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Sasha Filipenkos Roman "Kremulator" erzählt von dem Mann, der die Leichen der stalinistischen Säuberungen verbrannt hat.
Eigentlich bezeichnet ein "Kremulator" ein kleines Mahlwerk, das Knochenreste und Zähne, die nach der Verbrennung einer Leiche im Krematorium übrig bleiben, zu Asche zermalmt. In dem neuen Roman von Sasha Filipenko ist mit "Kremulator" aber ein Mensch gemeint: Pjotr Nesterenko, der erste Mann im Krematorium von Moskau, wo in den Jahren der stalinistischen Säuberungen tags und nachts der Ofen brennt. Der Kremulator kennt die Schwächen der Henker. Ihre unsauberen Schüsse in die Hinterköpfe, die, weil die Kugeln nicht steckenbleiben, sondern wieder austreten, in Stücke gerissen werden, was beim späteren Stapeln der Leichen "unnötig Zeit in Anspruch nimmt". Pjotr Nesterenko hat ein professionelles Verhältnis zum Tod, dem er mehrfach von der Schippe gesprungen ist. Selbst zu seinem eigenen, der ihm bevorsteht, als das Unvermeidliche geschieht und auch er im Sommer 1941 verhaftet wird.
"Alles in diesem Buch ist wahr - selbst das Erfundene", schreibt Sasha Filipenko als Leitmotiv vor seine Geschichte, und wie er das meint, ist offensichtlich. Sein jüngster Roman ähnelt in der Anlage dem vor drei Jahren in deutscher Übersetzung erschienenen "Rote Kreuze". Darin erzählt eine neunzig Jahre alte Dame ihrem jungen Nachbarn, wie sie als junge Frau in den Gulag deportiert wurde, weil ihr Mann während des Zweiten Weltkrieges in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war. Schon damals hatte Filipenko Informationen aus Dokumenten des Roten Kreuzes in seine Erzählung einfließen lassen.
Seinem neuen Buch liegen Verhörprotokolle zugrunde, die Filipenko von der im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" bekommen hat. Eigene Recherchen ergänzen sein Wissen über das Leben des Totengräbers. Von Istanbul über Kiew, Saratow bis nach Paris und natürlich Moskau ist er Nesterenkos Lebensweg abgereist. Selbst dem Ermittler Perepeliza, der den Kremulator im Gefängnis in Saratow verhörte, sei er auf die Spur gekommen, hat Filipenko in einem Interview verraten, das sein Verlag zum Erscheinen des Romans verschickte.
Wozu der Aufwand? Um zu zeigen, wie sich die Dinge damals und heute ähneln. Die Geschichte wiederhole sich, meint Filipenko in besagtem Interview, und ob man dem nun zustimmen mag oder nicht, gruselt man sich gewaltig bei der Lektüre der Verhöre, deren Fragen zumindest teils aus den Originalprotokollen stammen. In Filipenkos Roman ist das Verhör ein Kampf um die Deutungshoheit über den Lauf der Geschichte. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns - das ist die Logik des Ermittlers und die einzige Erzählung, die er gelten lässt. Wer sich aber, wie Nesterenko, als Spross einer verarmten Adelsfamilie in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, in der Revolution, im aufziehenden Stalinismus mal auf diese, mal auf jene Seite schlug, der hat sich verdächtig und unmöglich gemacht. Sich durchzuschlagen ist als Überlebensstrategie nicht anerkannt. Für Zwischentöne oder Zweifel ist kein Raum, sehr wohl aber für Denunziationen und Verschwörungstheorien, die gar nicht abstrus genug sein können. "Das Schlimmste ist, dass das mustergültiger sowjetischer Irrsinn ist. So was glauben sie sofort."
Dagegen kommt Pjotr Nesterenko selbst mit dem Witz und der Schlagfertigkeit nicht an, mit denen Sasha Filipenko die historische Figur in seinem Roman ausgestattet hat. Sein Kremulator ist ein kluger Mann, der in seinem von zahlreichen Zumutungen geprägten Leben oft wusste, was richtig ist, was nicht heißt, dass er auch immer das Richtige tat. Fliehen oder kämpfen, Ehre oder Vernunft, Heimat oder Exil - manchmal lag Nesterenko daneben. Besonders in Paris, wo er als Taxifahrer ein zwar einfaches, aber doch freies Leben hätte führen können, wenn er sich nicht als Spitzel hätte anwerben lassen, der nach Moskau melden soll, was in der russischen Emigrantenszene geredet wird. Schon das erste Gespräch mit dem Mann, der ihn anwarb, hätte ihm eine Warnung sein müssen: "Russland ist, was es ist, weil dort das Unzulässige zulässig ist. Sie und ich, wir haben ein Land verlassen, in dem niemand Alarm schlägt. Jedes Mal, wenn man sagen müsste: Es reicht!, sagt der Russe: Ja, so kann es nicht weitergehen, aber eigentlich . . . Die größten Probleme Russlands sind das Aber und das Komma. Wir setzen Kommas, wo längst ein Punkt stehen müsste."
Bezeichnenderweise ist dieser Geheimagent die einzige Figur, die einen tiefen Blick in die Abgründe dessen wagt, was manchmal russische Seele genannt wird. Denn Seelenschau ist nicht das Ziel der Prosa von Sasha Filipenko, der sich mit psychologischer Figurenzeichnung und atmosphärischen Beschreibungen nicht lange aufhält. Ihm geht es um Mechanismen des Machterhalts in totalitären Regimen, zu denen das Verwischen von Spuren (auch von Dokumenten wie jenen, die Filipenkos Roman zugrunde liegen) genauso gehört wie die paranoide Angst vor ausländischen Angriffen und das willkürliche Filtern von Fakten. Dass diese Willkür jeden treffen kann, selbst den "Kremulator", der ihr stets zu Diensten war, und dass sie darüber hinaus im Gewand einer ordentlichen Ermittlung daherkommt, macht sie nur noch absurder. Sasha Filipenko setzt das stilistisch geschickt in Szene. Sein Verhör-Roman liest sich wie ein Duell - mit knapper Syntax, schnellem Schlagabtausch und messerscharfem Humor. Und aus dieser Verdichtung zieht seine Prosa ihre große beklemmende Kraft. LENA BOPP
Sasha Filipenko:
"Kremulator". Roman.
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 256 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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