Vom Leben auf dem Landgut der Familie angeödet, begleitete der junge Lew Tolstoi 1851 seinen ältesten Bruder Nikolai, der im Kaukasus dient, an seinen Einsatzort - Starogladkowskaja, eine Kosakensiedlung am Terek. Seit Jahrzehnten führte das russische Imperium in der Region Krieg. Erst 1859 gelingt es, die von Imam Schamil geeinten muslimischen Kaukasusfürstentümer zu besiegen. Doch um welchen Preis!
Tolstoi, der als Fähnrich an Gefechten teilnahm und verwundet wurde, kennt den Krieg und seine Akteure aus eigener Anschauung. Er beschreibt die Tragödie aus allen Perspektiven: an der Seite russischer Soldaten, die zum Freizeitvergnügen ein tschetschenisches Dorf zerstören, und neben den untröstlichen Überlebenden, die in den Trümmern ihrer Behausungen hocken. Mit scharfer Beobachtungsgabe und ethnographischem Blick schildert er die Faszinationsgeschichte der »Kaukasier«, der russischen Abenteurer, die sich, bestrickt von der stolzen Schönheit und Unbezwingbarkeit der Bergbewohner, auf ein Leben einlassen, an dessen Fremdheit sie scheitern.
Ein Werk mit dem Titel »Krieg im Kaukasus« hat Tolstoi nie geschrieben. Aber er hat sein Leben lang über den Kaukasus geschrieben. Der Band konfrontiert den frühen mit dem späten Tolstoi. Von der nüchtern protokollhaften frühen Prosa von Überfall (1852) und Holzschlag (1855) bis zu den romanhaft farbigen Kosaken (1863), dem harten mündlichen Duktus des Gefangenen im Kaukasus (1872) und dem in Montagetechnik verfassten Hadschi Murat (postum 1912) - in Rosemarie Tietzes Neuübersetzung werden sie erstmal in ihrer stilistischen Bandbreite und ihrem sprachlichen Reichtum erfahrbar.
Tolstoi, der als Fähnrich an Gefechten teilnahm und verwundet wurde, kennt den Krieg und seine Akteure aus eigener Anschauung. Er beschreibt die Tragödie aus allen Perspektiven: an der Seite russischer Soldaten, die zum Freizeitvergnügen ein tschetschenisches Dorf zerstören, und neben den untröstlichen Überlebenden, die in den Trümmern ihrer Behausungen hocken. Mit scharfer Beobachtungsgabe und ethnographischem Blick schildert er die Faszinationsgeschichte der »Kaukasier«, der russischen Abenteurer, die sich, bestrickt von der stolzen Schönheit und Unbezwingbarkeit der Bergbewohner, auf ein Leben einlassen, an dessen Fremdheit sie scheitern.
Ein Werk mit dem Titel »Krieg im Kaukasus« hat Tolstoi nie geschrieben. Aber er hat sein Leben lang über den Kaukasus geschrieben. Der Band konfrontiert den frühen mit dem späten Tolstoi. Von der nüchtern protokollhaften frühen Prosa von Überfall (1852) und Holzschlag (1855) bis zu den romanhaft farbigen Kosaken (1863), dem harten mündlichen Duktus des Gefangenen im Kaukasus (1872) und dem in Montagetechnik verfassten Hadschi Murat (postum 1912) - in Rosemarie Tietzes Neuübersetzung werden sie erstmal in ihrer stilistischen Bandbreite und ihrem sprachlichen Reichtum erfahrbar.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, I ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018Ein junger Journalist
Lew Tolstois Erzählungen aus dem Kaukasus
Während des Tschetschenienkrieges in den Neunzigerjahren saß Hussein Chassuljewitsch Sagibow vor dem Tolstoi-Museum in der Stanzia Starogladkowskaja, dessen Direktor er war, und schützte es vor Plünderungen. Selbst während der heftigsten Kampfhandlungen kamen in jedem Jahr am 9. September, Tolstois Geburtstag, Besucher in die ehemalige Kosaken-Siedlung am Ufer des Flusses Terek, um Tolstois zu gedenken, der in 1850er-Jahren einige Zeit hier, 80 Kilometer südlich von Grosny, verbracht hatte.
Tolstoi ist in Tschetschenien bis heute der wahrscheinlich beliebteste russische Schriftsteller. In jedem Fall wirken die Erzählungen und Novellen, die Tolstoi über den Kaukasus geschrieben hat, in fast erschreckender Weise gegenwartsrelevant. Die Suhrkamp-Ausgabe dieser Texte unter dem Titel „Krieg im Kaukasus“ kommt zweifellos zur rechten Zeit. In einer exzellent lesbaren Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze sind hier „Der Überfall“ (1855), „Der Holzschlag“ (1855), „Die Kosaken“ (1863), „Der Gefangene des Kaukasus“ (1872) sowie Tolstois letztes abgeschlossenes Werk „Hadschi Murat“ (1912 posthum erschienen) in einem Band zusammengefasst.
Nur war Lew Tolstoi beileibe nicht der erste Russe, der sich mit dem Kaukasus befasste. Er selbst hatte sich sein Bild des Landstrichs, der Armenien, Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Dagestan, Abchasien, Dagestan, Ossetien, Inguschetien und Teile der Osttürkei umfasst, durch Bücher gemacht, unter anderem durch die Lektüre Michail Lermontows. Lermontow war 1837 nach einem Duell in den Kaukasus verbannt worden und hatte dort an den expansionistischen Militäraktionen des russischen Zaren gegen die Stammbevölkerung teilgenommen. Was mit Kosaken-Einfällen im 18. Jahrhundert begonnen hatte, wurde durch Katharina die Große fortgesetzt, eskalierte in Massendeportationen unter Stalin und flammte in postsowjetischer Zeit wieder auf. Lermontows Schriften hatten, wie Alexander Puschkins Verserzählung „Der Gefangene im Kaukasus“, eine ähnliche Wirkung auf das gebildete Moskauer Bürgertum, wie die Highland-Romane Walter Scotts sie zuvor auf englische Leser gehabt hatten: Der Kaukasus wurde zu einem wildromantischen, verlockend gefährlichen Gegenentwurf zur zunehmend als verrottet und steif empfundenen Bürokratengesellschaft Russlands.
Der junge Aristokrat Lew Tolstoi kam 1851 erstmals in den Kaukasus, wo sein älterer Bruder Nikolai in der russischen Armee diente. Was seine Prosa von der seiner Vorgänger unterscheidet, ist die weitgehende Abwesenheit eines Überlegenheitsgefühls gegenüber den „Kaukasiern“. Eine quasijournalistische Haltung durchzieht schon seine frühen Schriften. In „Der Überfall“ wird der Angriff auf ein Bergdorf durch ein russisches Bataillon, das der Ich-Erzähler begleitet, als mehr oder weniger sinnlose Aktion dargestellt. Die melancholische Figur des Hauptmanns Chlopow, der partout nicht versteht, warum sich der Erzähler ohne Not in Gefahr begibt, wird mit Distanz, aber auch Mitgefühl gezeichnet. Tapfer sei „derjenige, der sich verhält, wie es zu sein hat“, gibt er zu bedenken – eine Haltung, die Tolstoi offenkundig teilt.
Tolstoi, „ohnehin ein geborener Anarchist“, wie Tietze in ihrem Kommentar anmerkt, ist vom Leben der Kosaken fasziniert. Olenin, Protagonist der „Kosaken“, ergreift „unter diesen ungeschliffenen Geschöpfen“ ein ungekanntes Freiheitsgefühl. Die Kosaken selbst wiederum bewundern ihre tschetschenischen Gegner wegen ihrer Tapferkeit weit mehr als ihre nominellen Verbündeten, die hochnäsigen und militärisch oft ziemlich inkompetenten Russen. Immer wieder wird die erhabene Landschaft in reichen Bildern beschworen; die Berge sind „reinweiße Riesen mit ihren zarten Konturen“ – Olenin verinnerlicht diese Wildheit und erschrickt zugleich vor ihrer Unermesslichkeit.
Der bedeutendste Text in dieser Sammlung ist zweifellos das Spätstück „Hadschi Murat“, bis zum Frühjahr 1898 fünfmal revidiert und umgeschrieben. Die Titelfigur, ein muslimischer Freiheitskämpfer, der auf der historischen Figur eines Avaren-Führers basiert, ist zwischen zwei unmöglichen Optionen hin- und hergerissen: auf der einen Seite Schamil, von Tolstoi als skrupelloser Machtmensch dargestellt. Auf der anderen Seite die Russen, vertreten durch den zaristischen Stadthalter Woronzow. Zar Nikolaus ist bei Tolstoi ein menschenfeindlicher Despot („Wie sehr Nikolaus es auch gewohnt war, Menschen in Schrecken zu versetzen, war ihm dieser Schrecken jedoch stets angenehm“), während Murat als mitreißender Anführer charakterisiert wird.
Tolstoi lässt die Erzählung nicht wie ein glorifizierendes Heldenepos enden – Murat wird umzingelt und niedergemacht. Doch die Menschlichkeit, die er Murat verleiht – weit entfernt von der Verdinglichung des Gegners, auf der jeder Krieg beruht –, würde allein schon genügen, um zu erklären, warum dieser Autor bis heute im Kaukasus in Ehren gehalten wird.
ALEXANDER MENDEN
Lew Tolstoi: Krieg im Kaukasus. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp, Berlin, 2018. 589 Seiten, 28 Euro.
Den kaukasischen Rebellen
schildert er
würdevoll und charismatisch
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lew Tolstois Erzählungen aus dem Kaukasus
Während des Tschetschenienkrieges in den Neunzigerjahren saß Hussein Chassuljewitsch Sagibow vor dem Tolstoi-Museum in der Stanzia Starogladkowskaja, dessen Direktor er war, und schützte es vor Plünderungen. Selbst während der heftigsten Kampfhandlungen kamen in jedem Jahr am 9. September, Tolstois Geburtstag, Besucher in die ehemalige Kosaken-Siedlung am Ufer des Flusses Terek, um Tolstois zu gedenken, der in 1850er-Jahren einige Zeit hier, 80 Kilometer südlich von Grosny, verbracht hatte.
Tolstoi ist in Tschetschenien bis heute der wahrscheinlich beliebteste russische Schriftsteller. In jedem Fall wirken die Erzählungen und Novellen, die Tolstoi über den Kaukasus geschrieben hat, in fast erschreckender Weise gegenwartsrelevant. Die Suhrkamp-Ausgabe dieser Texte unter dem Titel „Krieg im Kaukasus“ kommt zweifellos zur rechten Zeit. In einer exzellent lesbaren Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze sind hier „Der Überfall“ (1855), „Der Holzschlag“ (1855), „Die Kosaken“ (1863), „Der Gefangene des Kaukasus“ (1872) sowie Tolstois letztes abgeschlossenes Werk „Hadschi Murat“ (1912 posthum erschienen) in einem Band zusammengefasst.
Nur war Lew Tolstoi beileibe nicht der erste Russe, der sich mit dem Kaukasus befasste. Er selbst hatte sich sein Bild des Landstrichs, der Armenien, Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Dagestan, Abchasien, Dagestan, Ossetien, Inguschetien und Teile der Osttürkei umfasst, durch Bücher gemacht, unter anderem durch die Lektüre Michail Lermontows. Lermontow war 1837 nach einem Duell in den Kaukasus verbannt worden und hatte dort an den expansionistischen Militäraktionen des russischen Zaren gegen die Stammbevölkerung teilgenommen. Was mit Kosaken-Einfällen im 18. Jahrhundert begonnen hatte, wurde durch Katharina die Große fortgesetzt, eskalierte in Massendeportationen unter Stalin und flammte in postsowjetischer Zeit wieder auf. Lermontows Schriften hatten, wie Alexander Puschkins Verserzählung „Der Gefangene im Kaukasus“, eine ähnliche Wirkung auf das gebildete Moskauer Bürgertum, wie die Highland-Romane Walter Scotts sie zuvor auf englische Leser gehabt hatten: Der Kaukasus wurde zu einem wildromantischen, verlockend gefährlichen Gegenentwurf zur zunehmend als verrottet und steif empfundenen Bürokratengesellschaft Russlands.
Der junge Aristokrat Lew Tolstoi kam 1851 erstmals in den Kaukasus, wo sein älterer Bruder Nikolai in der russischen Armee diente. Was seine Prosa von der seiner Vorgänger unterscheidet, ist die weitgehende Abwesenheit eines Überlegenheitsgefühls gegenüber den „Kaukasiern“. Eine quasijournalistische Haltung durchzieht schon seine frühen Schriften. In „Der Überfall“ wird der Angriff auf ein Bergdorf durch ein russisches Bataillon, das der Ich-Erzähler begleitet, als mehr oder weniger sinnlose Aktion dargestellt. Die melancholische Figur des Hauptmanns Chlopow, der partout nicht versteht, warum sich der Erzähler ohne Not in Gefahr begibt, wird mit Distanz, aber auch Mitgefühl gezeichnet. Tapfer sei „derjenige, der sich verhält, wie es zu sein hat“, gibt er zu bedenken – eine Haltung, die Tolstoi offenkundig teilt.
Tolstoi, „ohnehin ein geborener Anarchist“, wie Tietze in ihrem Kommentar anmerkt, ist vom Leben der Kosaken fasziniert. Olenin, Protagonist der „Kosaken“, ergreift „unter diesen ungeschliffenen Geschöpfen“ ein ungekanntes Freiheitsgefühl. Die Kosaken selbst wiederum bewundern ihre tschetschenischen Gegner wegen ihrer Tapferkeit weit mehr als ihre nominellen Verbündeten, die hochnäsigen und militärisch oft ziemlich inkompetenten Russen. Immer wieder wird die erhabene Landschaft in reichen Bildern beschworen; die Berge sind „reinweiße Riesen mit ihren zarten Konturen“ – Olenin verinnerlicht diese Wildheit und erschrickt zugleich vor ihrer Unermesslichkeit.
Der bedeutendste Text in dieser Sammlung ist zweifellos das Spätstück „Hadschi Murat“, bis zum Frühjahr 1898 fünfmal revidiert und umgeschrieben. Die Titelfigur, ein muslimischer Freiheitskämpfer, der auf der historischen Figur eines Avaren-Führers basiert, ist zwischen zwei unmöglichen Optionen hin- und hergerissen: auf der einen Seite Schamil, von Tolstoi als skrupelloser Machtmensch dargestellt. Auf der anderen Seite die Russen, vertreten durch den zaristischen Stadthalter Woronzow. Zar Nikolaus ist bei Tolstoi ein menschenfeindlicher Despot („Wie sehr Nikolaus es auch gewohnt war, Menschen in Schrecken zu versetzen, war ihm dieser Schrecken jedoch stets angenehm“), während Murat als mitreißender Anführer charakterisiert wird.
Tolstoi lässt die Erzählung nicht wie ein glorifizierendes Heldenepos enden – Murat wird umzingelt und niedergemacht. Doch die Menschlichkeit, die er Murat verleiht – weit entfernt von der Verdinglichung des Gegners, auf der jeder Krieg beruht –, würde allein schon genügen, um zu erklären, warum dieser Autor bis heute im Kaukasus in Ehren gehalten wird.
ALEXANDER MENDEN
Lew Tolstoi: Krieg im Kaukasus. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp, Berlin, 2018. 589 Seiten, 28 Euro.
Den kaukasischen Rebellen
schildert er
würdevoll und charismatisch
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Die Suhrkamp-Ausgabe dieser Texte unter dem Titel Krieg im Kaukasus kommt zweifellos zur rechten Zeit.« Alexander Menden Süddeutsche Zeitung 20181127