkt. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana
und Klaus Wittmann.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 184 Seiten, 18,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Eine grosse Kakofonie, die auf grotesk-komische Weise alles vereinigt, was Literatur an Lächerlichem und Erhabenem, an Schönem und Schrecklichem, an Subtilem und Exaltiertem birgt.«Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung