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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tauben im Islam: Christoph Peters fängt mit seinem zweiten Wolfgang-Koeppen-Roman das Verlorenheitsgefühl der Berliner Republik ein. Zumindest handwerklich beeindruckt das.
Pisa-Schock" boulevardtitelte selbst die "tageszeitung", als jüngst die Ergebnisse der dreijährlichen Kompetenzvergleichsuntersuchung bekanntgegeben wurden. In allen Kernfächern, auch in Deutsch, befindet sich die deutsche Schülerschaft im freien Fall. Kann das wirklich verwundern, wenn sogar Abiturienten von Teilen der Lehrerschaft basale Lesekompetenz abgesprochen wird? Gemeint ist die Diskussion um Wolfgang Koeppens bahnbrechenden Roman "Tauben im Gras" - ein einziger Tag in der Großstadt (München) als literarisches Rondo -, der plötzlich als emotionale Zumutung gilt, weil darin "rassistische Sprache" (vor allem das Wort "Neger") verwendet wird. Dass dies durchweg in sozialkritischer Absicht geschieht, um die im Deutschland von 1951 noch stark NS-rassistisch geprägte Mentalität anzuprangern, gilt vielen Pädagogen offenbar als viel zu komplex für Schülerhirne. Das Tabu ist zurück, versteckt sich freilich seinerseits hinter Begriffen wie Achtsamkeit und Triggerpunkte.
In einem in die Gegenwart versetzten Remake von "Tauben im Gras" unter dem mitteloriginellen Titel "Krähen im Park" - bereits der zweite Koeppen-Roman von Christoph Peters, der sich vorgenommen hat, die gesamte "Trilogie des Scheiterns" zu modernisieren - wären solche medialen Debatten bestens aufgehoben, schließlich lassen Koeppen wie Peters ihre Zeit nicht zuletzt durch Schlagzeilen zu Wort kommen. Beides aber findet sich im Buch nicht, abgesehen von der Erregung eines Schülers in der großen Bierpause: "Maria Stuart interessierte wirklich keine Sau." Stattdessen stellt der diesmal in Berlin angesiedelte multiperspektivische Episodenroman in seinem Aktualitätsbestreben ganz auf die inzwischen fast so weit wie die Tudors entfernt wirkenden Corona-Schutzmaßnahmen zur Zeit der vierten Welle ab. Ständig wird im Buch nach Impfausweisen gefragt, werden die kulturverwüstenden Nebenwirkungen von 3G-Regelungen thematisiert. Zahlreiche Figuren tragen Schutzmasken. Eine der direkt parodierten Figuren ist Karl Lauterbach, dessen Alter Ego hier Professor Bernburger heißt und sich mit einem querdenkerischen Sohn herumschlagen muss.
Genauso klar zu erkennen ist hinter dem Schriftsteller Bernard Entremont der Berufsprovokateur Michel Houellebecq. Wie der Schriftsteller Mr. Edwin bei Koeppen soll Entremont eine wichtige (Dankes-)Rede in der Stadt halten. Und doch wird er dabei sein Ziel verfehlen: inhaltlich, weil man seine wilden Thesen einfach abnickt, real, weil das Geschwafel vom Untergang Europas das Mischpult in Flammen aufgehen lässt. Entremonts Auftritt samt angestrengter Afterparty im Haus der als Schauspielerin nicht mehr gefragten Salondame Mariann - eine gelungene Literaturbetriebssatire - wird in Berlin als wichtiges gesellschaftliches Ereignis wahrgenommen und dient Peters damit formal als Kristallisationspunkt, an dem sich zahlreiche der parallelen Erzählstränge überkreuzen.
Auch wenn noch weitere Realpersonen wie die Kritikerin Sigrid Löffler erahnbar sind, handelt es sich nicht um einen Schlüsselroman, sondern um den Versuch, anhand von zwei Dutzend fast allesamt unzufriedenen Personen die gedrückte Stimmung in einem zerrissenen, darniederliegenden, der eigenen Jugend nachtrauernden Land zu vermessen. Es dominiert dabei das Gefühl des Scheiterns, und zwar erster wie zweiter (über Ersteres reflektierender) Ordnung. Die tragischste Figur - und doch so etwas wie der Zentralprotagonist - ist der Schriftsteller Urban (bei Koeppen ganz ähnlich: Philipp), der seit Jahren an einer Blockade leidet und von seiner Frau Irma, einer Kolumnistin, verachtet wird. Urban flüchtet sich in die universale Negation. Das Hipster-Berlin ruft in ihm nur Ekel hervor, aber letztlich handelt es sich natürlich um Selbsthass (den einzig eine junge Frau heilen kann).
Erzählt wird in Personalperspektive, was vielfach gut gelingt. Leicht hölzern wirkt allerdings die Einfühlung in manche Frauenfiguren, ob sie nun die Mutterschaft bereuen oder ihre lesbische Seite entdecken (1951 war das wenigstens noch tabubrechend). Noch naiver ist die Darstellung eines mit erwartungsvollem Blick durch Berlin laufenden afghanischen Flüchtlings ("Ali Zayed wunderte sich über den Müll auf dem Boden"), der Koeppens schwarzamerikanischem Soldaten-Touristen Odysseus korrespondiert. Handwerklich kunstvoll hat der Autor die einzelnen Stränge miteinander verwoben und auf die Vorlage bezogen: Detektivischen Hermeneuten dürfte das Buch großes Vergnügen bereiten. Tauben etwa tauchen auch diesmal auf, nicht allein die dunklen Titel-Krähen, aber sie stehen nicht mehr für die Orientierungslosigkeit einer ihrer moralischen Verwurzelung beraubten Gesellschaft wie in Gertrude Steins Gras-Zitat, sondern für die Tauben, die laut einer islamischen Legende den Propheten gerettet haben: "ein gutes Omen". Freilich ist auch das eine Täuschung: Zayed bleibt allein und wird schuldig in einem (arg deutlich ausgestellt) islamophoben Land.
Wie grundstürzend modern Koeppens Erzählansatz war, zeigt sich daran, wie gut das Konzept sich übertragen lässt. Es funktioniert fast ein bisschen zu gut, schließlich folgen heute gleich reihenweise Fernsehserien und Episodenromanen einer ähnlichen Struktur. Was genau nun die innere Motivation für die Aktualisierung dieses Kaleidoskops des Scheiterns darstellt (jenseits des Wolfgang-Koeppen-Preises an Peters im Jahr 2018), erschließt sich indes nicht. Das Scheitern ist hier weder Chance noch Katastrophe. Koeppen hatte seine Romantrilogie, die brutal pessimistisch war, aber auch von angloamerikanischer Frische im Ton, einer Gesellschaft entgegengeschleudert, über der ein dunkler Schatten hing: die Lebenslüge der Stunde null, einer nur markierten Katharsis. Das war ein Einspruch wie Donnerhall. Genau in dem, was mit Eifer abgelehnt wurde, der Kultur der amerikanischen Besatzer, erkannte Koeppen die einzige Hoffnung auf Zukunft.
Von dieser Wucht ist wenig übrig. Vielmehr wirken die alltäglichen Verrichtungen und Verrenkungen einer zwar irgendwie erschöpften, aber keineswegs seelisch verwüsteten Gesellschaft eigentümlich hohl. Eine gute Portion Xenophobie, etwas Querdenkertum, viel Midlife-Crisis und Pärchenstress, hier und da Wokeness und "Geschlechterkrieg": Mehr Dramatik hat diese Berliner Gesellschaft nicht im Angebot, nicht einmal Klimapanik oder Kriegsdebatte. Das ist eher Zeitgeist-Karaoke als Hyperrealismus. Die Figuren haben etwas Wachsfigurenhaftes. Der echte Houellebecq etwa ist um Längen schräger, wüster und interessanter als Entremont. Und das Klischee des Dichters mit Schreibblockade wurde in den siebzig Jahren seit Koeppens Roman überstrapaziert; da wäre mehr Originalität nötig gewesen. So entsteht der Eindruck einer Etüde, einer erzählerischen Fingerübung. Zumal wir heute wissen, dass wir in der vierten Corona-Welle gar nicht gekentert sind, sondern sie vergleichsweise gut gemeistert haben. OLIVER JUNGEN
Christoph Peters: "Krähen im Park". Roman.
Luchterhand
Literaturverlag,
München 2023.
320 S., geb., 24,- Euro.
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