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Die deutsche Kriegführung in Frankreich 1943/1944
"Wer kommt: Die plutokratischen Massen des Weltjudentums. Der Anglo-Amerikaner ohne Maske, um kein Haar besser als der Bolschewik, genau von demselben Vernichtungswillen erfüllt wie der asiatische Rotarmist." Mit solchen Worten versuchten nationalsozialistische Führungsoffiziere im Frühjahr 1944 die Soldaten der Wehrmacht auf die bevorstehende alliierte Landung in Frankreich einzustimmen. Die Spitzen von Staat und Armee wollten nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern auch gegen die Westmächte einen Weltanschauungskrieg führen. So verwundert es kaum, dass sich ihre Befehle zum fanatischen Kampf bis zur letzten Patrone nur wenig von den radikalen Anordnungen des Krieges im Osten unterschieden. Freilich streiten die Gelehrten darüber, ob und in welchem Ausmaß diese Anordnungen in Frankreich von der Truppe auch umgesetzt worden sind.
Tobte im Westen ein konventioneller Krieg oder ein NS-Weltanschauungskrieg? Peter Lieb geht dieser zentralen Frage nach und zieht alle verfügbaren Quellen heran: deutsche und in erheblichem Umfang auch solche der Vichy-Verwaltung. Als besonders ergiebig erwiesen sich zudem die Abhörprotokolle deutscher Soldaten in britischer Kriegsgefangenschaft. Die Gefangenen unterhielten sich sehr freimütig über ihre Erlebnisse in Frankreich - nicht ahnend, dass der britische Geheimdienst ihre Gespräche abhörte. Auf dieser Materialbasis ist es oftmals möglich, die Umstände der zahlreichen deutschen Kriegsverbrechen genau zu rekonstruieren und insbesondere die Täter zu benennen.
Lieb untersucht alle relevanten Ebenen des Krieges in Frankreich: die Kämpfe an der Front, die Partisanenbekämpfung, die Verbrechen während des Rückzuges und auch die völkerrechtliche Problematik. Eindeutig ist der Befund für das Geschehen an der Front: Sowohl die alliierten als auch die deutschen Truppen verübten Verbrechen. In summa wurde der Krieg hier aber weitgehend im Rahmen des Völkerrechts geführt. Der Verfasser betont allerdings die Unterschiede zwischen Wehrmacht und Waffen-SS. Letztere habe vielfach den vom NS-Regime geforderten radikalen "Weltanschauungskrieg" geführt. Selbst im Strudel des allgemeinen Zusammenbruchs im August und September 1944 kämpften die SS-Einheiten bis zum letzten Mann, während die Wehrmachtsoldaten zu diesem Zeitpunkt meist die Gefangenschaft dem "Heldentod" vorzogen.
Auch die große Mehrheit der überlieferten Gefangenenerschießungen geht auf das Konto der Waffen-SS. Hier stach die besonders ideologisierte SS-Division "Hitlerjugend" hervor, die in den ersten Tagen der Kämpfe in der Normandie mindestens 187 kanadische Kriegsgefangene erschoss. Der Partisanenkrieg in Frankreich hat sich mit den flächendeckenden Anschlägen des Maquis seit Beginn der alliierten Landung in der Normandie erheblich intensiviert und sehr schnell radikalisiert. Eine zentrale Rolle bei der Eskalation der Gewalt spielten der SD und die Waffen-SS. Obgleich die Wehrmacht sehr wohl zahlreiche größere und kleinere Massaker verübte, war es die SS-Division "Das Reich", die mit einer beispiellosen Brutalität alle Geschehnisse in Frankreich in den Schatten stellte. Mit der Ermordung aller Einwohner von Oradour-sur-Glane war diese Einheit für das grausamste deutsche Besatzungsverbrechen in Frankreich verantwortlich. Insgesamt sind der deutschen Partisanenbekämpfung rund 13 000 bis 16 000 Franzosen zum Opfer gefallen, darunter, wie Lieb herausarbeitet, 4000 bis 5000 vollkommen unbeteiligte Zivilisten. Weitere 65 000 Männer sind aus politischen Gründen oder wegen Widerstandshandlungen in deutsche Konzentrationslager deportiert worden, wo 40 Prozent von ihnen umkamen.
Der von der nationalsozialistischen Führung geplante Weltanschauungskrieg gegen die Westalliierten fand aber nicht statt. Dies gilt vor allem für die Kämpfe an der Front, für die befohlenen Zerstörungen während des Rückzuges, aber letztlich auch für die Operationen gegen die Partisanen. Die französische Widerstandsbewegung wurde als militärischer Störfaktor wahrgenommen, nicht als ideologischer Todfeind. Allerdings muss bedacht werden, dass die Eskalation der Gewalt in Frankreich bereits nach drei Monaten im August 1944 endete, während sie in der Sowjetunion über drei Jahre dauerte. Als die Wehrmacht aus Frankreich abzog, hatte sich die Gewaltbereitschaft der Truppe den Verhältnissen an der Ostfront immer mehr angenähert. Ein konventioneller Krieg sah zweifellos anders aus.
Peter Lieb hat eine vorbildliche Untersuchung vorlegt. Zahlreiche Fotos und etliche hervorragende Karten illustrieren das Werk.
SÖNKE NEITZEL
Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/1944. R. Oldenbourg Verlag, München 2008. 631 S., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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