Artur Becker ist seinen deutschen Lesern bisher als großer Erzähler und Romanautor bekannt. Doch "dieser außergewöhnliche Wanderer zwischen seiner ursprünglichen Heimat Polen und seiner neuen Heimat Deutschland" – so Manfred Mack vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt, beschenkt uns seit Jahren nicht nur mit seinen Gedichten und Prosawerken, sondern auch mit Dutzenden von Rezensionen und Essays, in denen er versucht, sein polnisches Erbe seinen deutschen Lesern zu vermitteln. Nein, nicht nur zu vermitteln, Artur Becker ist ein Missionar, er ist überzeugt, fast besessen davon, seine deutschen Leser zu überzeugen, dass ihr Weltbild unvollständig bleibt, wenn sie nicht die Erfahrungen ihrer polnischen Nachbarn zur Kenntnis nehmen und in ihr Weltbild integrieren. Und er begibt sich auch auf das belastete, verminte Gebiet der deutsch-polnischen Erinnerung an die Geschichte. Souverän und mutig zeigt er Deutschen und Polen einen Ausweg aus der vermeintlichen Erbfeindschaft und ruft das gemeinsame, verbindende jenseits der nationalen Verblendung in Erinnerung."
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz eindeutig fällt Stephan Wackwitz' Urteil über Artur Beckers Essaysammlung nicht aus. Das fast vollständig aus bereits veröffentlichten Artikeln bestehende Buch erinnert den Kritiker mehr an die anthologistische "Silvenliteratur" der Renaissance als an klassische Essaysammlungen, die Überschriften der vierundfünfzig unterschiedlichen Texte aus den Jahren 2014 und 2015 erscheinen ihm geradezu poetisch. In jedem Fall zeigt sich der Rezensent beeindruckt von der thematischen Vielfalt des Buches, das autobiografische Selbstbekenntnisse, Literaturkritik und Erinnerungen an Lesereisen ebenso enthält wie interessante Einblicke in das intellektuelle und politische Klima Polens. Während Wackwitz insbesondere den an Czesław Miłosz geschulten "Tiefenblick" des Autors für das Kleine lobt, gerät ihm der ein oder andere Essay, etwa über Gentechnik oder Nanotechnologie, zu "global" und wenig "originell".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2016Wo die Theologie im Alltag weiterhilft
Polenversteher: In Artur Beckers Essays kann man viel über die komplizierte intellektuelle Szene unseres Nachbarlandes lernen
Obwohl dieses Buch fast völlig aus wiederabgedruckten Zeitungsartikeln besteht, versteht sich Artur Beckers "Kosmopolen" als eine Sammlung von Essays. Eine riskante Gattung. Und ihre gesammelte Herausgabe in Buchform ist fast noch riskanter als der einzelne Text. Montaigne, der 1581 die erste Essaysammlung der Literaturgeschichte veröffentlichte, warnte seine Leser nicht umsonst: "So also, lieber Leser, bin ich selbst der Gegenstand meines Buchs (...) Es lohnt sich nicht, daß du deine Zeit auf einen so gleichgültigen und unbedeutenden Stoff verwendest." Der Subjektivismus des Essays ebenso wie die Hinwendung zum scheinbar Unbedeutenden, dem durch gedankliche Originalität und stilistische Brillanz etwas Unverwechselbares abgewonnen wird: darin liegen Risiko und Reiz des Essays.
Ist es im Falle Artur Beckers gutgegangen? Dank der Großzügigkeit der Gesellschaft für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, die Hilfe bei der Drucklegung leistete, sind auf knapp vierhundertfünfzig Seiten vierundfünfzig qualitativ und quantitativ sehr unterschiedliche Texte aus den Jahren 2004 bis 2015 versammelt. Einige sind nur ein paar Seiten lang und einem ephemeren Anlass journalistisch gelungen auf den Leib geschneidert; andere sind länger, anspruchsvoller und beschäftigen sich autobiographisch mit Erinnerungen Beckers an Menschen und Orte; wieder andere mit philosophisch-theologischen Fragen. Ein Interview schließt den Band ab.
Als Beckers literaturhistorisches Vorbild fallen einem eher die anthologistische "Silvenliteratur" der Renaissance oder Herders "Kritische Wälder" ein, als dass man das Buch für eine klassische Essaysammlung halten möchte. Die Fülle des Gebotenen ist gegliedert, aber nicht gebannt durch Überschriften, die Titel von Romanen oder Lyrikbänden sein könnten: "Im Geistland", "Orte am Weg", "Die poetische Landschaft", "Der Kontinent Heimat". Die Themenvielfalt ist beeindruckend. Artikel über das komplexe Verhältnis jüdischer und nichtjüdischer Polen stehen neben poetischen Vignetten über die Gärten aus Beckers Kindheit. Reiseberichte weiten sich zu autobiographischen Selbstbekenntnissen, Literaturkritik steht neben Berichten von Lesereisen.
Autobiographische Leitmotive - der violette Lidschatten seiner Posener Jugendfreundin und heutigen Frau oder ein Cowboyhut, mit dem sich der junge Bürger Volkspolens ein westlich-verwegenes Aussehen gegeben hat - durchgeistern die Textlandschaft. Durchgehend und originell ist ein subjektiver Zugriff auf journalistische Tagesthemen. Man kann aus diesem Buch viel lernen über die komplizierte und im Westen weithin unbekannte intellektuelle Szene unseres Nachbarlandes oder über die politischen Gemütslagen, die zu der politischen Konstellation der gegenwärtigen Rechtsregierung geführt haben.
Herzstück des Beckerschen Essayismus sind die größeren zusammenhängenden Stücke in der "Geistland"-Sektion. Eine Eigentümlichkeit des geistigen Klimas in Polen besteht in der Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit, in der politische, lebenspraktische und alltägliche Fragen dort aus einem theologischen Blickwinkel betrachtet werden. Beckers Gewährsmann für diesen Tiefenblick (dessen Unbefangenheit im Westen verblüffen kann) ist der große Lyriker und Essayist Czeslaw Milosz. Der 2004 verstorbene Krakauer Nobelpreisträger hat eine intellektuelle Position entwickelt, die die katholische Orthodoxie ebenso wie den westlichen Rationalismus ernst nimmt, indem diese beiden gegensätzlichen Weltsichten aus dem Blickwinkel gnostischer Häresien betrachtet und relativiert werden. "Das Land Ulro", eine 1982 in deutscher Übersetzung erschienene intellektuelle Autobiographie von Milosz, ist der Klassiker dieses hochoriginellen Blicks, den Becker adaptiert und weiterentwickelt.
Echos aus dem Werk William Blakes, Jakob Böhmes und Emanuel Swedenborgs verbinden sich mit einer theologischen Interpretation der Einsichten zeitgenössischer Physik, die uns vor Augen führt, dass der Materialität der sichtbaren Welt eine metaphysische Hintergrunddimension eingeschrieben zu sein scheint. Es hängt wahrscheinlich mit der Fülle und Disparatheit der Texte zusammen, dass der an Milosz geschulte Blick Beckers an manchen Stellen die modernen Problemlagen verfehlt. "Die Gentechnik, die Quantenphysik mit ihren unerschöpflichen Ideen, Chancen und Möglichkeiten, die Erkenntnisse über die Schwarze Materie, die Nanotechnologie und umweltfreundliche Energiequellen werden unsere Gesellschaften grundlegend verändern. Aber solange wir Stammeskriege führen, wird uns die Schöpfung eine mangelhafte Note ausstellen und den Zugang zu ihren letzten Geheimnissen verwehren. Und wir sollten uns wirklich in einem Punkt vollkommen einig sein: Was unsere ethische Entwicklung angeht, stecken wir immer noch in den Kinderschuhen - sie ist bis jetzt langsamer gewesen als unser technischer Fortschritt, den wir gerne für militärische Zwecke missbrauchen."
Derlei mag wahr sein. Aber es scheint allzu global und, für Essayisten immer gefährlich, nicht originell genug.
Sie sind durch die Gesetze ihrer Gattung dazu verpflichtet, ihre Leser in Erstaunen zu versetzen. Einsichten wie die zitierten hätten wir auch in politischen Zeitungskommentaren lesen oder uns zur Not selbst ausdenken können. Trotzdem: Das Risiko hat sich gelohnt, auch wenn man im Dickicht von Beckers "Kritischen Wäldern" nach den entscheidenden Fundstellen manchmal suchen muss. In vielen Texten gelingt es dem Autor, das Kleine und "Unberühmte" (wie der Essayist Wilhelm Lehmann es nannte) biographischer Erinnerung aus einem subjektiven Blickwinkel - es ist der dezentrierte Blickwinkel des polnischen Emigranten - zu erweitern zu Einsichten, die anders nicht zu bekommen gewesen wären.
Es wäre wünschenswert, Artur Becker würde Milosz' "Land Ulro" in die Forschungsergebnisse und Problemlagen der Gegenwart hinein weiterschreiben.
STEPHAN WACKWITZ
Artur Becker: "Kosmopolen". Essays.
Weissbooks Verlag, Frankfurt am Main 2016. 636 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Polenversteher: In Artur Beckers Essays kann man viel über die komplizierte intellektuelle Szene unseres Nachbarlandes lernen
Obwohl dieses Buch fast völlig aus wiederabgedruckten Zeitungsartikeln besteht, versteht sich Artur Beckers "Kosmopolen" als eine Sammlung von Essays. Eine riskante Gattung. Und ihre gesammelte Herausgabe in Buchform ist fast noch riskanter als der einzelne Text. Montaigne, der 1581 die erste Essaysammlung der Literaturgeschichte veröffentlichte, warnte seine Leser nicht umsonst: "So also, lieber Leser, bin ich selbst der Gegenstand meines Buchs (...) Es lohnt sich nicht, daß du deine Zeit auf einen so gleichgültigen und unbedeutenden Stoff verwendest." Der Subjektivismus des Essays ebenso wie die Hinwendung zum scheinbar Unbedeutenden, dem durch gedankliche Originalität und stilistische Brillanz etwas Unverwechselbares abgewonnen wird: darin liegen Risiko und Reiz des Essays.
Ist es im Falle Artur Beckers gutgegangen? Dank der Großzügigkeit der Gesellschaft für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, die Hilfe bei der Drucklegung leistete, sind auf knapp vierhundertfünfzig Seiten vierundfünfzig qualitativ und quantitativ sehr unterschiedliche Texte aus den Jahren 2004 bis 2015 versammelt. Einige sind nur ein paar Seiten lang und einem ephemeren Anlass journalistisch gelungen auf den Leib geschneidert; andere sind länger, anspruchsvoller und beschäftigen sich autobiographisch mit Erinnerungen Beckers an Menschen und Orte; wieder andere mit philosophisch-theologischen Fragen. Ein Interview schließt den Band ab.
Als Beckers literaturhistorisches Vorbild fallen einem eher die anthologistische "Silvenliteratur" der Renaissance oder Herders "Kritische Wälder" ein, als dass man das Buch für eine klassische Essaysammlung halten möchte. Die Fülle des Gebotenen ist gegliedert, aber nicht gebannt durch Überschriften, die Titel von Romanen oder Lyrikbänden sein könnten: "Im Geistland", "Orte am Weg", "Die poetische Landschaft", "Der Kontinent Heimat". Die Themenvielfalt ist beeindruckend. Artikel über das komplexe Verhältnis jüdischer und nichtjüdischer Polen stehen neben poetischen Vignetten über die Gärten aus Beckers Kindheit. Reiseberichte weiten sich zu autobiographischen Selbstbekenntnissen, Literaturkritik steht neben Berichten von Lesereisen.
Autobiographische Leitmotive - der violette Lidschatten seiner Posener Jugendfreundin und heutigen Frau oder ein Cowboyhut, mit dem sich der junge Bürger Volkspolens ein westlich-verwegenes Aussehen gegeben hat - durchgeistern die Textlandschaft. Durchgehend und originell ist ein subjektiver Zugriff auf journalistische Tagesthemen. Man kann aus diesem Buch viel lernen über die komplizierte und im Westen weithin unbekannte intellektuelle Szene unseres Nachbarlandes oder über die politischen Gemütslagen, die zu der politischen Konstellation der gegenwärtigen Rechtsregierung geführt haben.
Herzstück des Beckerschen Essayismus sind die größeren zusammenhängenden Stücke in der "Geistland"-Sektion. Eine Eigentümlichkeit des geistigen Klimas in Polen besteht in der Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit, in der politische, lebenspraktische und alltägliche Fragen dort aus einem theologischen Blickwinkel betrachtet werden. Beckers Gewährsmann für diesen Tiefenblick (dessen Unbefangenheit im Westen verblüffen kann) ist der große Lyriker und Essayist Czeslaw Milosz. Der 2004 verstorbene Krakauer Nobelpreisträger hat eine intellektuelle Position entwickelt, die die katholische Orthodoxie ebenso wie den westlichen Rationalismus ernst nimmt, indem diese beiden gegensätzlichen Weltsichten aus dem Blickwinkel gnostischer Häresien betrachtet und relativiert werden. "Das Land Ulro", eine 1982 in deutscher Übersetzung erschienene intellektuelle Autobiographie von Milosz, ist der Klassiker dieses hochoriginellen Blicks, den Becker adaptiert und weiterentwickelt.
Echos aus dem Werk William Blakes, Jakob Böhmes und Emanuel Swedenborgs verbinden sich mit einer theologischen Interpretation der Einsichten zeitgenössischer Physik, die uns vor Augen führt, dass der Materialität der sichtbaren Welt eine metaphysische Hintergrunddimension eingeschrieben zu sein scheint. Es hängt wahrscheinlich mit der Fülle und Disparatheit der Texte zusammen, dass der an Milosz geschulte Blick Beckers an manchen Stellen die modernen Problemlagen verfehlt. "Die Gentechnik, die Quantenphysik mit ihren unerschöpflichen Ideen, Chancen und Möglichkeiten, die Erkenntnisse über die Schwarze Materie, die Nanotechnologie und umweltfreundliche Energiequellen werden unsere Gesellschaften grundlegend verändern. Aber solange wir Stammeskriege führen, wird uns die Schöpfung eine mangelhafte Note ausstellen und den Zugang zu ihren letzten Geheimnissen verwehren. Und wir sollten uns wirklich in einem Punkt vollkommen einig sein: Was unsere ethische Entwicklung angeht, stecken wir immer noch in den Kinderschuhen - sie ist bis jetzt langsamer gewesen als unser technischer Fortschritt, den wir gerne für militärische Zwecke missbrauchen."
Derlei mag wahr sein. Aber es scheint allzu global und, für Essayisten immer gefährlich, nicht originell genug.
Sie sind durch die Gesetze ihrer Gattung dazu verpflichtet, ihre Leser in Erstaunen zu versetzen. Einsichten wie die zitierten hätten wir auch in politischen Zeitungskommentaren lesen oder uns zur Not selbst ausdenken können. Trotzdem: Das Risiko hat sich gelohnt, auch wenn man im Dickicht von Beckers "Kritischen Wäldern" nach den entscheidenden Fundstellen manchmal suchen muss. In vielen Texten gelingt es dem Autor, das Kleine und "Unberühmte" (wie der Essayist Wilhelm Lehmann es nannte) biographischer Erinnerung aus einem subjektiven Blickwinkel - es ist der dezentrierte Blickwinkel des polnischen Emigranten - zu erweitern zu Einsichten, die anders nicht zu bekommen gewesen wären.
Es wäre wünschenswert, Artur Becker würde Milosz' "Land Ulro" in die Forschungsergebnisse und Problemlagen der Gegenwart hinein weiterschreiben.
STEPHAN WACKWITZ
Artur Becker: "Kosmopolen". Essays.
Weissbooks Verlag, Frankfurt am Main 2016. 636 S., geb., 36,- [Euro].
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